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E oder U?

Überlegungen zur kritischen Theorie der Popmusik und ein Nachtrag

Roger Behrens

[Computermusik in Endlosschleife] – Tex: »Na, äh.« – Rocko: »Na« – Tex: »Äh, Rocko.« – Rocko: »Hallo, ja.« – Tex: »Du sach ma ...« – Rocko: »... Ja ...« – Tex: »Du, Kochsalon oder was, kennst du das eigentlich, Kochsalon?« – Rocko: »Ja, natürlich.« – Tex: »Das ist ja, äh, da wird ja auch gekocht ...« – Rocko: »... Mh ...« – Tex: »... Deswegen heißt das ja auch ... das erste Teil von dem Wort ...« – Rocko: »Was? Klar!« – Tex: »Und wie finds du das da so?« – Rocko: »Gut ... Ich war da schonmal.« – Tex: »Und die machen jetzt ja auch ... ähm ... Klassik ..., da wird ja auch mal Musik aufgelegt.« – Rocko: »Ach!« – Tex: »Und so diese Idee ... Club und Klassik? Das man das so zusammenbringt ... wie findest du das so?« – Rocko: »Gut ...« – Tex: »Hörst du auch Klassik, selbst?« – Rocko: »Ich selber jetzt ... auch.« – Tex: »Und Telse? Telse Bus, die ist so die Chefin, ne?« – Rocko: »Ja.« – Tex: »Äh, die hat ... mit der hast du ja auch mal zusammengewohnt.« – Rocko: »Ja.« – Tex: »Ihr habt in einer Wohnung gewohnt, oder?« – Rocko: »Mh, ja.« – Tex: »Und wie fands du das so?« – Rocko: »Gut, ... eigentlich.« – Tex: »Und hat die dir auch mal so was, ... so was Scharfes angebraten?« – Rocko: »Die hat auch mal Essen gemacht, ja.« – Tex: »Und wie war das?« – Rocko: »Gut.« – [Klavierlauf, der die Endlosschleife der Hintergrundmusik und das Gespräch unterbricht] – Tex: »Du ich muss los jetzt. Äh mh, wir können uns ja da mal wieder treffen ... wir sprechen.« – Rocko: Ja, also ... Speaking.« – Tex: »Yo, Speaking.« – [Wieder Endlosschleife, kleine Pause] – Tex: »Rocko?« – Rocko: »Ja, ... Tex?« – Tex: »Hier jetzt, ja, so klassischer Hip Hop, das ist ja auch son Thema.« – Rocko: »Ja.« – Tex: »Ich hab da mal so nachgedacht ... mir son Reim überlegt.« – Rocko: »Ach?« – ...

Mit diesem Gespräch, das sich noch mit kleinen, flachen Späßen fortsetzt, die nichts weiter mit Musik, geschweige denn so genannter Klassik zu tun haben, um dann in einem typischen verzerrten Rockgitarren-Intro zu münden, wird eine bei der Deutschen Grammophon 2002 veröffentlichte Compilation eröffnet, auf der sich neben Claude Debussy, Robert Schumann, Franz Liszt, Maurice Ravel und anderen auch obligatorisch Bach und Mozart finden. Titel: ›Gar! Klassiker aus dem Kochsalon‹. Der Kochsalon ist ein kleiner Restaurant-Imbiss in Hamburg St. Pauli, betrieben und besucht von Menschen aus einer Szene, die eher für abseitige Popmusik, für Punk, House-Partys und Underground steht; die Klaviermusik des Samplers bildet als Hintergrundbeschallung ohnehin einen merkwürdigen Kontrast zu dem etwas maroden Ambiente des Kochsalons. Inwieweit aber genau das beabsichtigt ist, bestätigt zudem die Covergestaltung durch den Maler 4000, der zumindest in Hamburg in der Off-Szene mit seinen Trash-Arbeiten Erfolg hat (und auch die Covergestaltung von ›Deutsches Theater‹ besorgte, dem letzten Buch des Popliteraten Stuckrad-Barre). Der Dialog wird von den Künstlern Matthias »Tex« Strzoda und Rocko Schamoni gesprochen; so wie die Stücke ›Walzer‹, ›Waldszenen‹ oder ›Prélude‹ heißen, heißt das Gespräch ›Speaking‹; so wie bei den Komponisten die Lebensdaten stehen, steht auch bei Tex und Rocko deren Geburtsdatum in Klammern. Und zum Schluss spielt Jacques Palminger (*1964) ›Ich mag Chopin‹, eine Coverversion von Gazebo ...

