Home Archiv Links Intern Editorial Impressum
 
 
Neue Texte
 

Schwerpunkte

Sozialpolitik als Infrastruktur
Ende der Demokratie?
 

Rubriken

Deutsche Zustände
Neoliberalismus und Protest
Bildung
Krieg und Frieden
Biomacht und Gesundheit
Kulturindustrie
Theorie: Empire, Kommunismus und andere Angebote
Rezensionen
 
 

Anzeige

Neoliberalismus und Protest Übersicht

 

  Text in eigenem Fenster anzeigen    rtf-Datei herunterladen 

EU-Verfassung: Zentrum gegen Peripherie?

Joachim Becker

Im Dezember 2003 vermochten sich die europäischen Regierungen nicht auf eine Verfassung zu einigen. Wichtigster Stein des Anstoßes war die Stimmverteilung im Europäischen Rat. Hauptprotagonisten des Konfliktes waren auf der einen Seite die Regierungen Deutschlands und Frankreichs auf der anderen Seite jene Spaniens und Polens. Damit wiederholte sich die Konstellation aus den Zeiten des Irak-Krieges. Damals pochten die Regierungen in Berlin und Paris auf eine multilaterale und nicht-militärische Lösung, während sich die Regierungen Aznar und Miller – abgesehen von Großbritannien – als Washingtons europäische Hauptverbündete profilierten. Dies lässt darauf schließen, dass eine Interpretation, die das – zumindest vorläufige – Scheitern des Verfassungsprojektes auf nationale Egoismen und eine unfähige Verhandlungsführung der italienischen EU-Präsidentschaft zurückführt, zu kurz greift. Vielmehr sind die Streitigkeiten Ausdruck divergierender Vorstellungen über die Weiterentwicklung der EU, die sich primär, wenngleich nicht ausschließlich, entlang der Linie zwischen Zentrum und Peripherie scheiden.

Das Verfassungsprojekt

Das Projekt einer EU-Verfassung sollte aus Sicht seiner Initiatoren vor allem drei Zielen dienen. Erstens sollte es eine „ultraliberale“ Gesellschaftsordnung in „Marmor meißeln“ (Cassen 2004: 7). Dies wird an der weitgefassten Verankerung von liberalen Rechten, wie dem Recht auf Unternehmertätigkeit und Eigentum (Art. II-16 und II-17), der weitgehenden Absenz bzw. engen Definition sozialer Rechte (z.B. nur das Recht auf kostenlose Pflichtschulbildung, Art. II-14) und dem ausführlichen liberalen Zielsetzungskatalog im Teil III des Verfassungstextes mit dem „Primat der ‚freien und unverzerrten Konkurrenz‘„ (Cassen 2004: 7, sh. auch Návrh 2003a und 2003b) deutlich. Eine Abänderung der Verfassung wäre nur bei Zustimmung aller Mitgliedsstaaten möglich – also so gut wie unmöglich. Zweitens sollte das Verfassungsprojekt die Institutionen der EU, die noch auf eine geringe Mitgliederzahl zugeschnitten sind, für die vergrößerte Mitgliedschaft handlungs- und weiterentwicklungsfähig machen. Diesem Ziel dienten unter anderem der Verzicht auf eine rotierende Präsidentschaft und ihre Ersetzung durch die Einrichtung eines Ratspräsidenten für zweieinhalb Jahre, die Begrenzung der Zahl der Kommissare auf 15 und eine Neugewichtung der Stimmen im Rat bei Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit. Auch die Möglichkeit einer „verstärken Zusammenarbeit“ einer bestimmten Gruppe von Ländern in einzelnen Bereichen wurde, mit relativ hohen Hürden, vorgesehen. Das institutionelle Grunddesign wurde hingegen nicht geändert. Das heißt, dass die Kommission mit ihrer äußerst schwachen Legitimitation, weiterhin das Vorschlagsrecht für die Rechtsakte hat, diese umsetzt bzw. deren Umsetzung überwacht und damit eine äußerst starke Position hat. Die Position des Europaparlament wurde im Verfassungsentwurf etwas gestärkt. Der Rat, in dem die Regierungen vertreten sind, behielte eine äußerst wichtige Rolle bei der Gesetzgebung. Damit gäbe es weiterhin keine wirkliche Gewaltenteilung in der EU und die Entscheidungen blieben stark exekutivlastig. Diese Konstellation stärkt den Einfluss kleiner Lobbygruppen, ist aber ungünstig für Großorganisationen wie beispielsweise Gewerkschaften. Die Legitimitätserhöhung, das dritte Ziel, setzte mithin auch nicht bei einer Demokratisierung der EU-Institutionen, sondern bei einer Verbreiterung des Verfassungsgebungsprozesses an. Dieser sollte nicht mehr, wie bislang bei der EU-Vertragserarbeitung, ein Vorrecht der Regierungskonferenz bleiben, sondern transparenter durch einen Konvent erarbeitet werden. Dieser wurde von verschiedenen nationalen und EU-Gremien beschickt, aber nicht gewählt. Damit blieb er hinter den demokratischen Anforderungen zurück, die an einen Verfassungsgebungsprozess eigentlich gestellt werden müssten (Cassen 2004: 7).

