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Rebellisches Radio aus Chiapas

Radio Insurgente der EZLN geht auf Sendung

Dario Azzellini

Mit einem Hahnenschrei beginnt kurz vor Sonnenaufgang die Morgensendung des zapatistischen Senders „Radio Insurgente“ – „La voz de los sin voz“ (Aufständisches Radio – Die Stimme der stimmlosen“, das bereits einigen Monaten von mehreren UKW-Sendern auf der Frequenz 97,9 FM in Chiapas sendet: „Von irgendeinem Ort im Urwald, im Südosten Mexikos“, wie es die Senderansage immer wieder verkündet. „Denn uninformiert sein ist wie unbewaffnet sein – deshalb höre Radio Insurgente“. Am frühen Morgen wenn für die meisten chiapanekischen Indianer der Tag beginnt, tönt aus fast allen ärmlichen Hütten der zapatistische Sender, der nicht nur auf Spanisch, sondern vornehmlich in den zwei meistgesprochenen Maya-Sprachen sendet.

Ein Radio ist in dieser mexikanischen Region mit mehrheitlich indianischer Bevölkerung von unschätzbarem Wert. Aufgrund ihrer langjährigen Marginalisierung können etwa die Hälfte der Männer und rund zwei Drittel der Frauen nicht lesen und schreiben. Viele, vor allem die Frauen, sprechen ohnehin kaum oder nur schlechtes Spanisch. Doch auch spanischsprachige Sender sind in der Berglandschaft selten. Meist dreht man völlig im Leeren wenn man im Radio einen Sender sucht.

Neben mexikanischen Corridos und Boleros, revolutionären Liedern lateinamerikanischer Künstler und selbst eingespielten der zahlreichen Musikgruppen aus den zapatistischen Basisgemeinden sind im Radio auch mal die Beasty Boys, Rage against the machine und vor allem Manu Chao zu hören. Am Nachmittag werden ausführliche Nachrichtenblöcke gesendet. Lokale, nationale und internationale Meldungen, in genau dieser Reihenfolge. Und die Nachrichten werden gehört. Vor einigen Jahren fast undenkbar, finden sich heute in den Dorfgemeinschaften Herumstehende die über den Irak-Krieg diskutieren, vom US-Druck auf Kuba wissen und stolz auf das Radio verweisen.

In speziellen Aufrufen wenden sich die Radiomacherinnen, zum Großteil Frauen, an die indianische Landbevölkerung, Studenten und Studentinnen, Sympathisanten und Sympathisantinnen und immer wieder an die Frauen: „Hallo Frau! Träumst du von einer schönen Zukunft? Wir hier sagen dir du hast das Recht deinen Partner auszusuchen und niemand kann dich mit Gewalt zur Hochzeit zwingen. So legt es das „Revolutionäre Frauengesetz“ der EZLN fest.“ Das Gesetz wurde im Jahr vor dem Aufstand vom 1.1.1994 von den zapatistischen Frauen verabschiedet und besitzt seitdem im gesamten zapatistischen Territorium Gültigkeit. Mehrere sich abwechselnde Frauenstimmen erklären im Radio die einzelnen Rechte: „Du hast ein Recht darauf zur Schule zu gehen, dass dein Mann dich respektvoll behandelt, dich auszuruhen und zu vergnügen. Du hast ein Recht darauf von deinem Mann zu fordern, dass er dich in der Küche, mit der Wäsche und den Kindern unterstützt. Du hast das Recht deinem Mann „nein“ zu sagen, wenn du müde bist, dir schlecht ist oder du keine Lust hast. Du hast ein Recht darauf zu entscheiden wie viele Kinder du willst. Wenn du dich schützen willst, dann frage deine nächste lokale Verantwortliche für Gesundheit.“ Es folgt ein emphatischer Aufruf: „Frau! Es gibt viele Gründe stolz zu sein, weil du eine Frau bist. Unsere Würde als Frauen ist die gleiche wie die der Männer, verteidige sie!“ und im Anschluss ein revolutionäres Frauenlied, in dem die Frauen aufgefordert werden sich dem Kampf anzuschließen. Dabei treffen die Sängerinnen musikalisch nicht immer den richtigen Ton, doch die Botschaft kommt an, vor allem bei den Frauen.

Eine Männerstimme hingegen wendet sich regelmäßig an die männlichen Zuhörer und macht ihnen klar: „Genosse Bauer, denk immer daran, dass Frauen die gleichen Rechte haben wie du selbst. Sie haben das Recht als Personen respektiert zu werden. Wenn du eine Frau schlägst, begehst du ein Verbrechen. Wenn du eine Frau zwingst etwas zu tun, das sie nicht tun will, dann verweigerst du ihr die Achtung. Wenn du ein guter Mann und ein guter Ehemann sein willst, denke immer daran!“

Doch der Sender spricht nicht nur die eigenen Basis an, ganz im Gegenteil. Soldaten und Paramilitärs werden direkt angesprochen und zum Desertieren aufgefordert: „Soldat, der du aus dem Volk kommst, hör zu! Du bist genauso wie wir, genauso arm. Wenn du aufhörst Soldat zu sein, dann gewinnst du ein würdiges Leben. Hör auf gegen deine eigenen Leute zu kämpfen, gegen deine eigene Familie und deine Nachbarn. Lass dich nicht mehr von der Regierung für ein paar Krümel kaufen. Verweigere die Befehle einer Regierung, die nur den Reichen dient und die Armen ärmer werden lässt.“ Und das Programm scheint Erfolg zu haben. Zahlen über die Desertionen, die wohl nicht nur in Chiapas besonders hoch sind, veröffentlicht die mexikanische Armee ohnehin nicht. Aber aus zahlreichen wohlgesonnen Zuschriften von Soldaten an das Radio wird deutlich, wie viele von ihnen die Frequenz von Radio Insurgente eindrehen.

Ab dem 9. August, rechtzeitig zur Verkündung neuer Verwaltungsformen und einer umfassenderen Autonomie in den Gebieten der EZLN, sollte Radio Insurgente eigentlich wöchentlich mit einer „intergalaktischen“ Sendung auf den Äther. Auf der Frequenz 5,8 Megaherz im 49-Meter-Band (Kurzwelle auf dem Weltempfänger) sollten die Botschaften der Zapatisten auf dem ganzen Kontinent und bei günstigen Bedingungen auch in Europa zu sein. Doch die Störmanöver der Regierung sabotierten die Ausstrahlung der Premiere mit Subcomandante Marcos als „DJ und Sprecher“. Die Ausstrahlung erfolgte schließlich zwei Tage später. Ein Livestream findet sich auf Indymedia Chiapas (http://chiapas.mediosindependientes.org/). „Sie hören Radio Insurgente, die Stimme der Stimmlosen“ heißt es in der Ansage die gleich noch auf verschiedenen Maya-Sprachen, Englisch, Deutsch, Französisch, Portugiesisch, Baskisch und Katalanisch folgt.

Gut gelaunt und spitzfindig kommentierte Marcos in der ersten Sendung die von ihm ausgewählte Musik und die internationale Politik. Er grüßt die EZLN-Basis und die bewaffneten Verbände, spricht über Globalisierung und das kaltfeuchte Wetter in den Bergen von Chiapas, wo gerade tiefste Regenzeit herrscht. Dazwischen legt er immer wieder Cumbias auf und spielt auch einen Blues von BB King: „There must be a better world some where“.

Spenden: Nachrichtenpool Lateinamerika e.V., Konto Nummer 162 641 08, Postbank; Berlin, Bankleitzahl 100 100 10, Verwendungszweck: "Spende Radio Chiapas"

© links-netz September 2003