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„Die beeinflussen die Augen“ – Jugendliche und Konsum(kritik)

Ellen Bareis

1.

Jugendliche und Konsumkritik – Dieser zweite Teil des Vortragstitels evozierte im Vorfeld auf verschiedenen Seiten den erstaunten Kommentar: Jugendliche und Konsumkritik -Gibt es das? Es herrscht sowohl in den Gesellschaftswissenschaften wie auch im Alltagsverstand ein weitgehender Konsens darüber, dass Jugendliche sich über weite Strecken qua Konsum definieren. Dass Jugendliche konsumkritisch sein könnten – und so verstanden einige den Vortragstitel – überrascht. Es geht in meinem Vortrag jedoch gar nicht um konsumgeile oder konsumkritische Jugendliche, also weder um die Erforschung der Verfallenheit der Jugend an den Konsum noch um das vielleicht doch vorhandene oder sich darin entwickelnde kritische Potenzial. Spezifizierungen oder Differenzierungen der Frage, ob Konsum (im Sinne einer Praxis) affirmativ oder kritisch sei, könnten etwa lauten: Welcher Konsum könnte kritisch sein? Welcher ist affirmativ? Auf Jugendliche bezogen könnte auch gefragt werden, welche Jugendlichen affirmativ und welche konsumkritisch sind. Aber auch auf diese Weise möchte ich mich dem Thema nicht nähern.

Anstatt nun die Unhöflichkeit weiterzutreiben und immer nur aufzuzählen, welche Fragen ich nicht bearbeitet, möchte ich nun kurz sagen, aus welchen Passagen der Vortrag besteht. Es folgen drei Abschnitte. Im ersten – etwas umfangreicheren – geht es um jugendliche Praxen in städtischen Einkaufszentren. Das Material, auf das ich mich beziehe, entstammt teilnehmender Beobachtung in zwei kernstädtischen Shoppingmalls und Interviews mit Mall- NutzerInnen. Die beiden Einkaufszentren, in denen die Feldforschung stattfand, sind – wie auch die Stadtviertel, in denen sie liegen – sehr unterschiedliche Räume, was ihre Struktur, ihre Repräsentationen und der in ihnen gelebte Alltag angeht. Während meine Beispiele im ersten Teil jedoch nur aus einem der beiden Einkaufszentren sind, spielen die Unterschiede im zweiten Abschnitt eine große Rolle. In ihm analysiere ich die Haltungen von Professionellen in lokalen Institutionen zu Jugendlichen und Konsumraum. Die Folie dafür sind die jeweiligen Akteursdreiecke rund um die beiden Malls: das Management, die Nutzungsweisen Jugendlicher und die pädagogischen Institutionen. Letztere finden – zwischen Verführung, Erfahrungsarmut, Freiraum und Aneignung – unterschiedliche Erklärungsmodelle für das Verhältnis von Jugend und Konsum und entwickeln dementsprechend unterschiedliche Strategien, auf die neue Situation im Quartier zu reagieren. Schließen werde ich mit einem kleinen Plädoyer.

2.

In Australien, den USA, Kanada und Großbritannien stellen alltägliche Praxen von Jugendlichen in Malls schon seit Jahrzehnten einen Gegenstand der Wissensproduktion dar. Das Wissensinteresse geht dabei einerseits von den Developern von Einkaufszentren und deren Management aus und richtet sich auf die Jugendlichen sowohl als Konsumentinnen wie auch als potenzielle Störquellen für das intendierte Ambiente. Die Wissensproduktion schließt jedoch auch 'Mallwork' (Streetwork in der Mall), Lokalpolitik, pädagogische und auch religiöse Ratgeberliteratur, die Medien, die Sozialwissenschaften und die Cultural Studies ein. Trotz dieser umfangreichen Quellen und Zugänge kam ich jedoch nicht zum Thema des heutigen Vortrags, weil ich mich besonders für Jugendliche interessiere. Mein Forschungsfeld sind vielmehr Einkaufszentren im städtischen Raum – und deren Bedeutung in der Transformation von Alltag, Reproduktion und Subjektivierungsweisen. Shoppingmalls stehen darin paradigmatisch für öffentlich zugängliche Orte, die jedoch in Privatbesitz sind und einem vereinheitlichten Centermanagement unterliegen. Verschwindet durch diese Formen der Privatisierung städtische Öffentlichkeit oder entstehen hier neue, anders definierte soziale Orte? Und was bedeutet dies für die alltäglichen Praxen und Vorstellungen?

