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Ende des Befreiungsimperialismus? Präzedenzfall(e) Irak I

Es gibt gesellschaftliche Natur-, aber auch politische Katastrophen.

Sabah Alnasseri

Zugegeben. Die Iraker – auch jene außerhalb Iraks – freuen sich über das Ende eines Terrorregimes, das ihr Leben über Jahrzehnte erdrückte, das Land durch ruinöse Kriegstreiberei ins Mittelalter zurückwarf und die Ressourcen durch sinnlose Rüstungsgeschäfte und kriminelle Machenschaften vergeudete. Die Menschen im Irak sind sicherlich der USA und England dankbar, dass sie sie von diesem Schreckenregime „befreit“ haben. Es kann kein terroristisches Regime im Irak herrschen als Saddamsregime, das das blutigste Kapitel der modernen Geschichte Iraks schrieb. Allen Irakern, die das Regime und den Krieg überlebt haben, deshalb Glückwunsch dazu!

Gerade in einem solchen Moment aber muss man Fragen stellen – nach dem bisherigen Verlauf des Konflikts und nach seinen Folgen. Diese Fragen betreffen nicht nur die Zukunft Iraks. Denn Irak könnte als Präzedenzfall eines »Befreiungsimperialismus« betrachtet werden.

Dieser Artikel soll einen Beitrag zu dieser Debatte leisten.

„...das andere Mal als Farce.“

Eines der Lieblingsbücher des amerikanischen Verteidigungsministers, Rumsfeld, ist der Angriff auf Pearl Harbour. Ein Film über diesen japanischen Angriff im zweiten Weltkrieges wurde womöglich Rumsfeld zuliebe produziert. Der Terrorakt vom 11.9. wurde in der US-Administration vor dieser Folie wahrgenommen. Doch die Analogien gehen über das politisch-psychologische Moment hinaus.

Sowie die amerikanischen Bürger japanischer Abstammung damals kriminalisiert und teilweise nach Japan abgeschoben wurden, so wurden die arabischstämmigen und islamischen Bürger (nicht nur) der USA rechtlich wie politisch gleichsam als eine fünfte Kolonne verdächtigt und kriminalisiert. Mehr noch. Der Krieg gegen den Irak und das optimistische Nachkriegsszenario wurden nach „japanischem Muster“ entworfen: Die USA wollten sich als Befreier und Demokratisierer feiern lassen. Wieder belebt wurde auf diese Weise ein historisches Denkmuster, das auf der territorialen Trennung von innen (USA) und außen (dem Rest der Welt) beruht.

Nach dem Schock von Pearl Harbour suchten die USA durch militärische und ökonomische Überlegenheit eine globale Vormachtstellung zu erlangen. Nach dem 11.September erdachten sich ihre krisenerschütterten neokonservativen Strategen eine neue Rolle: Sie begreifen die USA als außerhalb der globalisierten Welt befindlich, nehmen die Globalisierung als äußerliche Bedrohung wahr und sehen die USA letztlich missionarisch, quasi als außerirdischer Retter der bedrohlich globalisierten Welt in die Schlacht ziehen.

Nach dem 11.9. soll sich unter den politischen Eliten der USA ein neues strategisches Umdenken eingesetzt haben, das auf der Annahme basiert, diktatorische Regime produzierten aus sich heraus Terrorismus und das Allheilmittel der Terrorbekämpfung sei folglich die »Demokratisierung«. Darin widerspiegeln sich einerseits die Erfahrungen bei der Demokratisierung und Befriedung Westeuropas nach dem zweiten Weltkrieg, andererseits enthält dieses Denken aber auch das Eingeständnis einer bis dato fehlgeleiteten Außenpolitik gegenüber der Peripherie. Und was letzteres betrifft, wird die »Vergangenheitsbewältigung« nicht im Inneren, sondern tausende Meilen von den USA entfernt in Angriff genommen.