Obwohl alle Regierungen im Konvent durch Delegierte vertreten waren und ihre Vertreter dem Entwurf des Konventes zugestimmt hatten, brachten einige Regierungen im nachhinein Einwände gegen den Verfassungsentwurf vor. Diese richteten sich nicht gegen dessen ultraliberale Inhalte, sondern vor allem gegen die Zusammensetzung der Kommission und die Stimmverteilung im Rat, aber auch die Ausdehnung der qualifizierten Mehrheit zu Lasten der Einstimmigkeit auf neue Bereiche wie Soziales und Steuern (Crum 2003). Damit ging es sowohl um die Frage der auch symbolischen Stärkung des supranationalen Charakters der EU, wie sie im Verzicht auf eine Repräsentanz aller Länder in der Kommission zum Ausdruck kommt, als auch um die konkreten Einfluss- und Blockademöglichkeiten in den EU-Institutionen, speziell im Rat, aber mittelbar auch in der Kommission.

Den Regierungen der Zentrumsgruppe, die um Deutschland und Frankreich gruppiert sind, geht es um die Konsolidierung der EU als einer autonomen Kraft. Dies impliziert eine Stärkung der supranationalen Elemente der europäischen Staatlichkeit und die Installierung entscheidungsfähiger Mechanismen. Dies bedeutet auch die Fortentwicklung gemeinsamer europäischer Rechtsnormen zumindest in einigen Teilsbereichen. Hingegen haben sich die Regierungen der Peripheriegruppe, die von Spanien und Polen angeführt werden, außenpolitisch eng an die USA gebunden. So hoffen sie ihre relativ schwache Position im europäischen Konzert zu stärken. Gleichzeitig haben sie sich für ein Modell der abhängigen Entwicklung entschieden. Transnationales Kapital ist als Motor der Entwicklung ausersehen. Dieses hoffen sie durch die Absenkung steuerlicher, sozialer und ökologischer Normen anzuziehen. Daher geht ihnen die gemeinsame europäische Normsetzung in einigen Bereichen bereits zu weit. Sie wollen möglichst große nationale Spielräume zu Absenkung von Standards (Becker 2003b).

Auf dem Weg zur abhängigen Entwicklung

Nicht alle osteuropäischen Länder haben sich unmittelbar nach 1989 für einen Weg der abhängigen Entwicklung entschieden. Zunächst schlugen diesen Weg mit besonderer Konsequenz jene Staaten, wie Polen und Ungarn, ein, die aus staatssozialistischen Zeiten eine hohe Auslandsschuld ererbt hatten. Ihre Entwicklung wurde durch die Verhandlungen mit den internationalen Finanzinstitutionen und den Gläubigern konditioniert (Bohle 2002: 117 ff.). Gleichzeitig hatten sich hier schon in den 80er stärkere Ansätze einer entstehenden Kapitalistenklasse herausbilden können, die sich in Ungarn und Polen (mit gewissen Variationen je nach Zusammensetzung der Regierung) mit einer untergeordneten Position im „Prozess der ursprünglichen Akkumulation“ zufrieden geben musste. Nutznießer der Privatisierung waren hier vor allem transnationale Konzerne. Mertlík (1999: 204) unterstreicht, „dass der Hauptcharakterzug des ungarischen Modells der Verteilung von Eigentumsrechten die mangelnde Autonomie der Unternehmenssphäre (...) oder der hohe Grad der Abhängigkeit der nationalen Ökonomie von Entscheidungsprozessen ist, die außerhalb stattfinden.“