Das Thema „Jugendliche“ drängte sich in diesem Kontext zwar nicht ausschließlich qua Empirie auf, aber durchaus auch: Man/frau kommt an jungen Menschen bei der Feldforschung im Einkaufszentrum – im körperlich-räumlichen Sinn sogar mehr als im metaphorischen Sinn – nicht vorbei. Anders als oft angenommen stellen die lokalen Konsum-, Vertrags- und Kontrollräume städtischer Shoppingmalls nicht zwangsläufig sozial entleerte, konfliktfreie und homogenisierte Räume dar. Sie können sowohl Anlass wie Austragungsort wie Projektionsfläche gesellschaftlicher Auseinandersetzungen sein. Und sie sind Aufenthaltsort und Treffpunkt für sehr viele auch junge Menschen. Auf gewisse Weise sind die beiden untersuchten Einkaufszentren auch Jugendzentren. Eine Einschränkung möchte ich an dieser Stelle noch machen: Da ich in meiner Untersuchung nicht von Personengruppen – wie etwa Jugendlichen – her auf den Gegenstand zu gehe, bzw. diese gar nicht mein Interessengegenstand sind, habe ich auch keinen Begriff von Jugendlichen oder gar von „Jugend“. Vermutlich brauche ich diesen auch nicht. Meine Begriffsebenen sind eher die von Raum, Alltag und Konsum. Im folgenden Abschnitt geht es also – in meiner Terminologie – um alltägliche Praxen von Jugendlichen im postfordistischen Konsumraum.

3.

Gerade bezüglich des Konsums ist es sinnvoll, sowohl handlungs- wie erkenntnistheoretische Überlegungen nicht auf die Frage nach Identität und Repräsentation eng zu führen. Arbeiten aus dem Feld der Cultural Studies führen oft urbane Praktiken Jugendlicher an, um zu zeigen, wie in postfordistischen Gesellschaften Konsum zur Stilbildung und damit zur Ausarbeitung einer Identität eingesetzt wird. Die Grundannahme dahinter ist, dass durch die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses und klarer familiärer Bindungen eine Lücke in der Identitätsbildung entstehe. Diese werde mittels Deutungs- und Umdeutungspraktiken im Akt des Konsums gefüllt. Das Symbolische wird auf diese Weise oft zum einzigen Ort des Widerstands. Soziale Konflikte gehen demnach um Bedeutungen und nicht mehr um Ressourcen – oder anders gesagt: Bedeutungen gelten implizit als die zentralen Ressourcen.

Eine andere Perspektive bietet die 1992 erschienene Studie von Kaspar Maase. Er untersuchte die Alltagskultur von Halbstarken in der Bundesrepublik der 1950er-Jahre. In dieser Zeit etablierte sich gerade im Nachkriegsdeutschland das Normalarbeitsverhältnis neu und die Autorität der Familie war noch kaum in Frage gestellt. Maase's Arbeit zufolge nutzten die Jugendlichen sowohl den ostentativen Gebrauch der fordistischen Massenkonsumgüter, wie auch die Eroberungen von öffentlichen Räumen wie Straßen und Plätze und „halb-öffentlichen“ wie etwa Eiscafés und Tanzlokale als Bearbeitungsstrategien. Anders als in der Interpretation durch die Cultural Studies ging es in diesem Prozess weniger um die Herstellung als um die Zurückweisung einer Identität. Die Halbstarken stellten sich – durch ihre Praxis – der sie als Arbeiterjugendliche identifizierenden und sie so auf eine soziale Position fixierenden Logik entgegen. Und sie forderten damit die etablierten Herrschafts- und Interaktionsordnungen heraus.

