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Irak und die Nachkriegs(un)ordnung: Präzedenzfall(e) Irak III

Kantonisierung oder Demokratisierung

Sabah Alnasseri

Die Besatzungsmächte USA und Großbritannien haben ihren Verbündeten innerhalb der irakischen Opposition – dem konservativ-liberalen Block – nach dem Krieg entgegen früheren Versprechungen nicht die Bildung einer Übergangsregierung zugestanden. Nur so konnten sie sich selbst als Herren im Lande festsetzen und Iraks ökonomische und politische Angelegenheiten an sich reißen, was die UNO Resolution 1483 vom 22. Mai sanktionierte.

Dies hat aber andererseits zu enormer Verstimmung sowohl innerhalb dieser Opposition als auch innerhalb der irakischen Bevölkerung geführt, was zum Teil eine antiamerikanische Haltung stärkte und eine aggressive Stimmung anheizte.

Die UNO hat mit der Verabschiedung dieser amerikanisch-britischen Resolution zur Aufhebung des Embargos gegen Irak nicht nur einen rechtswidrigen Krieg nachträglich legitimiert (wie sie es schon in Afghanistan und Kosovo getan hatte).

Sie hat darüber hinaus auch zwei Entscheidungen getroffen, die es seit ihrer Gründung in dieser Form nicht gab und die seit der Delegitimierung kolonialistischer Politik durch die Befreiungsbewegungen historisch überholt schienen: Die Aufwertung und Anerkennung des Besatzungsstatus der Kriegsmächte und die Übertragung der politischen und ökonomischen Angelegenheiten eines Landes auf die Besatzungsmächte.

Die negativen politischen und psychologischen Auswirkungen dieser Resolution auf die irakische Bevölkerung waren programmiert. Die diplomatischen Kriegsgegner, die BRD, Russland und Frankreich, haben die Resolution übrigens nicht deshalb passieren lassen, weil die Besatzungsmächte vollendete Tatsachen geschaffen hatten, sondern weil sie, die Kriegsgegner, sich von dieser Resolution als einem Präzedenzfall die Legitimation für eigene Interventionsbestrebungen erhofften.

Wer also die Legitimität des Irakkrieges aus der Abartigkeit des Saddam-Hussein-Regimes ableitet, d.h. aus seiner staatlich organisierten Brutalität, reduziert eine global-politische Frage auf die moralische Ebene, verdrängt damit die vielfältigen Dimensionen und Ebenen dieses Falles und leistet damit – gewollt oder ungewollt – gefährlichen Entwicklungen Vorschub: nämlich einer Serie von Interventionskriegen im Süden, einer Demontage peripherer Staaten und dem Umbau der dortigen Herrschaftsverhältnisse entsprechend den Interessen, Erwartungen, Vorstellungen und Zielen der Globalmächte.

So lässt sich der Irakkrieg als eine Zäsur in der bisherigen weltpolitischen Entwicklung begreifen.

Schwacher Gegner, sicherer Sieg!

Die USA und Großbritannien haben den Krieg gegen Irak nicht geführt, weil das Regime gefährlich war, über Massenvernichtungswaffen verfügte oder gar seine Nachbarstaaten bedrohte, sondern weil Irak ein schwacher Gegner war.

Aufgrund des dreizehnjährigen Embargos wussten die USA und Großbritannien genau, dass das irakische Militär demoralisiert war, dass große Teile des Militärs und der privilegierten Schichten Irak bereits verlassen hatten und dass sie selbst auf jeden Fall siegen würden. Trotzdem waren sie unsicher, was den Verlauf des Krieges betraf. Diese Unsicherheit war in den ersten bei den Kriegswochen deutlich zu bemerken.

Dass das Regime wie ein Kartenhaus zusammenbrechen wird, war zu erwarten. Das blitzschnelle Ende und die rasche Einnahme Bagdads lassen jedoch vermuten, dass aufgrund starker Indizien vieles dafür spricht, dass es zu einem Deal zwischen den Besatzungsmächten und einer bestimmten Clique der führenden Schichten um Saddam Hussein gekommen war. Anders kann man nicht verstehen, warum beispielsweise irakische Truppen nach Norden befohlen wurden, obwohl der Angriff aus Kuwait im Süden kam. Als dieser Clique entsetzlicher Mörder klar war, dass sie alles verlieren würde, vor allem ihr Leben, ließ sie sich auf einen Deal mit dem USA-Militär ein. Wie sonst ließe sich erklären, dass bisher nicht nur die Suche nach Massenvernichtungsmitteln erfolglos blieb, sondern dass auch wichtigste Massenvernichter unauffindbar blieben. Statt dessen wurden vergleichsweise

