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Mexico: Sozialer Zerfall und Auflösung der politischen Autorität

Gerardo Ávalos Tenorio

Der Übergang vom Autoritarismus zur Demokratie, wie er für Osteuropa charakteristisch war, und sich auch in Spanien und Lateinamerika vollzogen hat, dieser Übergang ist im Falle Mexikos gescheitert. Es ist sicherlich richtig, dass dieser Prozess weltweit eng mit der neoliberalen Reorganisation des Kapitalismus verbunden war, um der privaten Aneignung von öffentlichen Gütern eine legitimatorische Anschein zu geben. In Mexiko gab es zwar einen intensiven Privatisierungsprozess und einen Abbau von sozialen Rechten im Produktionssektor, aber die autoritären Strukturen des politischen Systems wurden nicht verändert. Vielmehr wurden sie dazu verwendet, und in einigen Fällen sogar noch verfeinert, um die Plünderung des nationalen Reichtums und die praktische Aufhebung der sozialen Rechte auszuweiten und zu vertiefen. Das Ergebnis ist so offensichtlich wie erschütternd. Die Konzentration von Reichtum hat zugenommen und folglich sind Ungleichheit und Armut gewachsen. Neuere Daten zeigen, dass zwischen 2006 und 2008 die Zahl der Mexikaner, die keinerlei Vermögenswerte besitzen von 46,1 Mio. auf 50,6 Mio. Personen angewachsen ist. Außerdem verfügten 2008 19,5 Mio. Mexikaner (18,2 %) nicht über die Mittel, um sich ausreichend zu ernähren, was bedeutet, dass sie in städtischen Zonen mit weniger als 2,25 Dollar und in ländlichen Zonen mit weniger als 1,68 Dollar pro Tag auskommen mussten.1 Gleichzeitig wuchsen die Einkünfte der reichsten 10 % der Bevölkerung auf 36,3 % des gesamten nationalen Einkommens. Das bedeutet, dass ein großer Teil der ökonomisch aktiven Bevölkerung von jeglicher Versorgung im Hinblick auf Gesundheit, Erziehung und Wohnung ausgeschlossen ist. So verfügten zum Beispiel im letzten Jahr 65 % der ökonomisch aktiven Bevölkerung über keinerlei Zugangsberechtigung zu sozialstaatlichen Leistungen. Außerdem hat die offene oder verdeckte Privatisierung des sozialen Sicherungssystems keineswegs zu größerer Effizienz und Qualität geführt, sondern genau zum Gegenteil. Ein dramatischer Beweis für diese Qualitätsverschlechterung ist ein Vorfall, der sich am 5. Juni dieses Jahres ereignete. In einer überfüllten Kindertagesstätte des Mexikanischen Instituts der Sozialversicherung (IMSS) in Hermosillo im Bundesstaat Sonora kamen bei einem Brand 49 Kinder ums Leben. Das Gebäude, in dem die Kindertagesstätte untergebracht war, war eine Lagerhalle, deren Dach aus einem leicht brennbaren Material bestand. Die privaten Betreiber solcher Einrichtungen erhalten vom Staat pro Kind einen keinesfalls geringen Betrag. So entwickelt sich diese Form der Privatisierung zu einem großen Geschäft für Freunde und Familienmitglieder von öffentlichen Funktionären. Der dramatische Fall zeigt die Quintessenz des reorganisierten Kapitalismus, die Verachtung des menschlichen Lebens, die mit der Akkumulation von Reichtum einhergeht.

So war die neoliberale Reorganisation des Kapitalismus ein voller Erfolg im Hinblick auf die Steigerung der Akkumulation des Kapitals, aber sie war verheerend aus humanitärer Sicht. Diese Entwicklung ist weit davon entfernt sich umzukehren, ganz im Gegenteil vertieft sie sich immer weiter. Nach der Prognose von CEPAL (Comisión Económica para América Latina, Wirtschaftskommission für Lateinamerika, A. d. Ü) wird für Mexiko in der zweiten Hälfte von 2009 und für das Jahr 2010 im Vergleich zu den übrigen Ländern der Region die schlechteste Wirtschaftsentwicklung vorausgesagt. Das bedeutet, dass Mexiko für ausländische Investitionen weniger attraktiv sein wird und deshalb weiterhin von den Erdölexporten mit ihren sinkenden Erlösen abhängt, ebenso wie von den Rücküberweisungen der im Ausland arbeitenden Mexikaner, die infolge der Wirtschaftskrise in den USA einen erheblichen Rückgang erfahren haben. Ohne Zweifel ein verheerendes Panorama: in der ersten Hälfte des Jahres 2009 hat die mexikanische Wirtschaft ein Minuswachstum von 9 % aufzuweisen.