In diesem Szenario muss man indes die Frage der „Demokratisierung“, d.h. der amerikanisch-britischen „Einbettung“ des Iraks und mit ihm der gesamten Region verorten, die zu bizarren Allianzen (Pro- und Antikrieg) in den Metropolen und in den arabischen Ländern geführt hat, politische Kräfte, die sich bis dato gegenseitig nicht ausstehen konnten und die diesen Krieg als gegen sich gerichtetes Herrschaftsprojekt wahrnehmen.

Befreiungsimperialismus

Bei diesem Krieg geht es indes weniger um die Gräueltaten des Regimes, die selbst von den jetzigen Kriegsmächten u. a. geschaffen und perfektioniert wurde. In diesem Krieg sollten keine Kämpfe, keine Konfrontationen und keine Schlachten stattfinden. Das Risiko des Totes überlässt man den Einheimischen. Diese sollten dann unter einer Besatzungsregierung zur Selbstmündigkeit und zum Selbstregieren pädagogisiert werden. Dafür müssen sie den Preis der dauerhaften Präsenz der Besatzungsmächte in diversen Formen bezahlen bzw. ihr Selbstregieren mit der politischen und Militärkontrolle der Imperialmächte praktizieren.

Ebenso sollte es kein Krieg im klassischen und im Sinne des Antiterrors bzw. der privaten Kriegsführung à la Warlords werden, sondern eine neue Ära der „strategischen“ Kriegsführung einläuten: imperiale Befreiungskriege.

Den Kriegsmächten geht es weniger um den nackten Tod und die Zerstörung, im Gegenteil sie betonen gerade die humanitären und zivilen (sic!) Seiten ihrer Kriegführung. Legitimiert werden soll diese durch die Selbstgewissheit, „Demokratie“ und „Freiheit“ auf der eigenen Seite zu haben und durch die eigenmächtige Inanspruchnahme der Befreiung der Unterdrückten, in deren Namen gesprochen, deren Wille absorbiert und für deren Befreiung der Krieg geführt wird. Die Unterdrückten erscheinen genauso wenig auf der politischen Bühne, wie sie unter ihrem ehemaligen Unterdrücker jemals erschienen. Ihre Zustimmung wird einfach vorausgesetzt und ihr Wille zur Befreiung wird zur Legitimation der Kriegsführung ursurpiert. Diese neokonservative Invasions- und Machtphilosophie, die in ihrer Konkurrenz zu anderen Globalmächten den militärischen Standortvorteil zwecks partikularer Ziele zu nutzen weiß, sollte schließlich durch die Schaffung von vollendeten Tatsachen mit einer selbstgerechten und selbstauferlegten Doktrin durchgebombt werden.

Es geht also um eine Herrschaftsstrategie, die nach rechts unendlich offen ist (die so genannten Willigen) und die auf die Untergrabung und Neujustierung der Grundsätze der internationalen- und Staatenpolitik (rechtlich wie territorial) abzielt und die diktatorische, archaische, autoritäre bis hin zu fundamentalistische Elemente aufweist. Internationale Organisationen der vergangenen Ära sollen hierdurch in Putzkolonnen für unliebsame Arbeiten und Aufgaben umfunktioniert werden.

Dies ist wahrlich ein gigantisches Herrschaftsprojekt, dass im Hinblick auf den Präzedenzfall Irak diplomatisch um so optimaler abgesichert, kulturell überzeugend dargestellt und militärisch-strategisch bis in ins Detail und alle Eventualitäten ausgearbeitet und geplant werden musste.

Ich möchte hier nicht auf den unilateralistisch-autoritären Stil, die diplomatische Katastrophe und die feste Überzeugung von den eigenen und eigenmächtig getroffenen Entscheidungen der Kriegsmächte eingehen.

Ob die Demokratisierungsabsichten der Kriegsmächte real oder vorgeschoben sind, spielt hier ebenfalls keine Rolle.

Eignet sich nun der Irak als Präzedenzfall für diese Strategie? Welche Vorstellungen haben die Strategen des Projektes von der irakischen Gesellschaft und dem politischen Regime, die diesem Szenario zugrunde liegen?

