Home Archiv Links Intern Editorial Impressum
 
 
Neue Texte
 

Schwerpunkte

Sozialpolitik als Infrastruktur
Ende der Demokratie?
 

Rubriken

Deutsche Zustände
Neoliberalismus und Protest
Bildung
Krieg und Frieden
Biomacht und Gesundheit
Kulturindustrie
Theorie: Empire, Kommunismus und andere Angebote
Rezensionen
 
 

Anzeige

Kulturindustrie Übersicht

 

  Text in eigenem Fenster anzeigen    rtf-Datei herunterladen 

Marktgängiger Exotismus oder:

Warum wir es gar nicht lieben, wenn uns die Fremden zu ähnlich werden

Ursula Apitzsch

1. Einleitung: Haben wir Angst vor der Ähnlichkeit oder vor der Fremdheit der Fremden?

„...alle Hingabe hat einen Zug von Mimikry. In der Verhärtung dagegen ist das Ich geschmiedet worden....An die Stelle der leiblichen Angleichung an Natur tritt die ‚Rekognition im Begriff‘, die Befassung des Verschiedenen unter Gleiches. Die Konstellation aber, unter der Gleichheit sich herstellt, ...bleibt die des Schreckens. Die Gesellschaft setzt die drohende Natur fort als den dauernden, organisierten Zwang... . Die von Zivilisation Geblendeten erfahren ihre eigenen tabuierten mimetischen Züge erst an manchen Gesten und Verhaltensweisen, die ihnen bei anderen begegnen, und als isolierte Reste, als beschämende Rudimente in der rationalisierten Umwelt auffallen. Was als Fremdes abstößt, ist nur allzu vertraut. ... Regungen, die vom Subjekt als dessen eigene nicht durchgelassen werden, und ihm doch eigen sind, werden dem Objekt zugeschrieben: dem prospektiven Opfer.“ (Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Amsterdam 1944, S. 215-220)

Das Zitat, mit dem ich meinen Vortrag begonnen habe, stammt aus dem Kapitel „Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung“ aus der „Dialektik der Aufklärung“ von Adorno und Horkheimer, erschienen zuerst 1944. Die Angst vor dem Fremden wird hier mit Verweis auf Sigmund Freuds Analyse des Unheimlichen als die Angst vor den im Zivilisationsprozeß unterdrückten Anteilen des Selbst verstanden, die wir auf den Anderen projizieren und ihn damit zum „Fremden“ machen. „Fremde sind wir uns selbst“, und das Fremde des Anderen ist uns nur allzu vertraut. Adorno und Horkheimer haben den Mechanismus dieser Projektion am Beispiel des Antisemitismus analysiert, aber als das zugrundeliegende Prinzip, das auf beliebige andere Gruppen angewendet werden kann, gilt die „Wut auf die Differenz“ (ebd. S. 243). „Daß, der Tendenz nach, Antisemitismus nur noch als Posten im auswechselbaren Ticket vorkommt, begründet unwiderleglich die Hoffnung auf sein Ende.“ (ebd.)

Wir stehen damit vor einem verwirrenden Befund. Was ist es nun, was die Anderen zu Fremden macht? Ist es die Angst vor ihrer Ähnlichkeit, oder ist es die Wut auf Differenz? Nun, es ist, wie Adorno und Horkheimer im Anschluß an Freud aufzeigen, Beides zugleich: Differenz bringt nur deshalb lustgespeiste Wut hervor, weil es das abgespaltene Selbst ist, das im Anderen als das Fremde etikettiert wird. Freilich ist dieser scheinbar allgemeingültige anthropologische Befund für die Autoren mit einer ganz bestimmten historischen Ausprägung der Zivilisation verbunden: nämlich mit ihrer Entgleisung in der kapitalistischen Produktionsweise.

„Die Juden werden zu einer Zeit ermordet, da die Führer die antisemitische Planke so leicht ersetzen könnten, wie die Gefolgschaften von einer Stätte der durchrationalisierten Produktion in eine andere überzuführen sind. Die Basis der Entwicklung, die zum Ticketdenken führt, ist ohnehin die universale Reduktion aller spezifischen Energie auf die eine, gleiche, abstrakte Arbeitsform vom Schlachtfeld bis zum Studio. Der Übergang von solchen Bedingungen zum menschlicheren Zustand aber kann nicht geschehen, weil dem Guten dasselbe wie dem Bösen widerfährt. Die Freiheit auf dem progressiven Ticket ist den machtpolitischen Strukturen, auf welche die progressiven Entscheidungen notwendig hinauslaufen, so äußerlich wie die Judenfeindschaft dem chemischen Trust.“ (ebd.)