Zu diesen katastrophalen Konsequenzen der kapitalistischen Restrukturierung kommt eine ihrer schlimmsten Auswüchse: die ausufernde organisierte Kriminalität. Es handelt sich dabei nicht nur um den Drogenhandel, sondern ebenso um den Handel mit Menschen und Waffen, um Erpressung, Entführung, Piraterie und Schmuggel. Durch Arbeitslosigkeit, Armut und das Fehlen von sozialer Absicherung findet das organisierte Verbrechen einen fruchtbaren Boden. Die Regierung des (konservativen, A. d. Ü.) Partido Acción Nacional (PAN) erklärte dem Drogenhandel den Krieg und schickte die Armee in einen Kampf, für den sie nicht ausgebildet ist. Verletzungen der Menschen- und Bürgerrechte sind an der Tagesordnung. Sie sind aber auch eine offensichtliche Konsequenz dessen, dass die Armee Aufgaben der öffentlichen Sicherheit übernehmen muss, ohne dass gleichzeitig eine Präventionsstrategie existiert, die den Drogenkonsum reduziert und die Finanzkreisläufe unterbricht, welche das organisierte Verbrechen auf dem Wege der Geldwäsche mit der formellen Ökonomie verbinden. Der Einsatz der Armee gegen den Drogenhandel militarisiert nicht nur das tägliche Leben, sondern gefährdet in besonderer Weise die soziale Ordnung, weil die Chancen für einen militärischen Sieg gering sind, wenn es an moralischer und politischer Autorität fehlt. Man schätzt, dass im Laufe dieses Jahres zwischen 30 und 40 Tausend Militärangehörige desertiert sind, aller Wahrscheinlichkeit nach um sich kriminellen Gangs anzuschließen. 2

Diese Charakteristika der aktuellen mexikanische Realität sind nicht spontan entstanden. Sie sind ein Produkt dessen, dass sich eine dogmatische Unterwerfung unter die Imperative der Kapitalakkumulation mit einem rigiden politischen Autoritarismus verbunden hat. Dieser wurde von den ökonomischen und politischen Gruppen aufrecht erhalten, die von dem sozialen Desaster profitiert haben. Mit der Präsidentschaftswahl des Jahres 2000 verband sich der Glaube an den Übergang vom autoritären zu einem demokratischen System, weil bei ihr zum ersten Mal seit dem Ende der mexikanischen Revolution ein Oppositionskandidat – der politischen Rechten - gewählt wurde. Diese Illusion zerbrach abrupt im Jahr 2005/2006, als klar wurde, dass der herrschende Machtblock unter keinen Umständen den friedlichen Triumph einer Politik erlauben würde, die auf nationale Souveränität und eine moderate Umverteilung der Einkommen zielt.

Tatsächlich schloss sich die herrschende Allianz der ökonomischen und politischen Kräfte, die man „Ordnungspartei“ nennen könnte, zusammen und zog es vor, die verfahrensmäßige Sauberkeit demokratischer Institutionen der Sicherung ihrer Macht und ihrer Privilegien zu opfern. Oder, um einen Klassiker der politischen Theorie zu paraphrasieren: Der mexikanische Machtblock opferte die demokratische Wahl, um Beutel und Krone zu retten.