Weitere Klangbeispiele, die ich für die Vortragsfassung verwendet habe: Zero DB, ›Henry‹, auf: ›Peace Orchestra Reset, Remix‹ 2002 – The Nice, ›Ars Longa vita brevis‹ – Ravi Shankar, ›Tala Farodast‹ (›Raga Hameer & Gara‹), 1979 – Tom Jobim, ›Tempo do Mar‹ (Matita Perê, 1973) – Deep Purple, ›April‹, auf: same (1969) – Aphex Twin, Avril 14th, ›Mondän Volume 2‹ (2002) – Herbie Hancock, ›Rain Dance‹ (›Sextant‹ 1973) – Don Caballero, ›One may step out‹ (›What Burns Never Returns‹ 1998) – Squarepusher, ›Circular Flexing‹, (›Music is Rotted One Note‹) – Nigel Kennedy, ›Fallen Forest‹ (›Kafka‹ 1996) – Max Hansen, ›War’n sie schon mal in mich verliebt‹ 1928 (populäre jüdische Künstler, Berlin – Hamburg – München 2001) – Steve Reich, ›Six Pianos‹ (›Variations‹ 1974) – OMR, feat. Ellen Alien, ›ohne Titel‹ (Kitty-Yo 2003) – Georg Händel, ›Sarabande‹, performed by the Bohemia Orchestra, 2002 – Sun Ra, ›Space is the Place‹, 1972. Die Musik läuft im Hintergrund; gelegentlich wird auf die einzelnen Beispiele Bezug genommen.

* * *

Die Unterscheidung zwischen E für ernste Musik und U für Unterhaltungsmusik scheint gegenwärtig an Bedeutung verloren zu haben und dient wohl nur noch dem Konsumenten zur groben Orientierung im Plattenladen, wobei hier die Unterscheidungen je nach Käufergruppe auf spezifische Rubriken gebracht sind: In Warenhäusern, die sich an eine allgemeine Kundengruppe richten, gibt es dann ›Schlager‹, ›Volksmusik‹, ›Klassik‹, ›Pop‹ und ›Rock‹, während in den Expertengeschäften eben diese Experten mit gut sortierten Abteilungen wie ›NuJazz‹, ›Deep House‹, ›Ambient‹ oder ›Chicago School‹, ›Postrock‹ etc. bedient werden sollen; oder die Platten werden – noch mehr an die Experten sich richtend – nach Label sortiert angeboten, was dann in den Läden, die sich an die Liebhaber der vermeintlichen E-Musik richten, ungefähr der Sortierung nach Interpreten, Dirigenten und Orchestern entspricht.