Was heißt das politisch, militärisch, ökonomisch und ideologisch, wenn wir spätestens seit der 80er Jahre nicht mit der Regierung einer Partei, sondern mit einem anders gearteten Regime im Irak zu tun haben? Was wird dann aus der Analogie, aus der Entfaschisierung („Entbaathifizierung“) und, nach dem japanischen Muster, Verwestlichung der irakischen Verhältnisse und mit ihnen der gesamten Region? Eine Mystifikation, die zwangsläufig, d.h. historisch-missionarisch die USA auf die Barrikaden ruft?

Diese Fragen sind nicht nur für die Kriegs-, sondern vor allem für die Nachkriegsphase von Bedeutung.

Gegen die vereinfachende Wahrnehmung- und Darstellung des politischen Regimes (angebliche Regierung der Baath-Partei), der irakischen Bevölkerung und der Opposition im Irak durch die USA und Großbritannien werde ich die Regimeform und die Existenzbedingungen ihres Überlebens, die letzten Verschiebungen innerhalb der irakischen Bevölkerung und die Problematik der irakischen Opposition kurz skizzieren, so dann gehe ich auf die Kriegsparteien ein.

Doch zunächst soll die Vor-Kriegsphase ins Gedächtnis gerufen werden.

Kriegsvorbereitungsphase

Eine zutiefst militarisierte politische Kultur charakterisiert die Gesamtszene, die einen militaristischen Habitus all derer in diesen Konflikt verwickelten Akteure generiert. Die militaristische (erweiterte)Nato-Strategie auf der einen Seite, die diplomatischen Schlachten unter den starken Staaten und die politischen und ökonomischen Differenzen in der Einbindung und dem Ausschluss von Südstaaten auf der anderen Seite verweisen auf den zugrunde liegenden Interessenkonflikte und die imperialen Widersprüche. Einerseits ist dies die Ex-Territorialisierung von Widersprüchen und Interessenkonflikte aus den eigenen Staaten, andererseits lassen sich die unterschiedlichen Strategien von Krisenmanagement globaler Krisensituation kaum mehr auf einen bestimmten Staat, eine Region oder ein bestimmtes Feld reduzieren. Dies erfordert kollektive, pluralistische und mannigfaltig strategische Ansätze.

Die Rüstungs- und Ölprioritäten, als die zwei Säulen des Hegemonieprojekts der Bush-Administration liefern freilich eine sehr eigennützig-protektionistische und verkürzte Antwort auf eine komplexe Krisensituation. Zwar sind sich alle metropolitanen Staaten darin einig, dass sowohl die Interessenkonflikte ex- territorialisiert, die Kosten ihrer internen Widerspruchsbearbeitung auf periphere Staaten abgewälzt, die Sicherung von Energiequellen und Handelsrouten absolute Prioritäten genießen als auch strategische Stützpunkte besetzt werden sollen, damit endet freilich die Interessensidentität zwischen dem angelsächsischen Raum und dem europäischen Festland und unter den Nationalstaaten letzteren. Dies ist die programmatische Grenze von Kautskys Ultra-Imperialismus, den Lenin einst kritisierte.

Neben der Interessenidentität zeigen sich jedoch deutlich latente Konflikte zwischen den starken Staaten: Bei der »Abrüstung« und »Zerstörung« von Massenvernichtungsmitteln (produziert auf der Basis verschiedener, miteinander konkurrierender Technologien aus den Metropolen) ging es beispielsweise weniger um die »Befriedung« Iraks. Die diplomatische Szene wurde vielmehr von