Der fordistische Massenkonsum trug demnach einerseits zu einer Öffnung des sozialen Raums und zu einer Freisetzung von Subjektivität bei. Andererseits ist spätestens seit Bourdieus Untersuchung zu den „feinen Unterschieden“ deutlich, dass über die Massenproduktion und -konsumption Subjektivitäten und Lebensstile in die Strukturierung von Klassen- und Herrschaftsverhältnissen eingegangen sind. Ich möchte an dieser Stelle Foucaults Kritik der Subjektivierung heran ziehen. Ihm zufolge lassen sich drei Formen von sozialen Kämpfen unterscheiden, die sich erstens gegen Herrschaft, zweitens gegen Ausbeutung und drittens gegen „die Formen der Subjektivierung“ richten. Das Hauptziel der Kämpfe gegen Subjektivierungsformen sind ihm zufolge „nicht so sehr der Angriff auf diese oder jene Machtinstitution (...), sondern vielmehr auf eine Technik, eine Form von Macht“. Diese Form produktiver Macht werde, so Foucault, „im unmittelbaren Alltagsleben spürbar, welches das Individuum in Kategorien einteilt, ihm seine Individualität aufprägt, es an seine Identität fesselt (...). Es ist eine Machtform, die aus Individuen Subjekte macht“.

Der 18-jährige Pit beschreibt im Interview sich, seine Clique und die Gropius Passagen retrospektiv auf folgende Weise:

Also früher bin ich hier ganz oft gewesen. Mit anderen Kumpels. Also da war ich anders als jetzt. Da war ich mehr oder weniger, wie soll ich sagen, ein Gangster. Also so einer der Reebokschuhe getragen hätte und alles drum und dran. Und (...) der leicht zu Gewalt neigt, würde ich sagen. (...) Wir waren hier, haben geguckt, wer hier so rum läuft und wenn uns einer nicht gefällt, also nicht gefallen hat, dann haben wir den mal angesprochen, also warum er denn hier rum läuft und so.“

Pit und seine Clique bewegten sich, als er 15,16 war – die Zeit, in der seine Schilderung spielt – innerhalb des Mallraums in einem Wechselspiel von Bild- und Raumangebot und Bild- und Raumnutzungen. Zu den Fragen der Symbolik von Gütern, wie den „richtigen“ Turnschuhen, tritt die Herausforderung der lokalen Interaktionsordnung hinzu. In der retrospektiven Erzählung Pits spielen Angriffe auf Mall-Passanten und handgreifliche Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Cliquen eine herausragende Rolle. Zugleich betont er, dass das Sicherheitspersonal des Einkaufszentrums für sie irrelevant gewesen sei, da es sich durchweg um ängstliche Bohnenstangen handle. Und über die Videoüberwachung macht er sich lustig, in dem er sagt: „Wahrscheinlich haben sie die so gut versteckt, dass sie selbst nichts sehen“. Pit und seine Clique nutzten die Mall als Straßenecke, die es ihnen zugleich ermöglichte, Raumansprüche zu demonstrieren und ein Publikum bot, das diese Demonstration als Zurückweisung einer Interaktionsforderung wahrnahm: Dieses Publikum waren einerseits die übrigen Mallbesucherinnen, andererseits die Sicherheitsbediensteten. Letztere dienen Pit zudem zur Aushandlung und Darstellung von Männlichkeit, wie die abwertende Bemerkung über die „Bohnenstangen“ zeigt. In der Erzählung Pit's zu Nutzungsweisen von Konsum und Konsumraum, finden sich jedoch nicht nur Strategien im Umgang mit Gütern und Räumen, sondern auch Strategiewechsel. Es findet eine – in diesem Fall biographische – Transformation der Bedeutung von Konsum und von Konsumraum statt. Und es finden sich neue Strategien. Pit beschreibt sich als inzwischen ganz „anders“. Der Hintergrund dieser Äußerung wird im Verlauf des Interviews deutlich: Er hat mittlerweile die Schule abgeschlossen und versucht gerade, einen Platz auf einer Tontechnikerschule zu bekommen. Vordergründig hat der Raum des Einkaufszentrums für ihn keine Relevanz mehr. Die Vorstellung des sozialen Aufstiegs (oder der sozialen Stabilisierung) durch Bildung (Wacquant) tritt zur zuvor gepflegten „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ (Franck) hinzu, für die der Mallraum eine große Bedeutung hatte. Dennoch findet Pit im Konsum und im Konsumraum weiterhin eine Distinktionsmöglichkeit, die sich in diesem Fall gegen das Einkaufszentrum als Aufenthaltsort richtet: Soweit er es sich überhaupt leisten kann, kauft er in Second-Hand-Läden ein, die es in der Mall nicht gibt. Die Shoppingmall spielt dagegen als Aufenthaltsort nun eine ganz andere Rolle in seinem Alltag: Zur Interimsfinanzierung zwischen Schule und Studium jobbt Pit in einem der dortigen Supermärkte in der Gemüseabteilung.