Vordergründig scheint es, dass die Unterscheidung von E und U an Bedeutung verloren hat, weil längst die U-Musik ernst geworden ist, die E-Musik sich aber dem Unterhaltungssektor überantwortet hat. Indes war die Unterscheidung zwischen E und U schon immer unzureichend, bei genauerer Überprüfung der damit gemeinten Sphären unbrauchbar. Sie entspricht zudem einer spezifisch deutschen Musikentwicklung seit dem 19. Jahrhundert, hat also mit der Herausbildung des Nationalstaates und der Politischen Ökonomie mehr zu tun als mit explizit musikalischen Maßgaben. Die Unterscheidung zwischen E und U überlagert sich beispielsweise mit der aus dem Englischen gebräuchlichen Unterscheidung von Classical Music und Popular Music. Im Übrigen ist es im Englischen nicht üblich, wie Adorno von serious music zu sprechen. Classical music ist gemeinhin, wie im Deutschen, auch gebräuchlich für die gesamte bürgerliche Kunstmusik, einschließlich der musikalischen Moderne und Neuen Musik. Nicht minder erklärungsbedürftig bleibt das Etikett – und es handelt sich bei all diesen Worten nicht um Reflexionsbegriffe, sondern eher um Embleme und eben Etiketten – Popular Music. Popular Music, populäre Musik oder Popularmusik wird abgegrenzt von Volksmusik: sie ist eben nicht die Musik des Volkes, eben nicht entstanden aus dem traditionalistischen, ländlichen Musikantentum, sondern ist Musik für die großstädtische Masse, ist Musik der modernen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die in dieser Figuration populäre Musik zu sein beansprucht, weil sie sich an Alle richtet, unabhängig von Klassenverhältnissen, unabhängig von der sozialen Stellung der Hörer. So meint ›populär‹ oder eben ›unterhaltsam‹ wesentlich auch, dass solche Musik unabhängig von Bildungsstand und ohne Vorwissen, ohne besondere kontemplative Reflexion rezipiert werden kann, beziehungsweise eben unter Umständen gar nicht für Rezeption gedacht ist, sondern für den Konsum. Sie zielt wesentlich auf Stimmungen und Affekte, geht unmittelbar auf das Reiz-Reaktions-Schema, indem sie vorgegebene Gefühlsregungen beim Zuhörer aktiviert, ohne von ihm nähere Beschäftigung mit dem Zusammenhang der Töne zu verlangen: sie ist nicht schwer zugänglich, sondern erweckt vielmehr den Anschein der Unmittelbarkeit des musikalischen Ereignisses. In diesem Sinne ist es auch üblich, statt von populärer Musik von »leichter Musik« zu sprechen. Des Weiteren gilt popular music derart als Synonym und Definition für das heute gebräuchliche Wort Popmusik; »Pop« ist nach diesem Verständnis die Abkürzung für »populär«, und meint damit »weit verbreitet«, also ein rein quantitatives Verhältnis, das aufgrund einer bewusst reduzierten Qualität zustande kommt – vermeintlich jedenfalls. (Pop kommt eigentlich von ›to pop‹, platzen, mit Referenz auf die Pop-Art beziehungsweise auf die Richard Hamiltons ›Just what is it that makes today’s homes so different, so appealing?‹, 1956, eine Collage, auf der ein Lolli der Marke »Pop« zu sehen ist.)

Zugleich verbirgt sich in der Unterscheidung von E und U die gesellschaftliche Funktion der Musik, ihre Stellung als Kunst im Verhältnis zum gesellschaftlichen Ganzen, zum globalisierten Kapitalismus der Spätmoderne. Das heißt nun, dass einerseits im Namen der E-und-U-Differenzierung sich auch die kulturelle Hegemonie durchgesetzt hat, inklusive und vor allem auf Basis einer rassistischen Diskriminierung von Musik, die ihre Entwicklung erst einmal in der nicht-europäischen Kunst hat, etwa im Jazz beziehungsweise in den verschiedenen Formen afro-amerikanischer und später auch asiatischer Musik. Anderseits bedeutet diese kulturelle Hegemonialisierung die Integration nicht-europäischer Musik in den Bereich von E und U, wie es exemplarisch mit der indischen Musik in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts geschehen ist: der Klang der Sitar, als Effekt, hat einerseits die Popmusik (Beatles) beeinflusst; andererseits wurde etwa die Musik Ravi Shankars im Kontext der ernsten Musik rezipiert und vermarktet (vielleicht ist Ravi Shankar der erste Musiker, der sowohl als ›Klassik‹ und als ›Pop‹ vermarktet wurde).