Felipe Calderón wurde unter Verletzung von Legalität und demokratischer Verfahrensweise als Präsident eingesetzt, geschützt durch die rigiden autoritären Strukturen, die noch aus den Jahren der Herrschaft der PRI stammen. Dieses autoritäre Regime hatte drei zentrale Merkmale: Die korporative Kontrolle über die großen Massengewerkschaften und über die organisierte Bauernschaft verschaffte ihm eine starke Massenunterstützung. Diese Kontrolle erwuchs aus den großen sozialen Errungenschaften der Revolution, verbunden mit der Expansionswelle des Kapitalismus in der Zwischenkriegs- und Nachkriegszeit. Die Funktionslogik des Staates bestand darin, dass soziale Errungenschaften [Landumverteilung, Ejido (kollektiver Landbesitz, A. d. Ü.), gewerkschaftliche Organisierung, kollektive Schiedsstellen] gegen politische Unterwerfung und die Unterstützung der politischen Bürokratie getauscht wurden. Dies war das erste Merkmal des autoritären Regimes. Die beiden anderen sind die unverzichtbaren Bestandteile jener korporativen Kontrolle, nämlich die über der Verfassung stehende Präsidentschaft und die territoriale Herrschaft, personifiziert in der Figur des lokalen und regionalen Kaziken, der nach innen als Machthaber und nach außen als Vasall des Präsidenten der Republik auftrat. Dieses sozial reformistische System der autoritären Kontrolle manifestierte sich in verdichteter Form in der Partei der institutionalisierten Revolution (PRI), die im strikten Sinne keine politische Partei war, sondern eine die mexikanische Staatlichkeit insgesamt verkörpernde Agentur mit dem Anspruch, die Gesamtheit des politischen Lebens des Landes zu umfassen. In Wahlkampfzeiten nahm dieses politische Gebilde die Form einer Partei an, um der „Reaktion“ Mandate streitig zu machen. Im Parlament existierte eine Front sozialer Organisationen, die aus Repräsentanten gesellschaftlicher Sektoren bestand (Arbeiter, Bauern, der Volksmassen allgemein) und die die „komplexe“ Aufgabe hatten, in quasi automatischer Art und Weise, die präsidentiellen Initiativen zu unterstützen. Die PRI war auch eine Art Staatssekretariat, das in allen gesellschaftlichen Bereichen Verwaltungsfunktionen ausübte. Sie war darüber hinaus ein Vehikel für soziale Mobilität und schließlich sogar, mit Hilfe lokaler Komitees, die über das ganze Land verstreut waren, die Organisatorin von Kultur und Unterhaltung für die „Volksklassen“. Es war eine so sonderbare Politikform, dass es keine Übereinstimmung dahingehend gab, wie man sie definieren und charakterisieren sollte. Was aber immer hervorgehoben wurde, war der spezielle Charakter dieser Form einer autoritären politischen Kontrolle, die sich mit einem starken Schutz sozialer Rechte, der Förderung des Fortschritts und der Verteidigung der nationalen Souveränität verband. Natürlich war dies nichts anderes als die Art und Weise, die Ökonomie des Landes an die fordistische Akkumulationsweise anzupassen, die weltweit herrschte. Die Ideologie des Fortschritts, zum Beispiel, war Ausdruck des kombinierten Prozesses von Industrialisierung und Urbanisierung in der Nachkriegszeit. Der ökonomische Nationalismus, dessen Modell die Enteignung der Erdölindustrie durch die Regierung Lázaro Cárdenas (1934, A. d. Ü.) war, benutzte man später (bezeichnenderweise zusammen mit der Nationalisierung der Elektroenergieerzeugung), um die Kapitalakkumulation insgesamt zu unterstützen. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass mit der Expansionswelle des Kapitals, die Kennzeichen des fordistischen Modells ist, die PRI sich in ihrer Regierungspraxis als offensichtliche Synthese der Errungenschaften der mexikanischen Revolution darstellen konnte. In Wirklichkeit funktionierte sie als Agentur der korporativen und territorialen sozialen Kontrolle, die notwendig war, um die Bedingungen der Kapitalakkumulation zu garantieren. Das damit verbundene Problem zeigte sich, als 1982 das fordistische Modell an sein Ende kam, was sich in der Überschuldung der nationalen Ökonomie und dem internationalen Preisverfall des Erdöls ausdrückte. Die Basis des Konsenses zerbrach. Zeichen dieser Konsenskrise zeigten sich bei den Präsidentschaftswahlen 1988, als der neoliberale Präsidentschaftskandidat der PRI, Carlos Salinas gegenüber dem Symbol des Cardenismus, personifiziert durch den Sohn des Generals Cárdenas trotz des bestehenden politischen Kontrollmonopols verlor. Aber am Ende wurde Carlos Salinas als Präsident des Landes eingesetzt. Als sich danach die Strukturreformen mit den damit einhergehenden Privatisierungen beschleunigten und der massive Angriff auf die Arbeiterklasse deutlich wurde, bereitete der Machtblock eine allmähliche politische Öffnung vor mit dem Ziel, die formelle politische Macht an eine Partei zu übergeben, die die Kontinuität des Restrukturierungsprozesses garantieren und einen kontrollierten politischen Wechsel ermöglichen würde. Ein solcher Wechsel war 1994 angesichts der indigenen Rebellion in Chiapas und der Ermordung des Präsidentschaftskandidaten der PRI, Luis Donaldo Colosio, im März jenes Jahres dringend notwendig geworden. Alles wurde vorbereitet, um dem Machtblock durch den Wahlsieg einer ursprünglich liberalen Partei eine neue Legitimität zu verschaffen, einer Partei, die sich Schritt für Schritt caudillistischen, unternehmerischen und klerikalen, in jedem Fall aber konservativen Positionen annäherte, die auf eine Neuzusammensetzung des Kapitals abzielten. Der Charakter einer politischen Formation, genannt PRI, ließ viele denken, dass deren Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen einen authentischen Demokratisierungsfortschritt des Landes bedeuten würde. Diese politische Einschätzung wurde widerlegt. Durch den Verlust der Präsidentschaft schwand weder die territoriale Kontrolle durch die PRI, noch ihr Charakter als Instrument der Aushandlung und Kontrolle sowie der Beziehungen zu den Nutznießern der Privatisierungen. Dass Vicente Fox von der PAN (2000-2006) bei der Ausübung der Präsidentschaft sich als ungeschickt erwies, war für den Machterhalt der PRI und der Finanzoligarchie niemals von besonderer Bedeutung. Aber es war die Bedingung dafür, dass die Partei der demokratischen Revolution (PRD) zum ersten Mal in die Lage kam, in den Wahlen von 2006 eine reale Möglichkeit für das Erringen der Präsidentschaft zu haben. Beim Präsidenten Fox handelte sich nicht nur einfach um Unfähigkeit, sondern schlicht auch um Korruption, denn die PAN an der Macht zeichnete sich ganz schnell durch ihre Raffgier bei der Handhabung öffentlicher Güter aus. Als Regierungspartei erwies sich die PAN als besonders rückwärtsgewandt und repressiv. Die Fälle von Atenco und Oaxaca sind im Gedächtnis geblieben als Zeichen des Machtmissbrauchs und des Autoritarismus bei der Ausübung der Regierungsgewalt. Diese Ereignisse zeigen, dass sich die Regierung gegenüber denen, die es wagen, den Imperativen der Kapitalakkumulation zu widerstehen, völlig despotisch verhält. Die Repressionen im Jahre 2006 in San Salvador Atenco (in dem an den Distrito Federal angrenzenden Bundesstaat Estado de México), dessen Einwohner sich um 2001 organisiert hatten, um sich erfolgreich dem Bau eines neuen internationalen Flughafens zu widersetzen (natürlich in Zusammenhang mit dem Plan Puebla Panamá)3 ist ein klares Zeugnis für die Auflösung der politischen Autorität und ihrer Wandlung zum schlicht autoritären Kommando, wenn es darum geht, sozialem Widerstand entgegen zu treten. Dasselbe ereignete sich bei der Unterdrückung der Volksversammlung von Oaxaca (Asamblea Popular de los Pueblos de Oaxaca, APPO) im November 2006.