Hingegen gab es in einigen Staaten, wie die Slowakei, Jugoslawien und Rumänien (sh. Hofbauer 2003: 71) sowie subtiler in der Tschechischen Republik und in Slowenien, auch Versuche eine einheimische Bourgeoisie heranzubilden. Konzeptionell unterschieden diese Versuche sich beträchtlich. In der Slowakei wurde vor allem der Weg des Direktverkaufs von Unternehmen an Gruppen im Umfeld der regierenden HZDS (Hnutie za demokratické Slovensko) gewählt, während in der Tschechischen Republik die nationalen Kapitalgruppen um die weiterhin staatlichen Finanzgruppen aufgebaut werden sollten (Žiak 1998: Kap. 3, Kubín 2002: 107 ff., Mertlík 1999: 205 ff.). In diesen Ländern war die Politik auch stärker auf die Bildung eines relativ breiten, materiell unterfütterten Konsenses als in Ungarn oder Polen ausgerichtet. Die sozialen Transformationsfolgen wurden durch die Bewahrung eines relativen hohen Beschäftigungsstandes (Tschechische Republik), die Bereitstellung billiger öffentlicher Dienstleistungen (Slowakei) sowie durch sozialpolitische Maßnahmen abgefedert. Sowohl in der Tschechischen Republik als auch in der Slowakei wurden Elemente einer neokorporatistischen Konzertierung etabliert.

Relativ bald orientierten sich fast alle osteuropäischen Regierungen – mit Ausnahme Jugoslawiens und mit einer großen Ambivalenz im Fall der HZDS-Regierung der Slowakei – auf eine EU-Integration. Sie erwarteten sich hiervon den Anschluss an eine Zone der Prosperität, im Fall der akzentuiert EU-orientierten politischen Parteien und Wirtschaftsgruppen auch eine Stärkung ihrer Position gegenüber ihren national(istisch)en Konkurrenten. Eine Diskussion über die wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen einer „untergeordneten Integration“ fand kaum statt. Nur wenige Stimmen, wie Karol Modzelewski (2003: 158 ff.), mahnten Lehren aus den Konsequenzen der DDR-Integration in BRD und EU (rapide Deindustrialisierung und hohe Arbeitslosigkeit) zu ziehen und auf die Gewährleistung von Entscheidungsautonomie im Integrationsprozess zu achten.

Der Klassenbildungsprozess in den osteuropäischen Ländern war fließend, ihre institutionelle Struktur ungefestigt. Das ermöglichte relativ kleinen, strategisch geschickt agierenden Gruppen maßgeblichen Einfluss auf die Transformationsstrategie zu nehmen. Das gilt im Meinungsbildungsprozess wie in der unmittelbaren Beeinflussung staatlicher Entscheidungen speziell für Think Tanks. Diese erhielten ihre Finanzierung überwiegend aus dem Ausland (USA, BRD-Parteistiftungen, EU). Der westliche Einfluss beschränkte sich aber nicht auf die Finanzierung. So konstatiert der tschechische Analytiker Jiři Schneider (2003: 43): „Die bestehenden Think-Tanks in Osteuropa sind eher Instrumente zur institutionelle Unterstützung der Übertragung bestimmter öffentlicher Politik (policy transfer) und des sich entwickelnden Regierungssystems als autonomer Elemente verschiedener Phasen des Politikzyklus. Krastev spricht daher wörtlich von Imitierung (politics of imitation).“ Die Vorbilder waren und sind liberal, wenngleich mit unterschiedlichen Schattierungen. US-Stiftungen propagierten eher den „American way of life“ mit den angelsächsischen Organisations- und Denkmustern, während deutsche Parteistiftungen noch Reste wettbewerbskorporatistischer Vorstellungen und Konzertierungsmuster transportierten. Für die sich entwickelnde Fraktion osteuropäischer ultraliberaler Europaskeptiker war (und ist) der Autoritärliberalismus US-amerikanischer Prägung leuchtendes Vorbild. Enthemmter Wettbewerb und patriarchalische Familie sind ihre gesellschaftlichen Leitbilder

Die EU und die USA konkurrierten nicht nur um „zivilgesellschaftliche“ Einflussnahme, sondern auch in der Einflussnahme auf staatliche Entscheidungsprozesse und in der politischen Bündnisbildung. US-amerikanischer Einfluss macht sich in wirtschafts- und sozialpolitischen Konzeptionen nicht zuletzt über internationale Finanzinstitutionen, vor allem Weltbank und IWF, geltend. Bündnispolitisch arbeiteten die US-Regierungen vor allem über das Angebot der NATO-Mitgliedschaft, die vielen osteuropäischen Regierungen mit ihrer anti-russischen Orientierung sehr attraktiv erschien. Zeitlich lag die NATO-Mitgliedschaft in den wegweisenden Fällen Polens, Ungarns und der Tschechischen Republik vor der EU-Mitgliedschaft (Hofbauer 2003: 210 ff.). Die NATO wurde von den osteuropäischen Regierungen im Regelfall nicht als potentiell konkurrierendes Projekt zur EU wahrgenommen, entsprechend wurde die Formel von der euro-atlantischen Integration bemüht. Der Irak-Konflikt sollte dann zeigen, dass es in geostrategischen Fragen tiefgreifenden Divergenzen zwischen den USA und einem Teil der EU gibt.

