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Paris brennt nicht

Paris/St. Denis, am 8.11.05

Jens Badura

Entwarnung für all jene, die Frankreich im Brandkrieg sehen, Touristen vor dem Besuch der Tourismuswelthauptstadt meinen warnen zu müssen oder den landesweiten Ausnahmezustand herbeireden: In Paris und den allerweitesten Teilen der Provins merkt man eigentlich nichts von all dem, was in den Zeitungen steht und im Fernsehen gezeigt wird. Fast schon ist man geneigt, alles für eine hyperreale Inszenierung zu halten, die Teil der totalen, manischen präpräsidentiellen Imagekampagne des Innenministers ist – und diese Deutung macht zumindest vor dem Hintergrund beängstigenden Sinn, dass die Zustimmung des Wahlvolkes zu diesem machtgeilen Verbalterroristen immer noch im Steigen begriffen ist.

Ansonsten: In der Kapitale nichts neues. Die Autos fahren, die Metros fahren, Staatsdiener dienen, Angestellte sind angestellt, Unternehmer unternehmen, die Studenten studieren...

Nota bene: Paris hat die departementale Kennziffer 75. Und in 75 ist bislang so gut wie nichts passiert, denn die Stadt Paris (75) kennt nur wenige wirkliche Problemviertel. Es sind nicht ‘die Pariser Jugendlichen’, es brennt nicht ‘Paris’ – es sind die banlieue, abgewrackte Modernisierungsghettos, deren Bewohner keinen professionellen Grund und keine finanziellen Mittel haben, um nach Paris zu fahren – und sollte es dennoch Gründe geben, dort hinzuwollen – sich einfach dort zu zeigen – ja, da gibt es dann den ‘Plan Vigipirate’, der die Zugänge nach Paris systematisch mittels eines hochorganisierten, stationären Sicherheitsaufgebots unter Kontrolle hält und ‘Problemfälle’ (‘racailles’, wie man die ja heute in ministerialer Sprache zu nennen pflegt, welche per Hautfarbe, Autokennzeichen o.ä. zu erkennen sind) rechtzeitig ausfiltert und dorthin zurückschickt, wo sie hingehören – in ihr Ghetto oder gleich in den Knast. Damit man in Paris seinen Grand crème für 4.50 in Ruhe unter den von gigantischen Gaslampen beheizten Terrassen der Cafés auch wirklich genießen kann.

Verlässt man die Kapitale in Richtung des Département 93 – dem Département, wo die aktuellen Unruhen ihren Ausgangspunkt nahmen und ihren Höhepunkt fanden - so wie ich es auf dem Weg zu meiner Arbeitsstelle in St. Denis tue, kommt man bestenfalls über Umwege zu Zeugenaussagen – so etwa in der Universitätscafeteria der Banlieue-Uni Paris 8, wo die (natürlich schwarze) Verkäuferin klagt, dass der Postkasten in ihrem Wohnviertel heute Nacht angezündet wurde. Aber vielmehr ist auch hier, in diesem Quartier unbestreitbar défavorisé und stigmatisé (93 !) nicht zu merken.

So scheint die heute druckfrische Notstandsrhetorik des Premierministers, die Illumination des kulturellen Gedächtnisses an die glorreichen Revolten und die dramatischen Unruhen usw. eher befremdlich als plausibel – denn de facto ist das Geschehen genauso ghettoisiert wie diejenigen, die es in Gang gebracht haben. Für den ‘normalen’ Parisien wie auch den Bewohner der anderen großen Städte oder der Province im großen und ganzen jedenfalls besteht keine relevante Gefahr, Schaden zu nehmen. Wenn das aber so ist : warum dann die Aufregung, warum das hysterisch anmutende Beharren auf der angeblich in den Notstand geratenen Autorität der Staatsgewalt, die doch in der Strategie, das ‘Gesindel’ auszulagern, einen unstrittigen Erfolg errungen und dieses in eigenen Zonen untergebracht hat ? Sind die sicher der Autoindustrie und dem Baugewerbe zugute kommenden Unruhen nicht leicht kompensierbare Kollateralschäden einer konsequenten Politik der gesellschaftlichen Segmentierung, die sich leicht aus der Portokasse decken lassen?