Diese Vorfälle zeigen, dass PRI und PAN praktisch in einer nicht schriftlich fixierten Allianz gemeinsam regiert haben, als getreue Vertretungen einer Oligarchie, die in ihrer Wahrnehmung des gesellschaftlichen Lebens extrem eingeschränkt und politisch wenig vorausschauend ist. Zu der Konzentration des Reichtums und dem sozialen Zerfall, der sie begleitet, kommt die Auflösung einer für die Politik grundlegenden Glaubwürdigkeit der Regierungsautorität zugunsten eines unternehmerischen Verhaltens, dem politische Kunstfertigkeit völlig abgeht. Das Ergebnis der Zwischenwahlen vom 5. Juli dieses Jahres zeigt eindeutig die wirkliche Natur dieser Transformation des alten mexikanischen Autoritarismus.

Oberflächlich betrachtet haben sich die politischen Prozesse in Mexiko bemerkenswert verändert. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich in diesem Land ein demokratisches Regime oder eine republikanische Staatsform herausgebildet hat. Die herrschenden Klassen haben ihre Macht bis zu dem Punkt gesteigert, an dem sie den Staatsapparat einer unternehmerischen Dynamik unterworfen haben. Die mexikanische Staatsmacht, die einstmals infolge ihrer großen Autonomie gegenüber den herrschenden Klassen, den pressure groups, der Kirche und anderen privilegierten Kräften als „cäsaristisch“ oder „bonapartistisch“ charakterisiert werden konnte, hat die legislative und administrative Kapazität eingebüßt, die notwendig ist, um nicht nur den sozialen Konsens, sondern auch die Bedingungen sozialer Stabilität und des sozialen Friedens zu gewährleisten, d.h. der Bedingungen, die für die Schaffung eines Investitionsklimas erforderlich sind, das es dem legal operierenden und nicht unter dem Verdacht einer Verbindung mit der organisierten Kriminalität stehenden Kapital erlaubt, zu prosperieren, sich auszudehnen und zu erweitern. Die legislativen Reformen, die die PAN in der Regierung durchgesetzt hat, zielen ausschließlich auf eine Verbesserung der Akkumulationsbedingungen des Kapitals, auf eine Zunahme der Repression sowie eine Verletzung der bürgerlichen Rechte und bilden damit eine Bedrohung der sozialen Organisation. Die Kriminalisierung des sozialen Protests ist eines der alltäglich angewandten Mittel der regierenden Gruppe gegenüber möglichen Ausbrüchen der Unzufriedenheit. Es gab keine Maßnahme der Regierung, die wenigstens eine Atempause für die subalternen Klassen bedeutet hätte. Eine Beschwernis fügt sich an die andere, und das alltägliche Leben der Mexikaner schwankt zwischen Beklemmung, Unbehagen und Angst. Das Verbrechen breitet sich aus, aber die Polizei und die Soldaten flößen mehr Schrecken ein als Vertrauen und Sicherheit. Die verdächtige Unfähigkeit der Justiz geht einher mit den riesigen Einkünften ihrer Funktionäre und bildet eine weitere Last auf den Schultern der Bevölkerung, die von Arbeitslosigkeit, Unwissenheit und Armut geplagt ist. Die PAN-Regierung hat Gesetzesreformen auf dem Gebiet der öffentlichen Sicherheit beschlossen, die eine Erweiterung der Befugnisse des mexikanischen Geheimdienstes (das von der Regierung abhängige Centro de Investigaciones para la Seguridad Nacional, CISEN), der Polizei und des Militärs bedeuten. Ebenso wurden die Pensionsfonds der Arbeiter und Angestellten des öffentlichen Dienstes privatisiert und kapitalisiert. Wenn auch in modifizierter Form wurde eine Reform des Ölsektors durchgesetzt, deren erste Version offenkundig eine Privatisierung dieser Industrie anvisierte, die von zentraler Bedeutung für die Staatseinnahmen und infolgedessen für die soziale Stabilität ist. Zusammengenommen hat die PAN-Regierung die neoliberalen Reformen der Vorgängerregierungen der PRI weiter geführt, aber auf noch autoritärere und noch korruptere Weise.

Es ist schwierig, das allgemeine Ergebnis der Zwischenwahlen vom 5. Juli 2009 zu interpretieren, wenn man darauf verzichtet, die Wahlen von 2006 zur Kenntnis zu nehmen. Und es ist notwendig, sich daran zu erinnern, dass sich damals eine wenig glaubwürdige „Ordnungspartei“ formierte, um zu verhindern, dass es im Rahmen des Übergangs zur Demokratie zum Aufstieg von Andrés Manuel López Obrador von der PRD zum Präsidenten der Republik kommen würde. Die PAN, die rigidesten und der Repression zugeneigten Unternehmergruppen, die Medienkonzerne, insbesondere Televisa, die Vorsitzende der LehrerInnengewerkschaft, die das vermeintlich autonome Bundeswahlinstitut kontrollierte, der ehemals berühmte zapatistische Führer, der im Rahmen der „anderen Kampagne“ das Land bereiste und sich dabei darauf beschränkte, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass López Obrador weder links, noch sozialistisch, noch antikapitalistisch sei, und schließlich der frühere PRD-Präsidentschaftskandidat Cuautémoc Cárdenas, der die Kandidatur von López Obrador schlicht nicht unterstützte, alle diese bildeten in Wirklichkeit einen deutlich sichtbaren und militanten Teil des herrschenden Blocks, der einen Schritt hin zur Demokratie verhinderte. Dies hätte nämlich bedeutet, einem Kandidaten den Weg zur Präsidentschaft zu öffnen, der das neoliberale Projekt wenigstens ein wenig hätte modifizieren können. Felipe Calderón (von der PAN, A. d. Ü.), einmal als Präsident installiert, lenkte den Blick der Öffentlichkeit auf den angeblichen Krieg gegen den Drogenhandel. Und die PRI wurde für die „Machtelite“ wieder zu einer Option.