Die zentrale Doppelrolle, die Konsum spätestens seit der Durchsetzung der fordistischen Gesellschaftsformation in den sozialen Konflikten einnimmt, ist ein Grund für die Schwierigkeit, Konsum als sozialwissenschaftliche Kategorie zu systematisieren. Dabei eher hinderlich sind die in der Einführung erwähnten – und auch als moralisierend zu interpretierenden – Wertungen von Konsumpraktiken als entweder entfremdend oder befreiend. Vielmehr ist Konsumption sowohl als eine strukturelle, wie eine praxeologische, wie eine diskursive und (im Althusserschen Sinn) auch ideologische Kategorie zu begreifen. Geschieht eine Analyse des Konsums nur auf der Ebene der gesellschaftlichen Struktur, bleibt diese oft „hohl“. Die handelnden Subjekte bleiben „blass“ und wirken dem Prozess der „Regierungsintensivierung“ (Foucault 1992) wie ausgeliefert. Die handlungstheoretischen Fragen lassen sich wiederum nur empirisch bearbeiten und bleiben daher oft analytisch stecken oder verlieren ihren kritischen Gehalt in die Affirmation. Zusammen genommen heißt dies, dass es eher darum gehen müsste, die Dichotomie von Struktur und Handlung erkenntnistheoretisch wie auch empirisch aufzubrechen. Diese Dichotomie bleibt auch dann aufrechterhalten, wenn Konsum wahlweise dem Feld des Textes, des Diskurses, der Ökonomie oder der Kultur zugeschlagen wird.

Durch eine Reformulierung des Bourdieuschen Habituskonzepts oder eine spezifische Interpretation von Lefebvres Epistemologie wäre es denkbar, Konsumption zu einem Zwischenbegriff oder zum Scharnier zwischen Struktur und Handlung zu erklären. Dies führt jedoch auch nicht weiter, da beiden Ansätzen eine Analyse der Produktion gesellschaftlicher Kohärenz bei gleichzeitiger Widersprüchlichkeit der Struktur zugrunde liegt. Anders als in der historischen Phase des Fordismus, in der die beiden Ansätze entstanden, sind derartig stabilisierende Faktoren hinsichtlich der aktuellen gesellschaftlichen Situation nicht eindeutig bestimmbar. Es muss also derzeit bezogen auf Konsum weniger um die Neuentdeckung eines Kohärenzmodells und die spezifische Funktion der Konsumption darin gehen. Vielmehr sollte eine Analyse der Bedeutung von Konsum durch die divergierenden Felder hindurch im Mittelpunkt stehen.

In dem Interview mit Pit taucht auch sein Verhältnis zur Kontrollpolitik des Mallmanagements auf, sowie die Funktion, welche die Sicherheitsangestellten in seiner Selbstpräsentation einnehmen. Rebecca und Katja, 12-jährige Mädchen präsentierten sich im Gegensatz zu Pit während des Interviews als extrem brav. Sie beschreiben ihre regelmäßigen Gänge durch die Einzelhandelsgeschäfte und ihre Kompetenz im Umgang mit Waren und Preisen. Und sie lieben, wie sie sagen, das Ambiente der Weihnachtsbeleuchtung in der Mall. Ihre Erzählung kann aber auch so interpretiert werden, dass es sich um das in ihren Augen für ihr Alter, Geschlecht und den konkreten Ort angemessene Verhalten handelt, das sie der erwachsenen Interviewerin schildern. Wie das nächste Zitat zeigt, existieren in ihrer Schilderung durchaus Praxen im Einkaufszentrum wie jene, auf Bänken rum zu sitzen, Leute zu treffen, abzuhängen und rumzublödeln. Sie teilen aber bereits in der Schilderung dieser Handlungsweisen erstens bereits mit, dass sie damit nichts zu tun hätten. Zweitens gebe es ja auch Kontrolle und Ausschluss in der Mall. Eine Erzählung, die bei Pit nicht auftaucht. Ihre Mitteilung besteht im Grunde darin, dass die Interviewerin sich keine Sorgen machen muss, wenn sie sich regelmäßig in den Gropius Passagen aufhalten:

Katja: Ja, also, die Jugendlichen, meist immer auch die Jungs, die hier Blödsinn bauen, wie, was weiß ich, irgendwas umschmeißen, oder sich daneben benehmen, wo man schon sagt, „Oh Gott, mit denen geh ich nirgends wo mehr hin“ und die dann Hausverbot kriegen, aber .. mach ich mir nichts draus. (...)
Rebecca: Also einer aus der Nebenklasse, der ist rausgeflogen, und, also erst mal für 'ne Woche, dann kam er noch mal rein, hat sich nicht dran gehalten und wurde er für einen ganzen Monat erst mal, musste er raus.
Katja: Vesna hat auch Hausverbot, oder?
Rebecca: Ne, nur Tchan.
Und ihr findet es soweit o.k., dass es dann Hausverbot gibt?
Rebecca: Ja, sollen sie sich besser benehmen.

In dieser Passage nutzen die Mädchen die Praxis des Centermanagements, Hausverbote zu erteilen: Sie legitimieren damit ihren eigenen Aufenthalt in der Mall. Ihre Argumentationslogik orientiert sich dabei eher an ihren Erfahrungen mit schulischen als mit städtisch-öffentlichen Räumen. Die Sicherheitsangestellten wirken in ihrer Schilderung wie die Hofaufsicht in der Schulpause, das Hausverbot wie ein Schulverweis. Ihre Vergleichsebene ist also weniger jene von öffentlich und privat in einem juridisch-räumlichen Sinn, sondern sie scheinen ihre Erfahrungen innerhalb von Institutionen wie Schule oder Schwimmbad heranzuziehen. Der Satz „sollen sie sich besser benehmen“ zeigt aber auch an, dass es zwischen Schule und Schwimmbad (oder eben Einkaufszentrum) einen grundlegenden Unterschied gibt: Während der Schulbesuch eine staatliche Pflicht ist, ist der Besuch in letzteren freiwillig. Und es ist Sache der Einzelnen, ob sie sich der dort geltenden Hausordnung unterwerfen und ihnen dann die Nutzung erlaubt ist. Oder ob sie sich konflikthaft zu den lokalen Regeln stellen – und damit der Rauswurf erlaubt ist.

Rebecca und Katja scheinen sich den durch das Hausrecht definierten lokalen Regeln in den Gropius Passagen widerspruchsfrei zu fügen. Sie sehen diese nicht als soziale Kompromissbildungen, sondern als naturgegeben. Zugleich ist ihre Haltung zum Hausrecht nicht einfach identifikatorisch sondern instrumentell, indem sie es zur Beruhigung der erziehungsberechtigten Erwachsenen nutzen, die ihnen ebenfalls die Mallaufenthalte gestatten oder verbieten können. Dies gründet vermutlich auch darin, dass der Ort Gropius Passagen außer einem lokalen Kontroll- und Machtraum unter „Mikro-Management“ für die beiden Mädchen auch ein Ort der informellen Kontrolle durch persönliche Beziehungen ist. Katja's Tante arbeitet in einem der Eiscafés und sowohl „alle“ Mitschüler wie auch viele Lehrerinnen kommen regelmäßig hierher. Für sie ist das Einkaufszentrum kein Nicht-Ort im Sinne Marc Augé's, sondern ein Schnittpunkt ausdifferenzierter Macht- und Herrschaftsbeziehungen, die im Alltag zu bearbeiten sind. Da die Gropius Passagen recht großflächig und verwinkelt sind, gibt es aber auch Chancen auf Anonymität. Und bezogen auf die informelle Kontrolle gibt es auch Chancen zu klandestinem Handeln in einzelnen Situationen. Im Sinne einer Konfliktvermeidungsstrategie nutzen Rebecca und Katja genau diesen Doppelcharakter dafür, ihre Aufenthalte in der Mall gegenüber sich sorgenden, kontrollierenden Erwachsenen zu legitimieren – und sich zugleich Raum für nicht von ihnen beobachtete Situationen zu schaffen.