Die Hoffnung auf das Ende des Antisemitismus ist somit für Adorno und Horkheimer keine Hoffnung, die diesen Namen verdient: sie ist nur die ironische Umkehrung einer fatalen Sicht auf den Verhängniszusammenhang des Imperativs der kapitalistischen Warenförmigkeit gegenüber jeder menschlichen Äußerung.

2. Weisen des Sprechens über Fremdheit und Herkunft

Kritische Theorie könnte in dieser Konsequenz für eine Zeit, in der es die Option zwischen einem sozialistischen und einem kapitalistischen Ticket nicht mehr gibt, potentiell Bestätigung finden. Sie ist jedoch in ihrer Hoffnungslosigkeit so total, daß sie die Differenzierung zwischen der Realität der Vernichtungslager und dem multikulturellen Status quo der gegenwärtigen Welt geradezu provozieren muß. Die Antwort wird nach Adorno nicht mehr als Antwort auf eine „Totalität“ der kapitalistischen Entwicklung konzipiert. Vielmehr spaltet sich der Weg des Nachdenkens in eine strukturale Anthropologie 1 oder Phänomenologie der Fremdheit einerseits im Anschluß an Freud, Simmel, Alfred Schütz und Julia Kristeva („Fremde sind wir uns selbst“ dt. Ausg. Frankfurt 1990); in eine hermeneutische Analyse des Exotismus in der Kulturindustrie andererseits, wie Adorno sie methodisch geprägt hat und wie zum Beispiel Heinz Steinert sie in seinen subtilen Musik- und Filminterpretationen verfolgt. Beiden Wegen ist gemeinsam, daß sie auch unter den Bedingungen von Fremdherrschaft, Kolonialismus und kapitalistischer Warenproduktion Möglichkeiten des Entkommens und der geglückten menschlichen Kommunikation und Kooperation formulieren. Beiden gemeinsam ist weiterhin, daß sie die Schranken zwischen Archaischem und Modernem –um diesen Übergang ging es auch bei Adorno- nicht zwischen Autochthonen und Allochthonen ziehen –daß sie also diese Schranken nicht naturalisieren-, sondern daß sie bei den Einheimischen das Archaische, bei den Migranten das Moderne erkennen – und zwar nicht äußerlich, sondern gerade in der materialen Analyse der Begegnung Beider.

Ich möchte dies an einem Beispiel aus Heinz Steinerts Buch „Kulturindustrie“ (Münster 1998) deutlich machen. Es handelt sich dabei um ein Zitat des Klappentextes einer CD der steirischen Gruppe „Broadlahn“:

„Es war in den sechziger Jahren auf einem Rastplatz an der Gastarbeiterroute als, zum ersten Mal in der Geschichte, Volksmusikanten aus der Steiermark und Volksmusikanten –sogenannte Gastarbeiter- aus der Türkei, Greichenland und Persien einander zu Gesicht bekamen und ansatzlos durch- über- und untereinander musizierten. ... Auf einer Wanderung durch die Steiermark trifft Abdullah Ibrahim ... gefolgt von weiteren der hervorragendsten Musiker des schwarzen Kontinents zum ersten Mal auf die steierischen Bauern. Nur bekleidet mit ihren Lederhosen sitzen sie am Waldrand und ... jodeln. ,Der Anblick eines nackten Wilden in seiner natürlichen Umgebung ist ein Erlebnis, das nie wieder vergessen werden kann‘ geht es Abdullah Ibrahim durch den Sinn. Er jodelt seinerseits und auf geht’s!“ (Steinert 1998:95).

Der übliche kulturindustrielle Vermarktungsmodus -der kategoriale Schematismus der Vermarktung oder das Vermarktungs- „Ticket“ hätte Adorno gesagt- wäre es gewesen, die Gastarbeiter als exotische Opfer der modernen Gesellschaft darzustellen. Mit dem schrägen, fremden Blick auf die Einheimischen jedoch versteht man, warum die Musik aus der Fremde fetzig und aufregend klingt (wie Heinz Steinert meint), die einheimische Musik jedoch schwermütig und –sehr exotisch.