In einem Präsidialsystem wie dem mexikanischen haben Zwischenwahlen zum Parlament für die BürgerInnen eine beschränkte Attraktivität. Die Wahlbeteiligung ist geringer als bei den Präsidentschaftswahlen, aber die Parlamentswahlen verwandeln sich oft in ein Plebiszit über die präsidentiale Politik. Weil die Leitlinien des Regierungshandelns den neoliberalen Imperativen unterliegen, begreift die BürgerInnenschaft, dass „alle Politiker gleich sind“, wer auch immer regiert. In Lateinamerika dienen die Zwischenwahlen dazu, diese Überzeugung auszudrücken und, damit Unzufriedenheit kanalisierend, mehrheitlich gegen die Regierungspartei zu stimmen. Das Resultat ist, dass die Präsidenten geschwächt aus diesen Wahlen hervorgehen und geringere Spielräume dafür haben, ihre Amtsperiode erfolgreich abzuschließen. Am 5. Juli wurde in Mexiko gewählt, um die 500 Mitglieder der Deputiertenkammer neu zu bestimmen, und außerdem gab es in 11 Bundesstaaten Gouverneurswahlen. Gleichzeitig wurden dort die Bürgermeister und Gemeinderäte neu gewählt.

Diesen Zwischenwahlen galt ein besonderes Interesse, weil sie in einem neuen rechtlichen Rahmen stattfanden, der 2007 eingeführt wurde. Dieser enthält insbesondere das Verbot für politische Parteien und Privatpersonen, Werbezeiten in den Massenmedien zu kaufen. Damit war das Geschäft des Fernsehduopols (der beiden beherrschenden TV-Konzerne Televisa und Televisión Azteka) mit der Demokratie beendet. Für die Entwicklung der Wahlkampagnen hatte dies in vielfacher Hinsicht Auswirkungen. Die Parteien konnten ihre Mittel für Wahlwerbung nun schlicht und einfach für den Stimmenkauf verwenden. Ein Funktionär der PRI drückte dies in einer Fernsehsendung so aus: „Anstelle in Öffentlichkeitsarbeit zu investieren, haben wir das Geld dazu verwendet, den Menschen zu helfen, die es am nötigten haben“.4 Der Stimmenkauf fand vor allem von Seiten der PRI statt, aber es gab keine Partei, die nicht auf diese Praxis zurückgegriffen hätte. Wenn es richtig ist, dass „mehr als die Hälfte der fast 2 Millionen Gemeinden des Landes vom organisierten Verbrechen unterwandert ist“ und „78 % der ökonomischen Sektoren von illegalen Aktionen infiltriert sind“5, liegt der Schluss nahe , dass der Stimmenkauf eine gute Möglichkeit ist, Geld aus unrechtmäßigen Quellen zu waschen. Seinerzeit, bei den Wahlen von 2006, wurden von den Parteien die Kosten für 800.000 Werbespots aufgewendet. Der Verdacht, dass es sich dabei um illegales Geld handelte, ist offenkundig gerechtfertigt. Tatsächlich informierten das mexikanische Innenministerium und das Büro des Generalstaatsanwalts der Republik zwei Tage vor den Wahlen darüber, dass es in 160 der 300 Wahlbezirke zu einer rechtswidrigen Wahlfinanzierung gekommen ist und dass mindestens 16 Kandidaten für die 500 Parlamentssitze Verbindung zum organisierten Verbrechen hatten.6