4.

Beide Interviews – das mit Pit und das mit Katja und Rebecca – entstanden, wie bereits erwähnt, in den Gropius Passagen, der größten Shoppingmall Berlins. Sie liegt im Süden von Neukölln in der 60er-Jahre Großwohnsiedlung Gropiusstadt. Die Erzählungen von Jugendlichen aus dem zweiten Einkaufszentrum, in dem ich Feldforschung unternahm, sind zum Teil etwas anders gelagert. Diese Mall ist bedeutend kleiner und sie liegt in einem Altstadtquartier in Hamburg mit linken, alternativen und migrantischen Kiezstrukturen. Das Viertel steht zudem unter hohem Gentrifizierungsdruck. Es entscheiden sich also auch die alltäglichen Nutzungsweisen der beiden Einkaufszentren. Einen Vergleich zwischen den beiden Einrichtungen und Quartieren werde ich heute jedoch im nun folgenden Abschnitt machen: Hier geht es um die lokalen Bedingungen, die Politik des jeweiligen Centermanagements und die Einstellungen der Professionellen in den jeweiligen Stadtvierteln zu ihrem neuem Nachbarn Shoppingmall. Anhand folgender Fragen werde ich dies verfolgen und jeweils kurz anreißen: 1. Die Frage der Einschränkung oder Erweiterung dessen, was als Öffentlichkeit bezeichnet werden könnte. 2. Konflikte, Kooperationen und Konkurrenzen zwischen lokalen Institutionen und den Betreibern der Einkaufszentren in Hinblick auf Jugendliche. 3. Wie erklären sich die jeweiligen Professionellen, dass so viele Jugendliche des Quartiers in die Mall gehen und wie sehen sie das Verhältnis zwischen Einkaufszentrum und Stadtteil?

Beide Einkaufszentren werden von einem großen Teil der Quartiersbevölkerung und besonders der Jugendlichen regelmäßig genutzt. Nicht wenige halten sich täglich dort auf. Für die Kinder- und Jugendeinrichtungen bedeutet dies, dass dort erstens eine Menge Menschen aus dem Stadtteil anzutreffen sind, die als „Öffentlichkeit“ für Infotische und Veranstaltungen interessant sind. Zweitens begegnet ihnen die Mall in den alltäglichen Erzählungen der Jugendlichen und viele von ihnen wechseln ständig zwischen dem Raum des Einkaufszentrums und dem der Einrichtung hin und her. In beiden Stadtvierteln gab es verschiedene Kooperationsversuche, die jedoch einen sehr unterschiedlichen Ausgang nahmen.

In der Gropiusstadt haben einige Institutionen, wie die Ev. Gemeinde, diese Versuche inzwischen vollständig aufgegeben, da sie sich dem – von ihnen so erfahrenen – Diktum des Managements nicht fügen wollen. Nach mehreren Erfahrung des Scheiterns an Konflikten sind für sie die Mall und die Gemeinde zwei klar getrennte Welten. Und es ist auch klar, dass sie das Einkaufszentrum nicht als sozialen Ort sehen, sondern als einen der Verführung und der Illusion des Sozialen oder der Öffentlichkeit. Diese Ansicht teilen auch jene die Institutionen in der Gropiusstadt, die – wie zum Beispiel eine offene Kindereinrichtung – an verschiedenen Punkten mit dem Center kooperieren. Etwa, wenn Aufführungen der Kindertheatergruppe oder andere Präsentationen im Mallforum möglich sind. Alle Institutionen im Quartier haben jedoch das Problem, dass es nahezu unmöglich ist, im Center Plakate auszuhängen oder Infozettel zu verteilen. Ein Vertreter der Kirchengemeinde fasst es so zusammen: „Was sich geändert hat? Das ist einfach eine unerfreuliche Nachbarschaft. Beitrag zum Thema Öffentlichkeit. Mh.“ In der Gropiusstadt sind die Beziehungen zwischen dem Centermanagement und den Professionellen fast ausschließlich konkurrierend. Diese Haltung formuliert sich in unterschiedlichen Variationen und lässt sich ungefähr so auf den Punkt bringen: Sind die Jugendlichen oder Kinder hier in der Einrichtung ist es besser, als wenn sie sich dort drüben herum treiben. Es ist eine Art lokaler Konflikt um die Einschaltquoten (Bsp. Laternenumzug, Süßigkeiten).