Die EU machte ihren Einfluss zunächst über sogenannte Europa-Abkommen geltend. 1993 formulierte die EU in Kopenhagen Kriterien für eine eventuelle Mitgliedschaft osteuropäischer Länder, deren Kernelemente „institutionelle Stabilität“ und „eine funktionsfähige Marktwirtschaft“ waren (n. Hofbauer 2003: 71). Die Weichen für konkrete Beitrittsverhandlungen wurden aber erst 1997 gestellt und solche mit einer ersten Ländergruppe im Jahr 1998 aufgenommen. Ende 1999 wurde der Kreis der KandidatInnen erweitert und der Verhandlungsprozess als „Regatta“ konzipiert. Die KandidatInnen konkurrierten um den ersten Platz im Fortschritt der Verhandlungen. Ihre jeweilige Platzierung konnten sie der Zahl der abgeschlossenen Verhandlungskapitel sowie der Bewertung in den Fortschrittsberichten der EU entnehmen. Gute Noten waren nicht allein durch die zügige Übernahme und Umsetzung des EU-Rechtswerkes, des Acquis communitaire, sondern auch durch weitergehende institutionelle Änderungen sowie durch die Privatisierung zugunsten west-europäischer Konzerne zu erhalten. So vermochte die EU den Prozess der ursprünglichen Akkumulation zugunsten von west-europäischen Unternehmen zu beeinflussen. Damit schwanden auch strukturell die Möglichkeiten für eine autonome Wirtschaftsstrategie (sh. Staniszkis 2001: 211 ff.), wenngleich nicht überall im selben Ausmaß. In der Interaktion zwischen der EU und dominanten Gruppen in Osteuropa wurden so Modelle der abhängigen Entwicklung etabliert.

Modellfall Slowakei

Ein Modellfall für die abhängige Transformation ist die Slowakei. Hier hatte die HZDS-Regierung Vladimir Mečiars zunächst den Weg in Richtung auf die Schaffung einer nationalen Bourgeoisie eingeschlagen. Gleichzeitig orientierte sie sich in ihrer Außenwirtschaftspolitik nicht so einseitig auf die EU wie die anderen osteuropäischen Ländern, sondern suchte speziell im energetischen Bereich auch die Kooperation mit Russland. Die Wirtschaft wuchs in den Jahren der HZDS-Regierung relativ schnell, von 1994 bis 1998 jährlich zwischen 4,1% und 6,7% (Průcha 2003: 29, Tab. 4). Allerdings kann von einer autonomen Entwicklung nur sehr beschränkt die Rede sein, da die Leistungsbildanzdefizite und die Auslandsschuld ebenfalls kräftig wuchsen. Ihre Legitimität suchte die Mečiar-Regierung einerseits über die Gewährung klientelistischer Vorteile, andererseits über günstige öffentliche Dienstleistungen zu sichern. Insofern weist sie Ähnlichkeiten mit den christdemokratischen Regierungen des Nachkriegsitaliens auf. Gleichzeitig schreckte sie auch vor einer Gängelung oppositioneller Kräften und Geheimdienstmanipulationen nicht zurück.

Die Monopolisierung der Pfründe und die autoritären Tendenzen der HZDS-geführten Regierung veranlassten ein breites Parteienspektrum für die Wahlen im Jahr 1998 eine Anti-Mečiar-Bündnis zu bilden. Zahlreiche NGOs mobilisierten gegen die HZDS-Regierung. Ihre Kampagnen erfreuten sich einer reichhaltigen äußeren Finanzierung, da die nicht ausreichend „pro-westliche“ Regierung Mečiar in den EU wie auch in den USA nach Jugoslawien als zweiter „schwarzes Schaf“ in Osteuropa galt. Tatsächlich gewann das oppositionelle Parteienbündnis 1998 die Wahlen und bildete eine neue Regierung. Diese zeigte sich westlichen Wirtschaftsinteressen weit aufgeschlossener und wurde für ihr Wohlverhalten mit der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen von der EU belohnt. VertreterInnen ultraliberaler Think-Tanks rückten in höchste Regierungsämter auf, so wurde Ivan Mikloš, Gründer der liberalen Wirtschaftsdenkfabrik M.E.S.A. 10, Vize-Regierungsvorsitzender für Wirtschaftsfragen, Viktor Nižňansky, M.E.S.A. 10-Experte für die Dezentralisierung der Staatsverwaltung, konnte nun als Regierungsbevollmächtigter den Umbau des subnationalen Staatsapparates konzipieren (Schneider 2003: 68). Ein Bremser bei den liberalen Gegenreformen war die postkommunistische SDL‘ (Strana demokratickej l‘avice), die sich allerdings nicht zuletzt wegen der unsozialen Folgen der Regierungspolitik verschliss.