Wir sehen also, daß für die Frage kulturindustrieller Schematisierung die Thematisierung der Herkunft von Kulturproduzenten ein entscheidendes Thema ist. Sprechen über Herkunft bedeutete im postkolonialen Diskurs der 80er und 90er Jahre vor allem Sprechen über Identität im Sinne von Identitätspolitik. Es ging um Deutungsmonopole bei der Zurechnung von Zugehörigkeiten, um den Minderheitenstatus bestimmter Gruppen und um die Legitimierung des Opferstatus angesichts der fortdauernden Auswirkungen kolonialer Strukturen. „Ethnic Autobiographies“ wurden besonders in den USA in großer Zahl auf den Markt gebracht und zweifellos teilweise auch erfolgreich kulturindustriell verwertet (M.Fischer 1986; Clifford/Marcus 1986). Man kann Herkunft jedoch auf die unterschiedlichste Weise thematisieren. Man kann damit Menschen zu Opfern machen , die so kulturindustriell nutzbar, aber auch zugleich für mögliche Aggression etikettiert sind. Ein gutes Beispiel dafür ist die Geschichte des Jazz als Geschichte der armen schwarzen Sklaven-Nachkommen, die noch immer die traurige Geschichte der Baumwollfelder erzählen. Eine andere Möglichkeit, Herkunft zu thematisieren, ist diejenige, Fremdheit und Exotik mit Aristokratie zu verbinden – wir kennen es in Deutschland als das Soraya- Syndrom. Fremdes wird hier nicht zum Gegenstand der Aggression, insofern man darin das abgespaltene Eigene bekämpft, sondern Fremdes wird zum Medium der eigenen Gebärde der Unterwerfung. Fremdes kann ich dann als eigenständig und different gelten lassen, wenn es mich entsprechend imaginierter „natürlicher“ Ordnung dominiert. Eine weitere und in demokratischen Gesellschaften womöglich die verbreitetste Weise, mit fremder Herkunft umzugehen, ist diejenige, sie zu verschweigen und die Assimilation zum obersten Gebot zu machen. Wir begrüßen die allgemeine Geltung des Gesetzes, daß niemand unter Brücken schlafen darf, und wir fragen nicht nach, wer so unkultiviert sein sollte, unter Brücken schlafen zu wollen. Die hessische Kultusministerin Karin Wolff soll in diesen Tagen im Kultusministerium ein Plakat haben aufhängen lassen, auf dem steht: „Nur wer Deutsch kann, kommt in die erste Klasse!“ Wir freuen uns als Demokraten, daß hier für alle die gleichen Zugangsrechte zu Bildung definiert werden. (Ein Foto des Plakats wurde mir per Internet zugeschickt. Es kann ein gesehen werden.)

3. Migrationsbiographien als Prozesse der Herstellung von Zugehörigkeit

Es gibt außer den genannten ein weitere, weitaus kompliziertere Weise, Herkunft zu thematisieren, nämlich diejenige, sie als Perspektivengewinn zu definieren, als einen Weg der Verfremdung der Folklore des modernen Alltags. Solche Verfremdungen sind künstlerisch möglich- wir hatten dies vorhin am Beispiel der steirischen Volksmusik erwähnt- , aber solche Verfremdungen sind auch in anderen intellektuellen Praxen möglich, zum Beispiel in der Wissenschaft, die ja ihrerseits mit ihren Zuschreibungen auch ständig in der Gefahr ist, selbst wissenschaftliche Folklore zu produzieren. Als Versuch der Kritik an solchen Folklorisierungen von Migration möchte ich Ihnen ein Buch vorstellen, das soeben zur Buchmesse im Verlag „Westfälisches Dampfboot“ in der Reihe „Kritische Theorie und Kulturforschung“ erschienen ist. Das Buch trägt den Titel „Migration, Biographie und Geschlechterverhältnisse“ und wurde von mir gemeinsam mit Mechtild M. Jansen und mit Christine Löw, allesamt Mitglieder und Freunde des Cornelia Goethe Centrums an der Universität Frankfurt, herausgegeben. Weitere Autorinnen sind Aleksandra Alund aus Schweden, Floya Anthias aus Großbritannien, Anne Juhasz und Eva Mey aus der Schweiz, Mirjana Morakvasic aus Frankreich und schließlich last but not least- Encarnacion Gutierrez Rodriguez und Maria Kontos aus Deutschland. Es geht in diesem Buch um die Möglichkeiten und die Orte, über die Entstehungsprozesse transnationaler und transkultureller Zugehörigkeit zu kommunizieren, ohne Differenz als Markierung zu verwenden. Ich möchte dieses Unternehmen im folgenden etwas deutlicher machen. Es geht um die Frage, warum für die Herstellung von Zugehörigkeit biographische Prozesse wichtig sind. Lassen Sie mich dazu ein wenig weiter ausholen.