der Konkurrenz um militärisch-technisches Wissen, um eine strategische Neu-Positionierung und um den Einsatz des Militärpotenzials beherrscht. Beispielhaft dafür waren das zwölftausendseitige, von den USA zensierte irakische Abrüstungsdossier und die Befragung irakischer Wissenschaftler vor dem Krieg. Das Dossier enthielt nicht nur die Namen europäischer und US-amerikanischer Rüstungsfirmen und Lieferanten von Massenvernichtungsmitteln, sondern es verschwieg natürlich auch vieles. Für die USA waren die UNO-Inspektionen bereits eine Phase der Kriegsführung. Die Enthüllung von geheimem Wissen und von Knotenpunkten der irakischen Kriegsmaschinerie diente den USA und Großbritannien dazu, die vermuteten hohen Kriegskosten vorbeugend zu senken. Die Antikriegsmächte dagegen stellten die UNO-Inspektoren als Garanten der friedlichen Abrüstung dar und verwandelten sie in »menschliche Schutzschilde« des Sicherheitsrats und der internationalen Diplomatie. Derweil erhoffte sich das Regime von seiner Schweigetaktik nicht nur Zeitgewinn, sondern auch Abschreckung. Und das Schreckensszenario wurde von Frankreich, Deutschland und Russland aus eigenen Interessen – die mit den US-amerikanischen und britischen Interessen konkurrierten diplomatisch geschürt. Der Krieg um Irak entwickelte sich so zum Kristallisationspunkt von Interessenkonflikten.

Nach dem Krieg wiederum wird es zu einem Kampf um strategische Ressourcen im weitesten Sinne und um konkurrierende Ordnungsvorstellungen kommen.

Das tribalistische Regime

Spätestens seit der Machtübernahme der Clique um Saddam Hussein im Jahre 1979, die freilich regional bedingt war – ein Gegengewicht zur islamischen Revolution im Iran unter der Führung Khomeinis – kann nicht mehr von einem Einparteiensystem und der Regierung der Baath-Partei gesprochen werden. Die rechts-konservative Verschiebung nach dem Coup de Etat im Jahre 1968 um den Tikriticlan von al-Bakr (der irakische Präsident von 1968–1979) und Hussein setzte diesen Prozess der Demontage der Baath-Partei in Gang. Diese wurde zum Transmissionsriemen zwischen Staat und Gesellschaft und zu einem Disziplinarapparat degradiert, der unter die Sicherheitsapparate subsumiert wurde und der Kontrolle der Bevölkerung diente.

Nicht mehr die Partei, sondern der Staat fungierte fortan als „Gesamtpartei“ der herrschenden und regierenden Klassen und Schichten. Im Laufe der 80er Jahre und während des ersten, wahnsinnig-grausamen Golfkriegs entwickelte sich ein mit Hilfe der Kriegsökonomie und gestützt auf ein Netzwerk von Clans, Cliquen, bürokratische Eliten und Militärfunktionäre Regime, das archaische, autoritäre und quasi feudale Elemente reaktivierte und die Sozialstruktur der irakischen Gesellschaft zugunsten regressiv-hypriden Formen umschichtete. Aufgrund der Interessensidentität zwischen West- und Ostmächten, der Golfstaaten und dem Irak in seinem Krieg gegen den Iran setzte sich ein Kapitalimport und damit eine unkontrollierte Schuldenökonomie in Gang.

Diese Schulden- und Kriegsökonomie war charakterisiert von Kapitalimporten, dem Import von Millionen Arbeitskräften aus den armen arabischen Ländern einer Landumverteilung zugunsten verbündeter Clans und Cliquen, die dadurch zu Agrokapitalisten avancierten, einer Teilprivatisierung von Finanz-, Handel- und Dienstleistungen, die primär um den Krieg zentralisiert waren sowie vom Ausbau eines rüstungs-industriellen Komplexes . In Verbindung mit einem Kriegsnationalismus und einer hybriden, diskursiv-ideologischen Inszenierungen von mythischen und historischen Narrativen, die vorislamische, babylonische über arabo-islamische, rassistische bis hin zu antiimperialistische Elemente artikulierten, gelang es dem Regime so, eine breite, primär von ihm geschaffene Schichten hinter sich zu mobilisieren und sich dadurch eine soziale Basis zu schaffen.