2002 konnten die rechtsliberalen Kräfte nach den Wahlen eine politisch homogene Regierung bilden, nachdem bei geringer Wahlbeteiligung die zersplitterten sozialliberalen und rechtsextremen Kräfte den Sprung ins Parlamente verpasst und 18,2% der abgegeben Stimmen wegen der Sperrklausel unter den Tisch gefallen waren (Krivý 2003: 63 ff.). Die neue Regierung radikalisierte die wirtschafts- und sozialpolitischen Gegenreformen. Sie führte das strukturell verteilungsmässig regressivste Steuermodell westlich der GUS ein (19% Einheitssatz bei Einkommens- und Mehrwertsteuer), öffnete weitere Sektoren für die Privatisierung, läßt sich vom chilenischen Beispiel für den „Umbau“ der Pensionsversicherung inspirieren und schwächt die neokorporatistischen Organisationen. Damit werden sowohl die Vertretungen des nationalen Kapitals wie die Gewerkschaften für die Politikformulierung zunehmend marginal (sh. ohne diese Zuspitzung Malová/Rybář 2003). Die Konzeptionen wurden vielfach von sehr jungen, ultraliberalen Think-Tank-Mitarbeitern konzipiert und ohne größere Diskussion durchgesetzt. Sowohl die Ideologen der Think-Tanks als auch die slowakische Regierung scheinen dabei die Slowakei als wirtschafts- und sozialpolitisches Laboratorium zu verstehen.

Gleichzeitig passen die wirtschaftspolitischen Maßnahmen zum Modell der abhängigen Entwicklung der Slowakei. Dieses weist eine zunehmend einseitige Spezialisierung bei der Automobilindustrie sowie bei Grundstoffen (u.a. Stahl) auf. Das VW hat ein großes Werk bei Bratislava, PSA Peugeot Citroën hat ein Werk in Trnava im Aufbau und Žilina ist in der engeren Wahl des Hyundai-Konzerns. VW hat für die Wirtschaft der Slowakei einen solchen Einfluss, dass sich die Produktionsschwankungen des Werkes sichtbar in der Exportbilanz des Landes niederschlagen. Zuletzt ist die Produktion sehr stark gestiegen, was sich auch günstig auf die Exporte der Slowakei – mit einem realen Wachstum von über 20% im ersten Halbjahr 2003 (Gajdzica et al. 2003: 422 f.) – auswirkte. Die binnenmarktorientierte Produktion dümpelt hingegen vor sich hin. Trotz eines prognostizierten Wachstums von 3,9% sind die Reallöhne 2003 um 1% gefallen, das Reallohnniveau des Jahres 1989 ist bis heute nicht erreicht (Kollar/Mesežnikov 2003: 17, Průcha 2003: 29, Tab. 4). Die Arbeitslosenrate liegt bei ca. 17% (Kollar/Mesežnikov 2003: 17), in einigen Kreisen bei etwa dem Doppelten des Landesdurchschnitts. Die Entwicklung des Landes konzentriert sich auf Bratislava und allgemeiner den Westen des Landes sowie die Stadt Košice mit ihrem großen Stahlwerk im Osten. Mithin führt die exportorientierte Wirtschaftsentwicklung zu einer einseitigen und abhängigen Branchenstruktur sowie großen sozialen und enormen regionalen Unterschieden.

Westintegration als „Eliten“-Projekt

Die EU-Integration ist in Osteuropa in der Tendenz ein Projekt der dominanten Kräfte. Dies schlug sich auch in den Referendumsergebnissen nieder. Zwar war die Zustimmung bei den abgegebenen Stimmen – zwischen 66,7% in Lettland und 92,5% in der Slowakei hoch, doch die Beteiligung oft gering. In Ungarn gingen nur 45,6% der Abstimmungsberechtigten an die Urne, in der Slowakei, Polen und der Tschechischen Republik wurde die notwendigen 50%-Beteiligung nur mit Mühen überschritten (European Commission 2003: 22, Annex 1). Auffällig ist die besonders geringe Beteiligung bzw. überproportionale Zahl an Nein-Stimmen in armen Regionen, wie sie im Fall Polens, der Tschechischen Republik oder der Slowakei augenfällig ist (Pravda 19.5.2003, Gazeta Wyborcza 10.6.2003: 4, 50, Lidové Noviny 16.6.2003: 15, 17). Das heisst, der Beitritt ist von großen, meist ärmeren Gruppen der Bevölkerung eher resignativ hingenommen denn begeistert begrüßt worden.