Alfred Schütz, der in den 20er und 30er Jahren in Wien nicht nur Soziologe betrieben hatte, sondern in seinem Brotberuf ein erfolgreicher und weltgewandter Wirtschaftsjurist und Bankier war, erlebte in seinem politischen Exil in den USA nach seiner Ankunft in New York 1940 etwas sehr Seltsames, das er in seinem berühmten Aufsatz über den „Fremden“ zu beschreiben versuchte. Es handelte sich um ein Phänomen, das sicherlich viele Migranten vor ihm geteilt hatten, das sie sich aber kaum zu erklären vermochten: das Phänomen nämlich, daß Fremdheit mit der Dauer des Lebens in der Ankunftsgesellschaft nicht abnimmt, sondern sich verstärkt. Alfred Schütz‘ Entdeckung nun lautet in Kürze folgendermaßen: Der in der neuen Gesellschaft Ankommende erleidet eine Krise, nicht weil er zu wenig über das Ankunftsland weiß, sondern weil er das Alltagswissen, das „Denken-wie üblich“ der neuen Gruppe, nicht teilt und weil er das eigene bislang selbstverständliche Alltagswissen nicht mehr (selbstverständlich und unbefragt) nutzen kann. Die Ankunftsgesellschaft jedoch, die den Fremden über eine bestimmte Etikettierung zu „erkennen“ glaubt, gibt ihm gar nicht die Chance, die Krise produktiv zu bewältigen, indem zum Beispiel das bisherige Alltagswissen mit Hilfe neuer Elemente und Perspektiven transformiert und in eine neue Routine überführt würde. Gerade die soziale Interaktion zwischen dem Neuankömmling und der Aufnahmegesellschaft produziert vielmehr ständig neue Fremdheit, ja, die dem Fremden von der Ankunftsgesellschaft in ethnischen Stereotypen zugeschriebene Nähe – „ah, ich liebe sie, diese musikalischen Griechen“ – , die Stereotypisierung dringt möglicherweise sogar in das Selbstbild des Ankömmlings ein. Es stellt sich ein doppelter Entfremdungsprozeß her: Das soziale Verhältnis zwischen den Fremden und den Mitgliedern der Ankunftsgesellschaft stellt sich mit einer Art „Spiegel-Effekt“ für beide Gruppen in der Form von „fix-fertigen Typologien“ dar 2, die für die soziale Interaktionssituation nicht taugen, weil sie weder im Rahmen eines geteilten Hintergrundwissens als fraglose Bedingung der sozialen Interaktion fungieren, noch von den Interaktionspartnern falsifiziert werden. Die äußere –geographische, politische, ökonomische, kulturelle- Veränderung der Lebensumstände erhält für das Subjekt seine dramatische Bedeutung erst durch deren so geartete Rekonstruktion in der sozialen Interaktion.

An diesem Punkt nun erscheint es mir nun sinnvoll, einen Blick auf die notwendige besondere biographische Anstrengung der Einwanderer zu werfen. Die Suche nach „Zugehörigkeit“ in der neuen Gesellschaft ist verbunden mit biographischer Arbeit, die sich auf die Rekonstruktion eines symbolischen Raumes von eigenem „selbstverständlichem“ Wissen bezieht, auf deren Hintergrund erst die Möglichkeit entsteht, als Migrant oder Migrantin den Platz in der neuen Gesellschaft zu bestimmen. 3 In dem Buch, das ich Ihnen vorstelle, sind es nicht zufällig vor allem AutorInnen, die selbst Migration erfahren haben, die sich in ihren wissenschaftlichen Arbeiten mit der doppelten –sowohl repressiven als auch stützenden – Bedeutung biographischer Identität und auseinandersetzen. Diese Anstrengung hat sich gegen die ständige Vereinnahmung nicht nur durch ethnisierende Klischees, sondern auch durch den neumodischen Euphemismus des sogenannten „Transnationalen“ oder „Transkulturellen“ zur Wehr zu setzen. Wissenschaft ist davor keineswegs gefeit. Ich möchte Ihnen dies an einem kleinen Beispiel aus der empirischen Migrationsforschung deutlich machen, das auch im Buch erwähnt wird. Ein neues Modewort in der Soziologie ist das der „transnationalen Migrationsräume“. Im Zusammenhang mit Migrationsprozessen sollte diese Kategorie verdeutlichen, daß es sich bei Wanderungen häufig nicht um ein endgültiges Weggehen von einem Ort A zu einem anderen Ort B handelt, sondern dass die migrierenden Subjekte ständige Beziehungen sowohl mit A als auch mit B etablieren und sich daher zwischen A und B dauerhafte Bezüge herstellen, die wiederum auf die migrierenden Subjekte zurückwirken. Eines der häufig angeführten Beispiele ist das der Migration zwischen Mexiko und den USA, wo die in den USA angesiedelten sogenannten „Hispanics“ häufig dauerhafte Beziehungen mit der Herkunftsregion aufrechterhalten, ja, wo verschiedene Lebensdimensionen verschiedenen Regionen zugeordnet werden (Pries 1996). Was haben wir uns konkret darunter vorzustellen? Sind es reale Räume, die transnational geprägt sind?