harmlose Mitglieder des Regimes festgenommen. Weder diese noch die angeblich getöteten oder festgenommenen Mörder bekam die irakische Öffentlichkeit zu Gesicht – mediale Inszenierungen hin, militärische Pressekonferenzen her. Durch die Verhinderung der Gründung eines unabhängigen irakischen Gerichts durch die Besatzungsmächte wurde den IrakerInnen die Möglichkeit genommen, nicht nur zu ihrem eigenen Recht zu kommen und die Mörder zur Rechenschaft zu ziehen, sondern vor allem ein Stück ihrer eigenen Geschichte zu schreiben. Die USA sicherten sich dadurch ein schnelleres Ende des Krieges und einen „epochalen“ Sieg.

Zu konstatieren ist daher ein Bruch zwischen den führenden Schichten des Militärapparats (dem engeren Kreis von Saddam Hussein) und ihren jeweiligen Truppen und paramilitärischen Milizen. Letztere wurden alleingelassen, ohne Befehle, ohne Ordnung, ohne Logistik. Dadurch sind das rasche Ende des Krieges, die Anarchie und die Wut unter den loyalen Truppen des Regimes zu erklären.

Hinter dem „Widerstand“, der in den folgenden Wochen von „sunnitischer“ Seite ausging, steckt denn auch nicht etwa Saddam Hussein, sondern diese „Widerstand“ ist durch den erwähnten Bruch zwischen einigen führenden Militärs, die Irak längst verlassen haben, und diesen ehemals privilegierten Schichten zu erklären, die nun auf eigene Faust und mit eigenen Milizen versuchen, ihre Privilegien und ihr Eigentum zu sichern. Sie wollen sich als neue politische Kraft etablieren.

Wenn man genau hinschaut, sieht man, dass die Sicherheitslage nicht im gesamten Land angespannt ist, sondern nur in bestimmten Zentren, in denen die herrschenden Cliquen besonders gewirkt haben, etwa in Tikrit, Falludscha, Ramadi oder gewissen reicheren Gegenden Bagdads.

Im Süden und in Kurdistan herrscht eine ganz andere Situation, weil das gestürzte Regime dort weder kulturell noch ökonomisch verankert war. Es hatte dort keine soziale Basis. Als das Hussein-Regime stürzte, boten sich vor allem im Süden örtliche Kräfte an, die für eine gewisse Sicherheit sorgten.

Interessant sind die Anschläge gegen Ölanlagen und Pipelines. Sie sind nicht etwa Ausdruck des Protests in der Bevölkerung. Vielmehr werden durch das politische Vakuum in Irak auch radikale, meist nationalistische Kräfte angezogen, die durch eine Art Raub-Ökonomie versuchen, ihre Interessen durchzusetzen.

Indes kann man hier de facto nicht von einem Widerstrand ausgehen, da sowohl die objektiven Existenzbedingungen, die Kräfte sowie die politisch definierbaren Ziele fehlen.

So kann der letzte barbarische Terroranschlag gegen den Führer des Obersten Rates der islamischen Revolution, Al-Hakim, der das Leben von vielen unschuldigen Menschen kostete, mit gewisser Sicherheit auf die Rechnung wahabitischer (die sektiererisch dominante Glaubensrichtung in Saudi Arabien) Fanatiker gebucht werden. Diese Kräfte, als bitterer kultureller Konkurrent der Schiiten, wurden vor allem nach dem Aufstand von 1991 gegen das Saddam-Regime von diesem gegen die schiitische Mehrheit in rassistischer Weise mobilisiert und politisch aufgewertet.

Zum Zweiten ist der Anschlag den Besatzungsmächten insofern anzulasten, da sie ihre Truppen primär entsprechend ihren Interessenszonen (geostrategisch wie ökonomisch) verteilen und konzentrieren und dadurch die allgemeine Sicherheitslage der Bevölkerung, vor allem in den Großstädten leichtsinnig aufs Spiel setzen.