Das passierte dann in einer Zeit, in der die – wenn man so will – interne Entwicklungslogik der musikalischen Bereiche eh schon eine Überschreitung der Grenzen erfahren hatte. Deutlich wird das nicht nur an Konvergenzen zwischen akademischer Kunstmusik und einem Musik-Underground in den neuen Kunstzentren, maßgeblich New York – man denke an Velvet Underground, Andy Warhol, John Cage, die Entwicklung der Popmusik im engeren Sinne aus der Pop-Art –, sondern auch in den Modernisierungsbewegungen außerhalb des »westlichen« Mainstreams, namentlich im Bossa Nova Brasiliens, unter dessen Vorzeichen eine künstlerische Avantgarde sich entfaltete, die jenseits der Unterscheidung von E und U eine allgemeine Música popular brasileira etablierte (MPB ist eine nachträgliche, erst in den siebziger Jahren eingeführte Sammelbezeichnung, einerseits für Vermarktungszwecke, andererseits für eine politische Musikbewegung gegen die Militärregierung, mit der dann nachträglich die gesamte brasilianische Musik bezeichnet wird, von Chorinho, über Samba und Bossa Nova bis zum Tropicalismo).

Es ergibt sich also insgesamt eine paradoxe Situation, die dadurch noch überzeichnet werden kann, dass eben in keiner anderen Kunst sich diese Trennung der Bereiche von E und U so beharrlich aufrechterhalten hat wie in der Musik (dazu gehört die besondere Stellung der Musik zwischen den Künsten im und für das bürgerliche Zeitalter). Das wird umso auffälliger, sofern man bedenkt, dass der Musikbetrieb sich längst nicht mehr nur durch die Musik bestimmt erhält, sondern wesentlich von anderen Künsten zehrt, eingebettet in einem sozialen Komplex aus Moden, Konzerten, Werbekampagnen und Produktästhetik. Keineswegs ungewöhnlich scheint es, wenn Deep Purple für ihre Covergestaltung auf Hieronymus Boschs ›Garten der Lüste‹ zurückgreifen oder die Rolling Stones für die Plakate zu ihrer letzten Tour Jeff Koons’ markante Gemäldecollagen verwenden. Freilich ist hier auch an den Art-Rock der siebziger Jahre zu denken, an Genesis und King Crimson, vor allem auch an Yes, die mit der ›Feuervogel‹-Suite von Strawinsky noch immer ihre Konzerte eröffnen.

Die Unterscheidung von E und U folgt wesentlich den Interessen des Musikmarktes; es ist mithin eine ökonomische Unterscheidung. »Ernst«, »klassisch« oder andere Auszeichnungen, die vermeintlich Anspruch suggerieren sollen, sind selbst zu Etiketten geworden, die Musik auf den Unterhaltungszweck verpflichten sollen, tatsächlich aber auf den blanken Profit reduzieren. Man kann sagen, dass die bürgerliche Kunstmusik, die weitgehend in der Notation und der Aufführung ihre Realisierung erfahren will, insgesamt ein Anachronismus im musikalischen Zeitalter der Schallplatte ist; bis auf wenige experimentelle Formen hat sich die E-Musik nicht ernsthaft mit dem Medium auseinanderzusetzen vermocht; vielmehr hat sie durch die Schallplatte ihre letzte Autonomie verloren und sich vollends den ökonomischen Bedingungen überantwortet. Sampler, Compilations, Zusammenstellungen, die im Popbereich durchaus nicht nur krude dem Profit dienen – wenn man von den ganzen Kuschelrock und Bravo-Hits einmal absieht –, sind es für den (man muss ja immer sagen: angeblichen vermeintlichen) E-Musikbereich vollständig. Die Musik rutscht in Kitsch ab und in den siebziger und achtziger Jahren wurden die Klassik-Sampler in Cover verpackt, auf denen Instrumente bei Kerzenschein mit Weichzeichnerzauber zu sehen waren. Der Märchenglanz ist verschwunden und neuerdings wird mit modernisierter Fassade diese Musik unter dem Etikett »Mondän« oder »le classique abstrait« noch einmal verwertet, diesmal für eine Konsumentengruppe, die eher auf die Nomenklatur der Popkultur anspringt, verpackt mit Modefotografie und Emblemen, die der Werbesprache entlehnt sind. Pop dient hier dazu, die verkommene Aura, die der klassischen Musik als Soundtrack des Bildungsbürgertums einmal zu eigen war, zu revitalisieren; wie selbstverständlich findet man auf solchen Samplern auch Aphex Twin, MJ Cole oder LTJ Bukem. – Ironisch überzeichnet, aber doch in ähnlicher Absicht verbindet auch der Sampler ›Gar! Klassiker aus dem Kochsalon‹ die kulturell disparaten Felder Klassik und Pop, hier Deutsche Grammophon, nachgerade eine fürs Bildungsbürgertum zuständige Institution der Kulturindustrie, und eben den Szene-Imbiss.