Ich möchte ein Beipiel dafür geben, wie man verführt werden könnte, wissenschaftliche Folklore zu produzieren. Im Rahmen eines internationalen Forschungsprojekts, das in Frankfurt koordiniert wird und an dem zwei der Autorinnen des Buches beteiligt sind, sollten selbständige italienische Restaurant – Besitzer und ihre Kinder als Interview-Partner gewonnen werden. In einer Großstadt im Rhein-Main-Gebiet (es handelte sich übrigens nicht um Frankfurt) wurden mehrere Betreiber von Pizzerien auf dieses Projekt hin angesprochen. Die Besitzer sprachen deutsch, wurden von ihren deutschen Kunden jedoch häufig in mehr oder weniger fließendem Italienisch angesprochen, um anzudeuten, daß man sich hier ja gleichsam auf italienischem Territorium befinde, ein wenig wie im Urlaub. Die „italienische“ Gaststätte schien den Kunden so etwas wie ein transnationaler deutsch-italienischer Grenzraum zu sein, und der Gastronom, der den Erwartungen entgegenkam, antwortete auf Italienisch. Beim Gespräch der Interviewer mit dem Geschäftsinhaber stellte sich später heraus, daß es sich bei ihm –wie bei mehreren Inhabern italienischer Restaurants in der Nachbarschaft- um einen gebürtigen Rumänen deutscher Staatsangehörigkeit handelte, dessen Kinder ebenfalls Deutsche waren. Für die früheren italienischen Besitzer rückten vielerorts –so hörten die Forscher später auch in Experteninterviews mit Verbandsvertretern- Rumänen, aber auch Türken und andere Migrantengruppen in die wirtschaftlichen Enklaven nach, die von Italienern vor zwanzig Jahren geschaffen worden waren. Die Kinder der italienischen Vorbesitzer jedoch waren teils mit ihren Eltern nach Italien zurückgekehrt, oder sie waren in Import-Export-Geschäften tätig, oder sie besuchten deutsche Universitäten. Die „italienische“ Pizzeria jedoch war nur eine –in bemerkenswerter transnationaler Kooperation geschaffene- Projektion einer imaginierten Community. Der Aspekt des „Trans-Kulturellen“ oder „Trans-Staatlichen“ ist also keine Eigenschaft geographischer Orte (auch nicht sogenannter „multikultureller“ Räume), sondern eine Relation, die nur in Bezug auf Subjekte einerseits, soziale Prozesse andererseits einen Sinn ergibt. Die Migrationsbiographien selbst sind –so behaupte ich- die Orte transnationaler Räume.