Wohingegen der Anschlag auf das UNO-Quartier die UNO sowohl für die Resolution 1483 als auch für die Ernennung des der Bush-Administration wohl gesonnenen UN-Gesandten für den Irak De Mello bestrafen wollte. Es ist indes nicht auszuschließen, dass die nächsten Terroranschläge gegen den provisorischen Regierungsrat, gegen einige seiner Mitglieder bzw. soeben ernannte Minister auf das Konto nationalistischer Kräfte verbucht werden könnte.

Der Irrtum der Besatzungsmächte

Die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse Iraks sind wesentlich komplizierter, als die Besatzungsmächte annahmen. Sie glaubten nämlich, dass die Baath-Partei in Irak das Sagen hätte und dass man nur den inneren Machtapparat um Saddam Hussein ausschalten müsse, um den Staat normal funktionieren zu lassen. Sie übersahen dabei, dass es seit den 80er Jahren de facto keine funktionierende Baath-Partei mehr gab. Das Regime wurde stattdessen von Clans, Militärjunten, Funktionären und anderen Cliquen beherrscht. Und verschiedene dieser Clans haben paramilitärische Milizen aufgebaut, um ihre Besitztümer zu wahren.

Natürlich empfinden die Bewohner Iraks das Ende des Regimes als Erleichterung, aber sie hegen auch keine Begeisterung für ihre neue Situation. Deshalb hat sich die Mehrheit der südirakischen Bevölkerung in der Tat vornehm zurückgehalten, denn sie wusste nicht, was die USA beabsichtigten. Inzwischen droht die Stimmung jedoch zu kippen, nicht zuletzt deshalb, weil die Parteien untereinander zerstritten sind und ihre kurzfristige Partikularinteressen verfolgen. Alle diese Gruppen versuchen, „die Schiiten“, „die Kurden“ und „die Sunniten“ für sich zu gewinnen, erreichen damit aber nur eine Zersplitterung der Bevölkerung, begleitet von antiamerikanischen Stimmungen. Und wenn sich die soziale und ökonomische Situation in den nächsten Monaten nicht verbessert, kann es zu flächendeckenden Übergriffen und Auseinandersetzungen kommen.

Es muss dennoch als Erfolg gewertet werden, was Teile der etablierten (von den Besatzungsmächten anerkannten) irakischen Opposition, die von den Besatzungsmächten aus gegrenzten Antikriegskräfte (meist linke Parteien) und die neu entstehenden politischen Kräfte (Koalition für die Rechte der irakischen Frau, Vereinigung der Arbeitslosen, Studentenvereinigungen etc.) in kürzerer Zeit zustande gebracht haben:

Sie zwangen die Besatzungsmächte nämlich, viele von ihnen ernannte und konstituierte lokale und regionale Gremien, die sich teils aus politisch verdächtigen Mitgliedern zusammensetzten, aufzulösen und durch gewählte Gremien zu ersetzen. Und sie veranlassten die Besatzungsmächte, von der ursprünglichen Idee eines zivilen Verwaltungsrates ohne politische Befugnisse abzulassen und statt dessen einen provisorischen Regierungsrat zu bilden, der immerhin drei (freilich konservative) weibliche Mitglieder umfasst, nachdem die Frauenfrage bis dahin systematisch verdrängt worden war.

Man darf diesen Erfolg jedoch nicht überbewerten, da er nicht zuletzt der Ratlosigkeit des Zivilverwalters Bremer und der verfehlten Politik der USA in Nachkriegsirak geschuldet war.

Zudem bleibt dieser Rat in vielerlei Hinsicht gehandikapt. Zunächst einmal hat er mehr konsultative und beratende Funktionen als tatsächliche politische Entscheidungsgewalt. Die liegt nach wie vor in den Händen des Zivilverwalters Paul Bremer, dessen Veto alle Ratsbeschlüsse zunichte machen kann.

Außerdem sind in dem 25-köpfigen Rat, dessen Mitglieder von Bremer ernannt wurden, die Kriegsanhänger der irakischen Opposition (INC, DPK, PUK, SCIRI, INA) in der Mehrheit, während ein gewichtiger Teil der irakischen Opposition ausgeschlossen bleibt.

Und schließlich ist die dadurch geschaffene Konstellation weniger politisch als ethnisch-religiös bestimmt, was auf die irakische Bevölkerung und auf den wie auch immer entstehenden Staat spalterisch wirken muss: Die ethnisch-religiösen Unterschiede werden dadurch politisch zementiert und konfliktbeladen.