Aber auch bei den dominanten Kräften ist in den Monaten vor dem Referendum eine gewisse Ernüchterung erkennbar. Diese bezieht sich auf die EU als politisches Projekt. Lange hatte die wirtschaftliche Seite des Beitritts eindeutig im Vordergrund gestanden. Allmählich wurden aber auch die politischen Implikation eines Beitritts, die Verbindung mit einer neuen Form der europäischen Staatlichkeit, deutlich. Gegen die EU als neue Form der Staatlichkeit gibt es in der osteuropäischen Rechten erkennbare Vorbehalte.

Rechte Vorbehalte

Am frühesten und deutlichsten wurden die Vorbehalte von der nationalliberalen tschechischen ODS (Občanská demokratická strana) formuliert, sie werden aber auch von anderen osteuropäischen Rechtsparteien geteilt.

Im „eurorealistischen Manifest“ plädierten die Vordenker der ODS für ein eindeutig inter-gouvermentales Modell der Integration, was dem Charakter der schon bestehenden EU mit ausgeprägt supranationalen Elementen widerspricht. Nur ein inter-gouvermentales Modell gewährleistet für die „Eurorealisten“ eine Wahrung der nationalen Souveranität und klare, demokratisch legitimierte Verantwortlichkeiten. Von daher sind sie gegen jede Stärkung des supranationalen Charakters der EU (Zahradil et al. 2001, Bednář 2003, sh. auch Petřik 2003: 19 ff.). Diese Vorbehalte gibt es nicht nur bei der oppositionellen tschechischen ODS. Auch der Staatssekretär im slowakischen Außenministerium Ivan Korčok äußerte in einem Interview mit Domino fórum, „ein Problem mit der Legitimität entsteht dann, wenn das Europaparlament stark in die Normbildung einbezogen wird“ (Korčok 2003: 9). Diese Argumentation greift Demokratiedefizite der EU auf und wendet sich dabei gegen einen Ausbau des supranationalen Charakters der EU. Damit lehnen diese Kräfte auch das Projekt eines politisch autonomen Europa ab.

Folgerichtig ist eine starke Affinität zu den USA und deren Gesellschaftsmodell erkennbar, wird von manchen Theoretikern in diesem Umfeld die Bildung einer euro-nordamerikanischen Freihandelszone angeregt (Bednář 2003: 147 ff.). Die ODS steht beispielsweise weit vorbehaltloser zur NATO als zur EU (während es bei den tschechischen SozialdemokratInnen umgekehrt ist; Petřik 2003: 19).

Weiters wird von relevanten Teilen der osteuropäischen Rechten eine möglichst große nationale Autonomie bei Steuern, Sozialstandards und Ökologie gewünscht (ibid: 20), um diese im Konkurrenzkampf um das transnationale Kapital absenken zu können.

Speziell bei der katholischen Rechten ist diese Kritik noch mit der Forderung nach einer Bewahrung der partriarchalischen Familie verbunden, die dann wohl auch die Lücken im sozialen Netz stopfen soll. So sprachen sich die Abgeordneten Artur Zawisza (Prawo i Sprawiedliwość, Polen) und Vladimír Palko (KDH, Slowakei) jüngst gegen die Grundrechtscharta in der vorgeschlagenen europäischen Verfassung aus, da diese ein Diskriminierungsverbot enthält und von Kinderrechten spricht. Hingegen schütze sie nicht „das Recht ungeborener Kinder“, verbiete aber die Hinrichtung von Verbrechern. „Es entsteht so das Paradox,“ so die beiden Abgeordneten der katholischen Rechten, „dass das Leben eines Verbrechers für die Charta mehr Gewicht hat als das Leben eines unschuldigen Kindes“ (Sme, 11.12.2003: 8). Entsprechend dieser Geisteshaltung blockiert die KDH (Krest’anskodemokratické hnutie) schon seit langem die Verabschiedung eines Anti-Diskriminierungsgesetzes.