Biographische Arbeit der Migranten ist gerade nicht Rückkehr zu den „unhintergehbaren“, archaischen, nicht gewählten ethnischen Bindungen, 4, sondern Wiederherstellung von kultureller Kreativität, die als unverwechselbar eigene jenseits aller Beliebigkeit erst durch die biographische Konstruktion sichtbar wird. Ich möchte Ihnen dies am Beispiel des Essays von Aleksandra Alund verdeutlichen. Alund entwickelt die Perspektive, daß reflexive Subjektivität sowohl die Eigenpositionierung der Migranten in der Ankunftsgesellschaft als auch die fremde Zuschreibung noch einmal in einem Prozeß biographischer Evaluation miteinander verbindet. Diesen Prozeß beschreibt sie in ihrem Beitrag „Brot, Buch und Denkmal – Kontinuität und Wandel durch ‚ethnic memory‘ bei Migrantinnen der 2.Generation“. Anhand der biographischen Erzählungen von Hanna, Jelena und Leana verdeutlicht Alund, dass die im Ankunftsland wiederentdeckte Tradition sich mit Erfahrungen im augenblicklichen Leben verbindet. Durch die Verknüpfung alter mit neuen Feindseligkeiten sorgt die Erinnerung dafür, dass Vergangenheit auch in der Gegenwart fühlbar bleibt. In ihrer Eigenschaft als junge Frauen bzw. als Mitglieder ethnischer Minderheiten der assyrischen, armenischen, ex-jugoslawischen bzw. serbischen und bosnischen Migration in Schweden sind sie mit einer Reihe von Mehrdeutigkeiten konfrontiert. Bewusst beziehen sie sich auf die Vergangenheit, und sie sind durch die Bemühungen, ihren eigenen Weg zur verschütteten „Tradition“ zu finden, aktiv in die kulturellen und sozialen Konflikte der Gegenwart eingebunden. Die Prozesse der „Minorisierung“ und Marginalisierung führen zu zahlreichen Spannungen und Konflikten. Vor allem jedoch ist es eine Auseinandersetzung mit Grenzen und verkrusteten Regeln – kulturellen, gesellschaftlichen, intergenerationellen und sexuellen -, die jenen Bereich erweitern, in dem sie in der Ankunftsgesellschaft ihre Identität als Frauen entwickeln können. Damit kann ebenfalls die Bedeutung von Gleichheit und persönlicher Freiheit – die bis dorthin beschränkt geblieben war – auf eine breitere Grundlage gestellt werden.

Das sinnbildliche „Ringen mit den Geistern“ der Tradition – dargestellt durch die Symbole von „Bread, Book and Monument“ – birgt die Entstehung des Neuen. Hanna, die als sogenanntes türkisches Gastarbeiterkind nach Schweden eingewandert ist, entdeckt erst unter den Bedingungen der Minorisierung in Schweden das „Buch“, die assyrische Bibel und die assyrische Sprache und Schrift als etwas ihr Eigenes. Sie entdeckt aber auch, daß sie nur in Schweden diese Tradition wissenschaftlich bearbeiten kann. In ihrem Herkunftsland Türkei ebenso wie in der von der schwedischen Gesellschaft abgeschotteten ethnischen Community besteht dagegen die Weitergabe der Tradition in Folklorisierung, Bildungsfeindlichkeit und paternalistischer Unterdrückung der weiblichen Familienmitglieder. So werden gerade unter den Bedingungen der Migration neue Perspektiven ermöglicht und wird emanzipatorisches Potenzial freigegeben. Die Dynamik der „ethnischen“ Erinnerung bzw. die Fähigkeit, Gegenwart und Vergangenheit miteinander zu verbinden, stellen sich als kreative Kraft dar, um in Wechselbeziehungen stehen zu können, zu übersetzen und zu überschreiten. Letztlich sind diese Prozesse Alund zufolge entscheidend für das Verständnis von Genese und Charakter moderner Identitäten, für die Entwicklungsmöglichkeiten, die eine transkulturelle Gesellschaft dabei in sich birgt, sowie für die Notwendigkeit einer solchen Gesellschaft.

Biographie wird damit im Sinne von Walter Benjamins Definition von Geschichte zum „Gegenstand einer Konstruktion, die nicht homogene und leere Zeit, sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet.“5 Eine solche Konstruktion aber ist zugleich modern in dem Sinne, in dem Adorno Moderne definierte, nämlich als den Bruch mit der Würde der Tradition als solcher. Dieses gesellschaftlich Neue ist eine keineswegs nur auf Einwanderer zu beziehende Kategorie, aber sie wird von den Menschen der Ankunftsgesellschaft in der Regel weniger akut wahrgenommen oder als unzulässige Zumutung abgewehrt. Wenn man also mit Adorno die Moderne als das „geschichtlich Unausweichliche“ definiert und nicht als „Aberration, die sich berichtigen ließe, indem man auf einen Boden zurückkehrt, der nicht mehr existiert“ und dies als ihren „normativen Charakter“ definiert,6 so kann man die soziale Situation der Migration als ein avanciertes Paradigma der Moderne begreifen.