Die Opposition, die immerhin bis zum Ende der 70er Jahre auf der politischen Bühne präsent war, geriet in Vergessenheit bzw. wurde gnadenlos isoliert. Dadurch wurde die Bevölkerung den Möglichkeiten einer Artikulation von politischen Interessen beraubt , sie war so dem Regime schutzlos ausgeliefert. Mit Ende des ersten Golfkriegs geriet das Regime in eine Großkrise, die es zu einer Flucht nach vorne veranlasste. Dieser Machtreflex wurde von Kuwait und den USA gnadenlos ausgenutzt, geschürt und in seiner Eskalation unterstützt: Der zweite Golfkrieg war vorprogrammiert. Regionale Unsicherheiten und Ängste verhalfen dem Regime zu einem Come back und einer Stabilisierung nach 1991. Eine entscheidende Existenzbedingung war hierfür das Embargo.

Regime-Survive gegen Bezahlung

Das Embargo gegen den Irak wurde im August 1990 verhängt, um das kuwaitische Eigentum, sprich Öl zu schützen. Dem Irak wurden dadurch Möglichkeiten des Ölverkaufs auf dem Weltmarkt verunmöglicht. Nach der Befreiung Kuwaits machte das Embargo keinen Sinn mehr. Dies hat mit der Abrüstung und Kontrolle des Iraks nichts mehr zu tun. Wieso blieb das Embargo dann aufrechterhalten, zumal ab Mitte der 90er Jahre und mit der Einführung des Öl für Lebensmittelprogramms die Öleinnahmen von einem treuhänderischen Fund der UNO kontrolliert und verteilt wurden. Mit anderen Worten: Das irakische Regime hatte keine direkte Kontrolle über diese Einnahmen und somit über Menge des verkauften Öls. Dementsprechend war die Höhe der Einnahmen für die Abrüstung des Iraks schon lange irrelevant.

Der einzige Sinn liegt in der Umverteilung der Ölproduktion zugunsten der Alliierten, vor allem Kuwait, Saudi-Arabien und den USA: Indem das irakische Kontingent an Ölverkauf an die beiden ersten fiel und indem diese dadurch ihre Fördermengen verdoppeln konnten, konnte sie dadurch ihre Kriegsschulden abbauen und ihren Wiederaufbau sowie ihre Hochrüstung in Gang setzen, wovon primär amerikanische Konzerne und Firmen profitierten, und nicht zuletzt die amerikanischen und britischen Militärbasen finanzieren. Der irakischen Bevölkerung entging dadurch in den letzten 13 Jahren ca. 300 Milliarden Dollar. Mehr noch. Indem das Öl für Lebensmittelprogramm mit dem Regime im Irak ausgehandelt und die Lebensmittel von letzterem verwaltet wurde, wurde die Bevölkerung, die sich mehrheitlich im Jahre 1991 vom Regime befreite – 14 aus 19 Provinzen des Iraks wurden damals in den Händen der Aufständischen gefallen und von ihnen, kurze Zeit im Süden, autonom regiert, bevor das Regime sich mit Hilfe des berüchtigten Waffenstillstandsabkommen am 28.02.91 mit der damaligen Administration von Bush Senior massenmörderisch revangierte –, von diesem erneut direkt abhängig gemacht.

Last but not least: Die Cliquen, Clans und Eliten erhielten dadurch die Möglichkeit, alle Märkte vom Öl- bis zum Tomatenmarkt zu monopolisieren, Schmuggel und graue Geschäfte kontroll- und rechenschaftslos zu betreiben, wovon freilich auch die Nachbarn des Iraks profitierten, nur nicht die irakische Bevölkerung. Kurzum, das Embargo kann als ein mutmaßliches, internationales Massenmordprogramm – Hunderttausende, vor allem Kinder sind an den Folgen des Embargos gestorben und eben so viele sind mangels an Medikamente und wegen schlechter gesundheitlicher Versorgung verkrüppelt wurden – bezeichnet werden, das gleichzeitig den Neuanfang und die Stabilisierung des Regimes erleichterte. Das Embargo führte zur De-Industrialisierung, Deregulierung und Entbürokratisierung bei gleichzeitiger Umverteilung zugunsten der Clans und Cliquen. Dies bewirkte einerseits eine Verländlichung und Verbauerung und damit zur Re-Feudalisierung und andererseits eine graue-, gesetz- und planlose, städtische Wirtschaft, die hauptsächlich auf Tagelöhnern, Land- und Wanderarbeitern, Frauen- und Kinderarbeit, kurzum, auf allgemeiner Sklaverei basierte und Züge von Pauperismus und der totalen Verelendung des Europas des 19. Jahrhunderts aufwies. Gleichzeitig verzehnfachte sich die Zahl der Millionäre im Irak. Entbevölkerung in Form von Auswanderung und Flucht waren die Folge.