Nun, vermutlich helfen solche polemischen Fragen nicht wirklich weiter. Interessanter scheint mir eine Analyse der symbolischen Dimension des Geschehens zu sein – eine Untersuchung der in Anschlag gebrachten Sprachspiele und Repräsentationsregime. In erster Linie sehen wir hier seit Tagen ein Spiel mit Zahlen: wer schafft am meisten Autos, eine Art reale Version ansonsten virtuell mediatisierten Zeitvertreibs. Statt Bildschirmen von Computerspielen sind es die Schlagzeilen der Zeitungen, die den aktuellen Score anzeigen – und Gewinner und Verlierer ermitteln und den Akteuren einen Charakter einschreiben wie die Autoren von Gewaltspielen den per playstation zu steuernden ‘Identitäten’.

Das mag latent zynisch klingen – doch das Ganze ist in erster Linie eine zynische Konstellation: Denn es geht im Kern darum, dass jene, die sich jeder Sprache entmächtigt fühlen, nun eher zufällig ein Ausdrucksmittel gefunden haben, um von ihrer Existenz Zeugnis abzulegen – aber im Prinzip nichts darüber hinaus zu sagen haben, weil sie das Ganze eher in einer Grammatik des (Gewalt-)Spiels denn als Kampf um eine bestimmt politische Option betreiben. ‘Wir zündeln, also sind wir’. Punkt. Es gibt keine konkreten Forderungen, keine klare Orientierung des Aufbegehrens – außer jener, gesehen, wahrgenommen zu werden, sich im Spiel die Zeit zu vertreiben.

Die Forderungen nach bestimmten politischen Optionen, die nun in den Medien auftauchen, sind nicht die dieser ‘mit dem Feuer spielenden’ Akteure, es sind die derjenigen, die den Akteuren meinen eine Sprache geben zu können oder deren Sprachlosigkeit für eigene Zwecke nutzen zu können. Diese Forderungen sind advokatorisch und/oder strategisch, sie übergehen so in tragischer Weise das hilflose Begehren der Aufbegehrenden, endlich selbst etwas sagen zu können. Tragisch eben, weil diese sprechen wollen, aber nichts zu sagen haben in der Sprache in der sie sprechen müssten, um als Sprechende ernst- ja überhaupt wahrgenommen zu werden. Für sie sprechen nun die Bürgermeister der Problemgemeinden, die Ruhe und Ordnung wollen, für sie sprechen die Dealer, die freie Hand haben wollen, für sie sprechen die Politiker, die sich als Herren der Lage profilieren wollen.

So ist eine Situation entstanden, in der es einen medialen Raum gibt, den die ‘Sprachlosen’ zwar geschaffen und so die Ghettogrenzen medial überwunden haben (ja, sie sind endlich ausgebrochen und aufgebrochen in das diskursive Territorium der Gesellschaft, deren Teil sie sind), den sie aber nun nicht ausfüllen können, um aus der Sichtbarkeit des Moments eine Vernehmbarkeit in der Sache zu machen – als die, die sie sind.

Daher muss man sich hüten, die Vernehmbarkeit der Ausgeschlossenen ihrerseits advokatorisch herstellen zu wollen. Jeder sollte FÜR SICH sprechen können. Dafür zu sorgen, dass dies möglich wird, scheint mir gegenwärtig wichtiger, als ‘der Politik’ zu sagen, wie man das ‘Problem der banlieus’ zu lösen hat. Die aktuellen Unruhen dürfen nicht zum Vehikel werden, um eigene politische Ziele unter dem Druck brennender Autos effizienter verfolgen zu können. Vielmehr sollten sie Anlass sein, darüber nachzudenken, wie jeder auf seine Weise dazu beitragen kann, dass alle etwas zu sagen haben.

© links-netz November 2005