Eine solche rechte Kritik stellt zwar nicht per se ein (neo-)liberales Integrationsprojekt infrage, wohl aber die EU als autonomes politisches Projekt. Ein Teil der politischen Rechten, wie die LPR (Liga Polskich Rodzin) und Samoobrana, sind für das liberale Integrationsprojekt schon weniger verdaulich. Diese fordern nämlich explizit den Schutz einiger Sektoren der nationalen Wirtschaft und haben auch relevanten Rückhalt bei Kleingewerbe und Bauern (sh. Antoszewski et al. 2003: 128 ff., Henzler 2003). In der „Hassschreibe“ rechter Publizistik finden, wie Kowalski und Tulli (2003) am polnischen Beispiel herausarbeiten, in der anti-europäischen Publizistik dann nationale Stereotypisierung starke Verwendung. Im polnischen Fall wird die EU als Gefahr für den katholischen und nationalen Charakter des Landes ausgemalt, als Institution porträtiert, die Polens Rohstoffe und das Land ausbeuten will.

Soziale Proteste

Die Sozialliberalen und ein relevanter Teil der Linken Osteuropas befürworten – nicht unbedingt vorbehaltlos – den EU-Beitritt, nicht zuletzt, weil sie sich hiervon ein Zügeln der nationalistischen Rechten erhoffen.

Allerdings hat es in den letzten Monaten in Polen, der Slowakei und der Tschechischen Republik einige meist von den Gewerkschaften getragene soziale Protest gegen die Transformationspolitik gegeben. Streiks gab es vor allem im öffentlichen Dienst – gegen Streckenstilllegungen bei der Bahn, gegen die miese Bezahlung und schlechte Ausstattung des Bildungssektors (sh. z.B. Becker 2003a zum Eisenbahnerstreik in der Slowakei). Gerade angesichts der relativen Schwäche der Gewerkschaften zeigt dies ein fortgeschrittenes Maß sozialer Unzufriedenheit an. In Polen und der Slowakei ist es auch schon zu Straßenbesetzungen gekommen. Angesichts der begrenzten Streikerfolge haben die slowakischen Gewerkschaften in einer neuen Wendung ihrer Protestpolitik Unterschriften für ein Referendum für vorzeitige Parlamentswahlen lanciert – und sind dabei auf eine große Resonanz in der Bevölkerung gestoßen. Dies bedeutet eine neue Form der Eskalation des Konfliktes mit der Regierung – zumal ein Teil der Regierungsparteien, darunter jene des Premierministers, die Rückkehr ins Parlament derzeit nicht schaffen würde. Die Frage ist allerdings, inwieweit eine andere Regierungszusammensetzung eine substantiell andere Politik bedeuten würde. Und die Hürde für ein erfolgreiches Referendum ist hoch.

Neben gewerkschaftlichen und – im Fall Polens – bäuerlichen Protesten regt sich auch Widerspruch gegen die katholischen Integralismus in Polen und der Slowakei seitens feministischer Gruppen.

Ausblick

Das – zumindest vorläufige – Scheitern der EU-Verfassung ist Ausdruck struktureller Spannungen in der sich erweiternden EU. Die Anliegen der Regierungen Spaniens und Polens wurden von relevanten Kräften – speziell der politischen Rechten und speziell in den eher peripheren Ländern – geteilt, auch wenn sie die spanisch-polnische Taktik missbilligten. Selbst wenn es der irischen Präsidentschaft gelingen sollte, in der Verfassungsfrage doch noch einen Kompromiss zu vermitteln, so dürfte dies die Spannungen nicht aufheben. Daher ist die allmähliche Herausbildung eines Europas der mehreren Geschwindigkeiten zu erwarten, dass ansatzweise ohnehin schon institutionalisiert ist. Schließlich umfassen weder die Währungsunion noch der Schengen-Raum alle Mitgliedsstaaten.

Mit oder ohne Verfassung bleiben erhebliche und wachsende Legitimitätsdefizite der EU. Diese liegen sowohl in der Art der Politikformulierung der EU als auch in den (neo-)liberalen Politikergebnissen. In manchem gemahnt dies an die Habsburger Monarchie. Diese ermöglichte den dominanten Kräften eine einträgliche Akkumulation, ihr gebrach es jedoch zunehmend an Legitimität. Und der Legitimitätsverlust, der durch den 1. Weltkrieg stark beschleunigt wurde, ebnete den Weg zum Staatszerfall. Jedoch wurde die Habsburger Monarchie meist nicht durch eine sozial wirklich fortschrittlichere Ordnung abgelöst. So ist es an der Linken, emanzipatorische Wege aus der Krise der EU zu suchen. Hierbei hätten sie an den demokratischen und emanzipatorischen Defiziten der derzeitigen liberalen Integrationsprojekte und den bestehenden Protestbewegungen anzusetzen.