Die Situation stellt sich in Hamburg- Ottensen gerade zu konträr dar. Die Jugendlichen halten sich – nach Beschreibung der dortigen Professionellen – an den verschiedenen Orten des Quartiers auf, die für sie alle relevante Treffpunkte sind. Dazu gehört neben den Plätzen und offenen Jugendeinrichtungen eben ganz zentral auch das Mercado. Und das sei absolut verständlich. Es sei eben ein angenehmer Ort, es seien immer viele Menschen da und im Winter sei es warm. Eine Sozialarbeiterin, die für den offenen Jugendtreff und die Medienprojektarbeit zuständig ist, erklärt, dass sie im Mercado regelmäßig Szenen für ihre Videofilme drehen. Es sei einer der Lieblingsorte der Jugendlichen und daher sei das für sie klar. Das Management und die Sicherheits- und Serviceangestellten seien zudem immer sehr kooperativ. Von einer Distinktion gegenüber dem Einkaufszentrum ist bei fast keinem Professionellen etwas zu spüren. Die mit Jugendlichen arbeitenden sehen das Mercado als Erweiterung der Möglichkeiten für Öffentlichkeitsarbeit. Als Ort für Infotische – oder auch für Spaßcastings im Rahmen der Medienprojekte – ist das Mercado in den Augen der Professionellen geradezu ideal. Dort seien einfach sehr viele Jugendliche zu erreichen. Einen Grund für Konkurrenzen sehen sie gar nicht, da ihre Schwerpunkte schließlich auf ganz anderen Feldern lägen und diese sich eher sehr gut ergänzten.

In beiden Quartieren gibt es also Kooperationen oder gab es zumindest Kooperationsversuche. Und in beiden betonen die Professionellen die unterschiedlichen Felder, auf denen sie stark sind, und wo die Shoppingmall nicht mithalten kann. Dennoch haben in der Gropiusstadt die benachbarten Institutionen das Gefühl, gegen das Einkaufszentrum nicht anzukommen. Vom Sog ist die Rede, vom Magneten und vom Konsumtempel mit seiner Ersatzreligion. Die Professionellen erklären sich die Anziehungskraft der Gropius Passagen über Verführung, Langeweile und den Verlust traditioneller Werte. Sie sagen zugleich, dass sie es eigentlich einfach nicht wissen und nicht nachvollziehen können, was die Attraktion der Mall für die Menschen ausmacht. In den Experteninterviews aus der Gropiusstadt spielt dementsprechend der Unterschied zwischen drinnen und draußen – also im Inneren des Centrums und außerhalb des Centrums – eine permanente Rolle.

In Hamburg- Ottensen verschwimmt dagegen der Unterschied zwischen drinnen und draußen in den Expertengesprächen fast vollständig. Das Mercado wird als Teil des Quartiers gesehen; wie die Straße davor, der Kemal-Altun-Platz oder das soziokulturelle Zentrum Die MOTTE. In diesem Geflecht hat, dem Diskurs der Professionellen zufolge, das Mercado eine bestimmte Funktion – andere Einrichtungen oder Orte haben andere Funktionen. Das Verhältnis zwischen den Institutionen und dem Centermanagement beschreiben sie als eines „unter gleichen“. Gemeinsam betreibe man Stadtteilpolitik und plane Projekte. Während also das Mercado als Teil der Stadtteilkultur oder auch der Community begriffen wird, bleibt das Verhältnis aller Institutionen zu den Gropius Passagen distanziert-vorsichtig.