Das Embargo gegen die irakische Bevölkerung und der Krieg dokumentieren nicht nur das absolute Versagen internationaler Politik, illustrieren nicht nur die Macht- und Hilflosigkeit der UNO, sondern forcieren vor allem eine sozialchauvinistisch- imperiale Bio-Politik.

Die irakische Bevölkerung: Falsche Bilder

Die regierenden Eliten, die konzeptiven Intellektuellen des tribalistischen Regimes und die im engeren Sinne staatlich vereinnahmten zivilgesellschaftlichen Organisationen waren im Laufe der Zeit erfolgreich darin, die irakische Gesellschaft nach ethnischen, kulturellen, religiösen, tribalistischen etc. Grenzlinien zu fraktionieren, wodurch sich das Regime als die einzige vermittelnde und die Gesellschaft zusammenhaltende Instanz darstellen konnte. Diese war die entscheidende Existenzbedingung der Reproduktion/Regulation des Herrschaftsverhältnisses im Land. Ein ideologisch erfolgreiches Modell, das selbst von den Kriegsmächten (USA und England) als die irakische Realität wahrgenommen und akzeptiert wurde, was in der ethnisch-religiösen Dreiteilung des Landes deutlich wird und mittlerweile in Form der den USA und England beistehenden irakischen Opposition medial inszeniert wird.

Jene Herrschaftstechniken blieben mit den fehlenden, alternativen politischen Artikulationsformen nicht ohne Auswirkung auf die Bevölkerung, die sich in ihrer Mehrheit nach diesen Schemen und in diesen Kategorien identitär zu artikulieren begann, steht sie doch prinzipiell, d.h. sowohl ihre Gefolgschaftsverweigerung als auch ihre passiven Widerstandsformen zeigten keine politisch effektive Wirksamkeit, gegen das Regime.

Die mehrheitlich-prinzipielle Ablehnung des Regimes, der katastrophale Zustand der Bevölkerung und die andauernde Flucht suggerierten, dass, wenn es zum Schrecken mit Ende, dem Krieg kommt, die Menschen im Irak nichts anderes zu verlieren hätten als ihre Ketten.

Genau dies war das Bild, das die Kriegsmächte vom Irak am Vorabend des Krieges hatten und dem sie ihre Strategie der zivilisatorischen Befreiung zugrundelegten.

Die politischen, sozialen und psychologischen Zustände der Bevölkerung sahen folgendermaßen aus: Ein ausgeprägtes Misstrauen seit der Tragödie von 1991 und wegen des Embargos und deren katastrophalen Folgen für die irakische Bevölkerung gegenüber den USA und Großbritannien, Entwaffnung und Zerstörung ihrer Widerstandsnischen durch das Regime, Verarmung und absolute Kriegs- und Kampfmüdigkeit charakterisierten die Situation. Nicht zuletzt erfuhr die Zusammensetzung der Bevölkerung durch die Umstrukturierung und Gegenstrategie des Regimes eine neue Konfiguration.

Kriegsdarsteller

Der konservativ-liberale Block der irakischen Opposition besteht aus dem im Jahre 1992 von den USA initiierten INC (Iraqi National Congress) unter der Führung des ehemaligen Bankiers al-Chalabi, der monarchistischen Gruppe um Sharif Ali (ein Neffe des im Jahre 1958 ermordeten Hashimiten König Faisel im Irak), dem im Jahre 1982 im und vom Iran gegründeten Islamischen Hohen Kongress unter der Führung von al-Hakim und der Anfang der 90er Jahre aus Ex-Offizieren und Generälen des Regimes gegründeten INA (Iraqi National Accord). All diese Akteure waren entweder privilegierte Nutznießer des Regimes oder repräsentieren reiche und mächtige Familien(Clans) in der irakischen Gesellschaft. Ihnen fehlt entweder relativ oder absolut eine soziale Basis im Irak.