Bei den Zwischenwahlen von 2009 richtete sich eine besondere Erwartung auf das Ergebnis der indirekten Konfrontation zwischen Felipe Calderón und Manuel López Obrador, der über das ganze Land hinweg eine soziale Widerstandsbewegung organisiert hatte, die auf eine Verteidigung der natürlichen Ressourcen des Landes und der popularen Ökonomie zielte. Aber López Obrador hatte die Kontrolle über seine Partei, die PRD, aufgrund der Tatsache verloren, dass bei einer - übrigens rechtlich umstrittenen - Wahl inzwischen ein Parteivorsitzender bestimmt wurde, der mit Felipe Calderón zu paktieren bereit ist. Zu dem führten die monopolisierten Massenmedien eine andauernde Schmähkampagne gegen die von Manuel López Obrador angeführte zivile Widerstandsbewegung. Es war eine vom TV-Duopol kontrollierte Kampagne von Fernseh- und Radiosendern, Zeitungen und Zeitschriften, die das Bild eines populistischen und ehrgeizigen Mannes malten und ihn als ein Feind demokratischer Institutionen, von Frieden und Ordnung darstellten. Die Kooptation einstmals unabhängiger Journalisten, das verführerische Versprechen, im Fernsehen erscheinen zu können oder sogar einen eigenen Kanal zu erhalten (wie im Falle der Beschäftigten der Zeitung Milenio oder das alten Canal 40) waren Ausdruck des Bestrebens, sich das öffentliche Meinungsmonopol zu sichern. Es verging kein Tag ohne Angriffe auf López Obrador. Aus der Führung der Partei entfernt, der er den größten Triumph ihrer Geschichte beschert hatte, stützte er sich auf die Repräsentanten seiner Bewegung, soweit sie Kandidaten der PRD waren, sowie auf Kandidaten der Partido de Trabajo und der Partido Convergencia. Heute streben die zur Kollaboration bereite Leitung der PRD und ihr so genannter moralischer Führer, Cuauthémoc Cárdenas (der, um die Wahrheit zu sagen, als Parteiführer sich durch mangelhafte Führungskapazitäten und ein niedriges Niveau politischer Intelligenz auszeichnete), danach, López Obrador aus der PRD auszuschließen, so unglaublich dies erscheint.

Eine neue Zutat der Wahlen von 2009 war der Aufruf verschiedener gesellschaftlicher Organisationen, ungültig zu stimmen. Der Ursprung dieser Kampagne ist unklar. Sie wurde über das Internet verbreitet, nachdem sie von bestimmten Personen mit Zugang zu den elektronischen Kommunikationsmedien unterstützt wurde, von „politischen Analytikern“, die plötzlich zu Kämpfern für das „Null-Votum“ wurden. In einem bestimmten Moment des Wahlkampfs räumte Televisa dieser Propaganda Platz ein. Es handelte sich also um einen Versuch, von der Unzufriedenheit der BürgerInnen mit allen Parteien und allen Politikern zu profitieren. Die Wahrheit ist, dass das TV-Duopol sehr wohl Gründe hatte, gegen die Politiker zu protestieren, denn schließlich wurden ihre Interessen durch die Wahlreform von 2007 beeinträchtigt: Die Politiker hatten sie aus dem Wahlgeschäft verdrängt.

Televisa operierte zur gleichen Zeit auf anderen Feldern. Sie ging mit dem Unternehmer Alejandro Martí eine Allianz ein, dessen Sohn entführt und ermordet worden war und der die zivile Organisation „Beobachtungssystem für Bürgersicherheit, (Sistema de Observación para la Seguridad Ciudadana, SOS) gegründet hatte. Seither führte er eine Kampagne mit dem Namen „Meine Stimme für Deine Verpflichtung“ an. Diese hatte zum Ziel, die Kandidaten der verschiedenen Parteien aufzufordern, sich mit notariell beglaubigter Unterschrift dazu zu verpflichten, eine Reihe rechtlicher Reformen anzustoßen. Unter diesen sticht besonders diejenige hervor, die mittels einer Verfassungsänderung den Fernsehgesellschaften ihr Geschäft mit den medialen Wahlkampagnen zurückgeben sollte.

Eine andere politische Aktionsfront von Televisa war ihre Allianz mit der Grün-Ökologischen Partei Mexikos, auf deren offener Liste sie einige ihrer Angestellten platzierte. Die Wahlkampagne der Partei der Grünen wurde von Televisa durch die Abordnung von Schauspielern für ihre Werbesendungen und Plätze für Zeitungsannoncen unterstützt. Im Übrigen führte diese Partei einen ebenso simplen wie erfolgreichen Wahlfeldzug, der aus drei populistischen Forderungen bestand: Stipendien für Englisch- und Computer-Kurse, Todesstrafe für Entführer und Mörder sowie Gutscheine für Medikamente.