Literatur

Antoszewski, Andrzej et al. (2003): Stranický systém Polska. In: Fiala, Petr et al.: Středoevropské systémy politických stran. Česka republika, Maďarsko, Polsko a Slovensko. Brno, S. 105-151

Becker, Joachim (2003a): Streik in der Slowakei. In: Die Alternative, Nr. 3, S. 18

Becker, Joachim (2003b): La constitución europea: el debate centro-periferia. In: La Insignia, 17.12. (www.lainsignia.org)

Bednář, Miroslav (2003): Evropské tyranie. Česká statné idea, Evropské unie a demokratická civilizace. Prag

Bohle, Dorothee (2002): Europas neue Peripherie. Polens Transformation und transnationale Integration. Münster

Cassen, Bernard (2004): Une constitution pour sanctuariser la loi de marché. In: Le Monde diplomatique, Januar, S. 6-7

Crum, Ben (2003): Stratená šanca. In: Slovo, 17.12., S. 6

European Commission (2003): Continuing Enlargement. Strategy Paper and Report of the European Commission on the progress towards accession by Bulgaria, Romania and Turkey. Brüssel

Gajdzica, Michal et al. (2003): Celkový ekonomický vývoj. In: Kollar, Miroslav/Mesežnikov, Grigorij (Hg.): Slovensko 2003. Súhrnná správa o stave spoločnosti. Bratislava, S. 411-441

Henzler, Marek (2003): Gdy z Leppera zrobimy premiera. In: Polityka, 24.5., S. 30-32

Hofbauer, Hannes (2003): Osterweiterung. Vom Drang nach Osten zur peripheren EU-Integration. Wien

Korčok, Ivan (2003): Dufam, že summit bol epizódu. In: Domino fórum, Nr. 51, S. 8-9

Kowalski, Sergiusz/Tulli, Magdalena (2003): Zamiast procesu. Raport o movie nienawiści. Warschau

Krivý, Vladimír (2003) Volebné výseldky a trendy. In: Mesežnikov, Grigorij et al. (Hg.): Slovenské volby ’02. Výsedky, dôsledky, súvislosti. Bratislava, S. 61-105

Kubín L’uboš (2002): Rola politických elít pri zmene režimu na Slovensku. Bratislava

Malová, Darina/Rybář (2003): Organizované záujmy. In: Kollar, Miroslav/Mesežnikov, Grigorij (Hg.): Slovensko 2003. Súhrnná správa o stave spoločnosti. Bratislava, S. 211-228

Mertlík, Pavel (1999): The Emerging Ownership Structure in Central and Eastern Europe. In: Potůček, Martin (Hg.): Česká společnost na konci tisíciletí I. Prag, S. 197-209

Kollar, Miroslav/Mesežnikov, Grigorij (Hg.): Slovensko 2003. Súhrnna správa o stave spoločnosti. Bratislava

Modzelewski, Karol (2003): Scenariusze dla Polski. In: Modzelewski, Karol: Żiciodajny impuls chuliganstwa. Kraków, S. 157-165

Návrh Zmluvy zakladajúcej Ústavu pre Európu. In: OS, 2003, 7(9), 11-35

Návrh Zmluvy zakladajúcej Ústavu pre Európe (II. časť). In: OS, 2003, 7(10), 19-28

Petřik, Jaroslav (2003): Postoj politickýh stran k EU ve volbní kampani 2002 – Česka republika. In: Šedo, Jakub (Hg.): Evropská otázka ve volbních kampaních. Brno, S. 11-37

Průcha, Václav (2003): Ekonomické aspekty dělení Československa v letech 1990-1993. In: OS, 7(1), S. 25-34

Schneider, Jiři (2003): Think-Tanky ve visegradských zemích. Analýza politiky a obhajoba zájmu. Brno

Staniszkis, Jadwiga (2001): Postkomunizm. Próba opisu. Gdansk

Zahradil, Jan et al. (2001): Manifest českeho eurorealismu. In: OS, Nr. 12, S. 45-48

Žiak, Miloš (1998): Slovensko medzi napredovaním a úpadkom. O.O.

Tageszeitungen

Gazeta Wyborcza (Warschau)

Lidové Noviny (Prag)

Pravda (Bratislava), www.pravda.sk

Sme (Bratislava)

© links-netz März 2004