Jede dieser Gruppen beansprucht die alleinige Vertretung der jeweiligen Teile der irakischen Bevölkerung und/oder des Staates. Hinzu kamen zuletzt die demokratische Partei Kurdistans von Massud Barasani und die patriotische Union Kurdistans von Talabani, die zwar die größte und militärisch stärkste Gruppe der Opposition darstellen, jedoch durch den Krieg viel zu verlieren hätten, nämlich die bis dato gut funktionierende Autonomie. Eben weil die ersteren Kräfte aufgrund ihrer Schwäche nicht in der Lage sind, das Regime allein zu stürzen, paktierten sie mit den USA und England und setzten auf den Krieg als die alleinige Lösung der Befreiung. Die kurdischen Kräfte dagegen sind von den USA politisch unter massivem Druck gesetzt worden: entweder für den Krieg mit verbalen Versprechungen der Sicherung ihrer Autonomie und der Verhinderung türkischer Besatzung oder gegen den Krieg und somit dem Zwang der Verhältnisse schutzlos ausgeliefert.

Aufgrund der Erfahrungen vom zweiten Golfkrieg, Kosovo- und Afghanistankrieg und aufgrund der Tatsache, dass die Alliierten dieses Mal den Sturz des Regimes beabsichtigen und somit sich als Befreier feiern lassen wollten, was voraussetzt, dass sowohl die Infrastruktur als auch die Zivilbevölkerung verschont bleiben mussten, griff das Regime zu fortlaufenden Umstrukturierung der Sicherheitsapparate und der Verteilung von Spitzenposten, einer Ausdifferenzierung der bewaffneten Kräfte um paramilitärische, zivilgesellschaftliche und tribalistische Milizen, was zu einer Entgrenzung zwischen regulären und elitären Einheiten auf der einen Seite und zwischen Militär und Zivilbevölkerung andererseits führte. Kurzum das Regime betrieb eine Verzivilgesellschaftlichung der Sicherheitsapparate als Taktik gegen eine von Gegnern beanspruchte zivilisatorische Kriegsführung.

Diese Entgrenzung und die Durchmilitarisierung sind freilich nicht genuine Erfindung des Regimes, sondern die Folge einer globalen Militarisierung der politischen Kultur, der Medien, der humanitären Arbeit etc., die seit dem Golf krieg von 1991 und spätestens seit dem Kosovo-Krieg von 1999 voran getrieben wurden. Die Kriegsmächte und das irakische Regime gaben ihr jetzt ein bio-militärisches Gesicht. Nicht um die Herzen und Köpfe der IrakerInnen tobt jetzt der Kampf, sondern schlicht um ihre Körper. Von beiden Seiten wurde die Bevölkerung herumkommandiert, eingekerkert und als Geiseln des Befreiungskriegs genommen.

Altes Öl in neuen Rohren

Die amerikanische und britische kriegerische Vergangenheitsbewältigung im Irak zeigt im Gegensatz zum behaupteten, strategischen Umdenken, dass die angelsächsischen Mächte altes Öl in neuen Rohren ausführen: Im Verlauf des Krieges wurden symbolische Zentren der Macht bombardiert, ökonomische und militärisch-strategische Zonen besetzt, um ein neues Eigentum- und Kontrollsystem zu schaffen.

Während der, durch eine tendenziöse Statistik der ermordeten Zivilisten humanisierte Krieg als ein mediales Event nach Außen und eine Propaganda nach Innen inszeniert wird, basteln die Kriegsmächte an der Montierung einer Form der zukünftigen Verwaltung.

Der Irak, das ist das Experimentierfeld und der Testversuch dieses Befreiungsimperialismus. Wenn es hier gelingt, wird es in allen, pax-amerikanisch einzubettenden Herrschaftszonen auf der berüchtigten Liste bzw. Achse des Bösen gelingen. Wirklich?

Fortsetzung folgt!

© links-netz April 2003