Dies, so glaube ich, -und damit komme ich auf den Titel meines Vortrags zurück- ist die eigentliche Zumutung, die die Zuwanderer für die eingeborene Bevölkerung bedeuten: daß sie nämlich durch ihre Migrationsgeschichte einen Modernitätsvorsprung vor den sogenannten „Autochthonen“ haben. Sie und ihre Kinder sind es, die einen wichtigen Anteil haben an der Entwicklung der Intellektualität und der Zivilität der Ankunftsgesellschaften. Die Ankunftsgesellschaften können sie nicht auf Dauer nur archaisieren und folkloristisch kulturindustriell vermarkten. Gerade dies aber ist schwerer zu akzeptieren als vermeintliche Benachteiligung.

4. Zur Rezeptionsgeschichte eines nicht exotischen Projektes über Migration

Ich möchte zum Abschluß meines Vortrags als Beleg für meine These, daß der strukturelle Modernitätsvorsprung der Migranten die eigentliche Provokation für die multikulturelle Gesellschaft darstellt, eine bemerkenswerte Pressereaktion auf jene Konferenz, die die Grundlage für das vorliegende Buch bildete, in Erinnerung rufen. Im Mai 2000 brachte eine große Frankfurter Tageszeitung auf der ersten Seite einen fünfspaltigen Beitrag über eben diese Tagung zum Thema „Frauen in der Migration“. Soviel Aufmerksamkeit glich einer Sensation. Sollte es sich etwa um eine Ermutigung dazu handeln, MigrantInnen aus der Folklore-Ecke herauszuholen, um ihnen jenseits des Beglückungsszenarios exotischer Traditionen oder des Bedrohungsszenarios von Schule und Jugendkriminalität ernsthafte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen? Weit gefehlt. Der Beitrag war auf der ersten Seite gelandet, weil die Reporterin ehrlich erbost war. Da waren die bedauernswerten ausländischen Frauen von weit her gekommen in die Universität, und „auf diese Gleichgesinnten-Tagung waren sie gefahren in der Hoffnung, unter sich zu sein. Engelsgeduld und starke Nerven, sonst unerläßlich im Umgang mit Nachbar, Beamten und Kollegen, hatten sie zu Hause gelassen. Kein Zwang zur Selbstdefinition, kein Nischendasein, keine Fragen à la ‚Wo kommen Sie her, wo wollen Sie hin, was bedeutet Ihr Name?‘ „ hatten sie erwartet.

Was aber erfuhren die armen Frauen in der Universität? Nichts anderes als eine lästige Zumutung, so befindet die Reporterin: Wissenschaftlerinnen aus unterschiedlichen Ländern nämlich, die sich anmaßten, sich selbst einschließlich eigener und fremder Migrationsperspektiven intellektuell zu positionieren. Wenn sie ganz einfach unter sich fröhlich gewesen wären beim Verzehren schweinefleischloser Speisen, man hätte ihnen verziehen. Aber sich zu outen als Intellektuelle und als Migrantinnen nicht einmal mehrheitlich muslimischer Herkunft, das wurde nach einer Weile ärgerlich. „Für eine gewisse Zeit war es erbaulich, sogar lehrreich, die Vielfalt anderer Leute Lebensentscheidungen an sich vorüberziehen zu lassen.“ Was aber beanspruchten diese junge Wissenschaftlerinnen weiter? Sie beanspruchten, nicht nur über Migration zu erzählen, sondern auch ein theoretisches Gerüst ihrer und Anderer Migrationserfahrungen zu entwickeln.