Die Schiiten, als nominelle Mehrheit, sind durch 13 Mitglieder vertreten. Doch „der Schiit“ ist keine politische Kategorie, viele Schiiten sind säkular eingestellt und misstrauen bestimmten schiitischen Führern. Die angebliche Repräsentation der Schiiten entpuppt sich also als Anerkennung bestimmter schiitischen Führer durch die Besatzungsmächte – Klientelismus in Nachkriegszeiten.

Kantonisierung oder Demokratisierung?

Ein islamischer Gottesstaat iranischer Prägung ist in Irak dennoch auszuschließen. Zum einen bilden die Schiiten in Irak nicht eine derart erdrückende Mehrheit wie in Iran, zum anderen stehen viele Schiiten politisch nicht hinter den schiitischen Führern. Letztere selbst bekämpfen einander und sind politisch uneins.

Zwei Möglichkeiten zeichnen sich ab. Die erste wäre eine Kantonisierung Iraks.

Aus Sicht der angelsächsischen Mächte – aber auch der benachbarten konservativen Regime – bedeutet ein starker Irak schon immer eine Bedrohung der Stabilität der Region. Und so wäre eben die Kantonisierung des Landes eine denkbare Alternative, was jedoch die zweckmäßige Einsetzung einer Zentralregierung nicht ausschließt (s. Teil I dieser Artikelserie)

Aber die setzt ja quasi voraus, dass monarchistische und tribalistische Herrschaftsmomente wiederhergestellt werden. Eine Tendenz geht bereits in diese Richtung: So verbinden sich die kurdischen Kräfte von Talabani und Barasani, die sich sehr stark auf Clans und Tribalmächte stützen, mit den arabischen Stämmen im Süden des Irak und agieren gegen andere, u.a. linke Kräfte. Dies käme den Globalmächten nicht ungelegen.

Doch das bedeutete das Anstacheln von Konflikten auch in Anrainerländern. Der IRAK könnte sich – wie der Libanon in den 80er Jahren – als Terrain anbieten, auf dem verschiedene Kräfte agieren, die wiederum aus anderen Ländern Unterstützung bekommen. Die Folge wäre eine Destabilisierung der Region für die nächsten Jahrzehnte. Und wenn irgendwelche Strategen des Pentagon genau dieses Szenario anstreben – nach dem Motto die beste Kontrolle und Stabilisierung wäre die Destabilisierung – dann läge hier eine denkbare Option.

Die Strategen aus dem Pentagon oder der Downing Street wollen sich nämlich auf die Cliquen-Strukturen, vermittels derer das irakische Regime in den letzten 20 Jahren geherrscht hat, stützen. Es läuft letztendlich darauf hinaus, diesen Staat, so wie er besteht, aufzulösen und eine neue Form der hybriden Staatlichkeit zu finden, die man Föderalismus nennt.

Dies bedeutet jedoch eine Aufteilung des Landes in verschiedene Herrschaftszonen, die von unterschiedlichen Kräften besetzt werden, also als Resultat nicht eine föderalistisch definierte Form des Nationalstaats, sondern eine fraktionierte Territorialität, die – ähnlich wie in Afghanistan – nur durch die Präsenz der Besatzungsmächte und durch Militärkontrolle etabliert und reproduziert wird.

Die zweite Möglichkeit wäre die Selbstorganisation der irakischen Bevölkerung. Wenn die Iraker die alten, durch das Saddam-Hussein-Regime zerstörten und staatlich vereinnahmten zivilgesellschaftlichen Strukturen reaktivieren, könnte auf dieser Basis in den nächsten Jahren ein neuer, wie auch immer zusammengesetzter Staat entstehen. Beide Möglichkeiten – die Kantonisierung wie die Demokratisierung – sind Optionen für die Zukunft.

Demokratisierung ist hier jedoch nicht im Sinne der Bush-Regierung zu verstehen, sondern sie artikuliert sich im diametralen Gegensatz dazu. Das Problem der USA-Regierung ist, dass sie von vornher ein festgelegt hat, was unter Demokratie zu verstehen ist und wie ein künftiger „Staat“ Irak auszusehen hat. Sobald man jedoch diverse politische Gruppen und deren Interessen, Praxisformen und Vorstellungen ausschließt, fördert man die Herrschaft kleinerer Cliquen und Eliten, die ohnehin schon seit 20 Jahren herrschen. Und das wird die Mehrheit der Bevölkerung auf die Barrikaden bringen.

© links-netz Oktober 2003