Aber die ganz große Allianz von Televisa ist die mit der politisch-ökonomischen Gruppierung („Grupo Atlacomulco“), zu der der Gouverneur des Estado de Mexico, Enrique Peña Nieto (PRI, A. d. Ü.) gehört. Die Kampagne zu seinen Gunsten datiert von 2005, als der neue Gouverneur das Mandat in dem Bundesstaat mit der zweitgrößten Bevölkerungszahl antrat. Es ist im strikten Sinne keine Allianz mit der PRI, sondern mit einer Gruppierung, die als politisches und ökonomisches Interessenskomplott fungiert und in Peña Nieto eine attraktive Figur für eine wenig gebildete und vom Fernsehen beeinflusste WählerInnenschaft gefunden hat. Tatsächlich hat sich der Machblock mit Peña Nieto verbunden, nachdem die PAN bei den von ihr so ersehnten Privatisierungen der Wasserversorgung, des gesamten Energiesektors und - weniger wichtig- der öffentlichen Sicherheit ihre Unfähigkeit und ihre Ineffizienz bewiesen hat

Geschwächte Präsidentschaft, Stimmenkauf und Nötigung, Kontrolle der Wahlorgane und die Infiltrierung der PRD-Linken, um López Obrador zu isolieren, sowie Schaffung von Verwirrung, um die Proteststimmen gegenüber der Regierung mittels „Null-Votum“ zu spalten, alles dies zusammen genommen führte zu dem überwältigenden Wahlsieg der PRI. Nach dem offiziellen Wahlergebnis erhielt die PAN 28,1 %, die PRI 36,8 % und die PDR 12,2 % der Stimmen. Die grüne Partei erhielt 6,5 %, während die restlichen Parteien unter 5 % blieben. Die Wahlbeteiligung betrug 44,8 % und 5,4 % der Stimmen waren ungültig. Darüber hinaus errang die PRI fünf der sechs umkämpften Gouverneursposten, eroberte die Hauptstädte von Jalisco und Morelos und gewann erdrutschartig in anderen Bundesstaaten, insbesondere im Estado de Mexico. Im Distrito Federal (dem Hauptstadtbezirk, A. d. Ü.) gewann erneut die PRD, und dieser blieb somit eine von der PRI nicht einnehmbare Festung. Hier wurde mit 10,5 % auch der größte Prozentsatz ungültiger Stimmen registriert.

Zum Abschluss können wir sagen, dass diese Wahlen der PRI die Protagonistenrolle bei der Führung des Machtblocks mit seinem Projekt der Privatisierung und der kapitalistischen Restrukturierung zurückgegeben haben. Zur gleichen Zeit schreitet der Prozess des gesellschaftlichen Zerfalls voran, der sich in alltäglicher Gewalt und materieller Verarmung der Mehrheit der Bevölkerung ausdrückt. Um es in der Hobbes`schen Begrifflichkeit auszudrücken: Es handelt sich um einen Naturzustand, der die Auflösung der staatlichen Autorität bezeugt. In Mexico hat sich das neoliberale Projekt einer Zurückdrängung des Staates selbst übertroffen.

Übersetzung: Brigitte Kühn

Anmerkungen

  1. Nationale Erhebung zu den Einkünften und Ausgaben der Haushalte 2008, Instituto Nacional de Estadística, Geografía e Informática (INEGI).Zurück zur Textstelle
  2. Die Zahlenangaben stammen von dem Spezialisten José Luis Piñeyro in einem Interview mit Ricardo Ravelo: Proceso Nr. 1707, 19. Juli 2009, S. 7Zurück zur Textstelle
  3. von Vicente Fox 2001 initiiertes großes internationales, dem neoliberalen Modell folgendes Entwicklungsprojekt der zentralamerikanischen Region. A. d Ü.Zurück zur Textstelle
  4. Es handelt sich um César Augusto Santiago in dem Programm Punto de Partida (Ausgangspunkt) des Kanals 2 von Televisa, gesendet am 24. Juni 2009.Zurück zur Textstelle
  5. Die Feststellungen stimmen überein mit der Aussage des Wissenschaftlers Edgardo Buscaglia in einem Interview im Proceso vom 19. Juli 2009 sowie der Aussage der Journalistin Carmen Aristegui in einem Radiointerview am 16. Juli 2009.Zurück zur Textstelle
  6. Rechtswidrige Finanzierung muss nicht notwendig vom organisierten Verbrechen kommen. Das Geld kann aus vielfältigen Quellen stammen, die aber regelwidrig sind und auf jeden Fall dazu führen, dass die Parteien und Kandidaten die gesetzliche Obergrenze für die Wahlkampfkosten überschreiten. Excelsior, 3. Juli 2009, 1. Sektion, S. 1 und 2.Zurück zur Textstelle
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