Dies zeigt sich auch darin, welche negativen Auswirkungen auf das jeweilige Quartier die Professionellen den Einkaufszentren jeweils attestieren. Die Gropius Passagen bringen ihnen zufolge Müll, Lärm und nächtliche Grölereien in das ansonsten beschauliche Stadtviertel. Jugendliche tränken Bier auf der Straße, bevor sie in die dortige Disco gingen, würfen die Dosen ins Gebüsch, veranstalteten nachts Autorennen auf der Straße und in den Parkhäusern. Dies alles spielt in Hamburg- Ottensen keine Rolle. Aufgrund des Gentrifizierungsdrucks ist hier eher die Frage, ob dieser durch die Eröffnung des Mercados ausgelöst oder beschleunigt wurde. Und auch an dieser Stelle bleiben die Kommentare der dortigen Expertinnen zurückhaltend: die Mall sei sicherlich ein Teil dieser Entwicklung aber nicht die Ursache dafür.

Ein wichtiger Grund dafür, wie diese Differenzen zustande kommen, ist die lokal äußerst unterschiedliche Geschichte, soziale Struktur und auch Konfliktkultur. (Ich werde diese Punkte hier nicht weiter ausführen, kann aber gerne in der Diskussion noch etwas dazu sagen.) Ein weiterer Grund ist die jeweilige Politik des Centermanagements bezüglich sozialer Nähe oder Ferne zum Stadtteil. Dies schlägt sich nicht nur im konkreten Verhältnis nieder, sondern auch in der Art und Weise, wie die Professionellen über die Centermanager sprechen. Während der Manager des Mercado in allen Expertinnengesprächen beim Namen genannt wurde – in einigen Fällen sogar beim Vornamen, redeten die Professionellen in der Gropiusstadt vom Centermanager fast ausschließlich als „er“.

5.

In den Interviews mit den Jugendlichen spielen die Unterschiede zwischen privat und öffentlich in Bezug auf städtische Räume keine große Rolle. Obwohl sie die Bewegungsmuster durch die Stadt und die Nutzungsmuster der städtischen Räume prägen. Auch wenn niemand von ihnen durch die Stadt geht und sich permanent fragt: Bewege ich mich jetzt gerade auf privatem oder auf öffentlichem Gelände? Und welche Implikationen hat das?, bedeutet dies jedoch nicht, dass ihnen die jeweiligen Regeln nicht klar sind. Ihre Selbstverständlichkeit – sowie die Möglichkeit sie zu ignorieren oder zu überschreiten – stellt sich in der Alltäglichkeit her. In den Gesprächen mit Schlüsselpersonen aus den Stadtvierteln, zeigt sich dagegen eine große Diskrepanz an diesem Punkt. Für jene in der Gropiusstadt ist die Artikulation dieses Unterschied immens wichtig, für jene aus Hamburg-Ottensen verschwindet sie nahezu. An dieser Stelle ist es nicht bedeutsam, eine Haltung für richtiger, fortschrittlicher oder kritischer zu definieren als die andere. Erklärungsmöglichkeiten für Differenzen finden sich, wie schon angemerkt, in der jeweiligen Geschichte und den Strukturen der Quartiere. Mir kommt es hier eher auf folgendes an: In ihrer Gegensätzlichkeit zeigen die beiden Beispiele, dass auch so durchmanagerisierte und –ökonomisierte Orte, wie städtische Einkaufszentren, den lokalen Dynamiken und sozialen Konflikten nicht enthoben sind. Die stark ausgeprägten Distinktionsbemühungen sowohl von Gesellschaftswissenschaftlerinnen wie auch von Bewegungslinken führen leicht dazu, relevante städtische Orte – in diesem Fall Einkaufszentren – aus dem Auge zu verlieren oder sie aus dem Horizont des Ernstzunehmenden („to take serious“) auszublenden. Demgegenüber gilt es vielmehr, nicht nur bezüglich Einkaufszentren sondern auch weiter gefasst gegenüber der aktuellen urbanen Dynamik von Privatisierung, Fragmentierung, Insularisierung und Homogenisierung: diese im Kontext von sozialen Auseinandersetzungen zu sehen und sie als solche zu führen.

© links-netz März 2004