Über die für ihren Geschmack allzu ambitionierten Bemühungen einer Wissenschaftlerin aus der 2.Migrantengeneration schreibt die Reporterin mit kaum verhohlener Herablassung: „Damit beraubte sie ihre an sich richtigen Einsichten bisweilen eines Teils der Aufmerksamkeit weniger geschulter Zuhörerinnen.“ Migrantinnen sind eben -so meinen die Mitglieder der gebildeten Klassen zu wissen- meistens nicht „geschult“. Und was die kleine Elite der intellektuellen Zuhörerinnen betraf, der die Reporterin sich selbst zweifellos zurechnen durfte, so gab es ohnehin für die Referentin keine Chance, den Anschluß an die weite Welt der großen Gedanken zu finden. Es sei an sich schon richtig, daß es sich bei der Verschränkung verschiedener Typen von Unterdrückung mit rassistischem und frauenfeindlichem Hintergrund nicht nur um eine Addition verschiedener Übel handele. Aber: „Die offene Tür, die sie damit einrannte, war in den USA ungefähr Anfang der 90er Jahre ausgehängt worden – aber was solls, hierzulande muß man ohnehin manches zehn Mal sagen.“ Zum Stand der hiesigen Migrationsforschung in Deutschland wußte die Reporterin nämlich zu berichten: „Das handelsübliche deutsche Bild vom Migrantenpaar sieht ja immer noch in etwa so aus: Er hat sich eines Tages ins Ausland abgesetzt, schickt regelmäßig Schecks nach Hause, schnallt sich jeden Sommer eine Waschmaschine aufs Autodach und zockelt gen Anatolien. Wo sie auf ihn wartet, mit den gemeinsamen Kindern; irgendwann wird sie nachgeholt und nimmt auf 40 Quadratmetern Deutschland seine Befehle entgegen. Ali handelt, Fatma harrt aus.“ Die Mühe, Migrationsdebatten in der BRD zu verfolgen, muß man sich offenbar nicht machen; man schaut auf die „richtige“, kuturindustriell gestylte Theorie, die am besten aus USA importiert wird.

Die Moral von der Geschicht: Migranten sollten nicht beanspruchen, ihre eigenen Geschichte intellektuell zu bearbeiten, und vor allem sollten sie ihre eigene Herkunftsperspektive nicht als Ressource benutzen. Die vietnamesisch-deutsche Forscherin Kien Nghi Ha schreibt dazu (nicht in unserem aktuellen Buch, wohl aber in einer Reihe desselben Verlages): „Diese Selbstverständlichkeit einfordern zu müssen, sagt etwas über den Zustand der Repräsentationsbetriebe in der BRD aus, in der MigrantInnen so gut wie nie als kompetente GesprächspartnerInnen auftreten, weil bis auf wenige Ausnahmen keine MigrantInnen als Intellektuelle, PolitikerInnen, JournalistInnen oder WissenschaftlerInnen anerkannt werden. Wir erscheinen –wenn überhaupt- zumeist als stumme Zeugen, als zurechtgeschnittenes Bildmaterial.“ (Kien Nghi Ha 1999:8). Einem Edward Said, einer Gayatri Spivak oder anderen Angehörigen der postkolonialen Eliten mag man allenfalls verzeihen, wenn sie aus ihrer heutigen Position als Intellektuelle über ihre Herkunft berichten, nicht aber ganz normalen Arbeitsmigranten. Sie und ihre Kinder sind den Eliten der Ankunftsgesellschaft in ihrem Bildungsaufstieg viel zu nah gekommen, viel zu ähnlich geworden. Spezialisten der Kulturindustrie begegnen ihnen ungern als Konkurrenten, schließen sie lieber in ihre exotischen „eigenen“ Kulturen ein. Wie schrieb Matthias Horx in einem Zeitgeistmagazin Anfang der 90er Jahre? Für die Integration der Migranten sei es überhaupt nicht wichtig, daß sie ihr Recht bekommen. Wichtig sei, daß sie sich wohl fühlen in ihrer eigenen Welt mit ihren eigenen Speisen, in ihren eigenen Kneipen und Bars, mit ihrer eigenen Musik. Wir, die Mitglieder der gebildeten Klassen, teilen dieses Wohlfühlen gern mit ihnen, und schon haben wir ein schönes neues Stück transnationaler, marktgängiger Kulturindustrie mehr geschaffen, ohne intellektuelle Mißklänge, Aufregungen und Verletzungen.

Anmerkungen

  1. eine Art „dialektischer Anthropologie“, wie auch Adorno und Horkheimer sie intendierten, vgl.ebd.12Zurück zur Textstelle
  2. ebd., S.61Zurück zur Textstelle
  3. Vgl. dazu Lena Inowlocki in: Generationen-BeziehungenZurück zur Textstelle
  4. Vgl. Karl Otto Hondrich: Wovon wir nichts wissen wollten, in: Die Zeit v. 25.9.1992, S.68Zurück zur Textstelle
  5. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, in: W.B.: Gesammelte Schriften, Bd.I.2., Frankfurt a.M. 1974, S. 701.Zurück zur Textstelle
  6. Vgl. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften 7, Frankfurt a.M. 1970, S.41Zurück zur Textstelle
© links-netz März 2004