Gerade wo die vermeintlichen Extreme sich berühren, etwa Punk, Minimal-Elektronik und der Kanon bürgerlicher Kunstmusik, zeigt sich das musikalische Material ästhetisch kompatibler als erwartet; die Grenzen zwischen den Sphären scheinen indes ohnehin als Demarkationslinien des sozialen Habitus zu verlaufen; und fraglich ist, ob es allein Anhand von Klangbeispielen möglich ist, eine sinnvolle, kritisch brauchbare Auseinandersetzung mit der sowieso problematischen Kategorisierung von E und U zu führen. Spiegeln also Beispiele, in denen sich durchaus etwas von der Verfransung der musikalischen Sphären findet, überhaupt die Problematik wider, die sich in der für die bürgerliche Kunst einmalige Trennung der Sphären ausdrückt? Zu fragen wäre ferner also, ob sich nicht gerade in den letzten dreißig, vierzig Jahren, in denen sich eine eigenständige Entwicklung der populären Musik innerhalb einer äußerst dynamischen Kulturindustrie vollzogen hat, musikalische Formen herausgebildet haben, die aus sozialen, ästhetischen, aber vor allem auch aus ökonomischen Gesichtspunkten es merkwürdig paradox erscheinen lassen, überhaupt weiter zwischen E und U zu unterscheiden, obgleich eben diese Unterscheidung ja weiterhin im Gebrauch ist und offenbar noch ideologische Funktion für die Kulturindustrie erfüllt.

Stimmt es denn, wenn es im ›Rocklexikon‹ von Barry Graves, Siegfried Schmidt-Joos und Bernward Halbscheffel unter dem Eintrag »Popmusik« heißt: »Popmusik: Abkürzung für populäre Musik ... Tatsächlich ist die Abkürzung deshalb so inhaltsleer, weil mit ihr jedwede Musik bezeichnet werden kann, die nicht eindeutig unter die traditionelle Kunstmusik, also die E-Musik, fällt.« (Reinbek bei Hamburg 1998, S. 1072) Wie ist es denn mit Kompositionen wie Herbie Hancocks ›Rain Dance‹ (auf ›Sextant‹ von 1973) etwa im Verhältnis zu Arrangements von Vanessa-Mae? Beides Pop, beides U-Musik? Beides E-Musik? Beides Kunstmusik?

Das terminologische Dilemma findet sich bereits im ›Ullstein Lexikon der Musik‹ expliziert: »Unterhaltungsmusik [–] von der so genannten Ernsten Musik zu unterscheiden, wäre früher Niemandem eingefallen. Die Werke der großen Tonmeister waren ›ernst‹ und ›unterhaltend‹ zugleich. Beide Begriffe sind unglücklich gewählt, weil ›ernste‹ Musik auf den Inhalt, die Haltung der Musik bezogen werden kann. ›Ernste‹ Musik ist oft heiter, wie Streich-Quartette und Sinfonien von Haydn beweisen, Unterhaltungsmusik trieft dagegen gelegentlich vor Traurigkeit. Mit ›ernst‹ soll nicht so sehr die Musik selbst gekennzeichnet werden als die Art des Umgangs mit ihr ... Die Hörer entscheiden durch ihre Haltung, durch die Art ihres Aufnehmens, zu welcher Gruppe die Werke gehören. Daneben gibt es allerdings Werke, die durch ihre Unbeschwertheit im Anbieten von affektiven Reizen von vornherein als Unterhaltungsmusik zu erkennen sind.« (München 1965, S. 568 f.) Freilich wird das Problem alsbald offenbar: kann man etwa bei der Musik von Don Caballero vom Anbieten affektiver Reize sprechen? Vermutlich wirkt die Musik auf den durchschnittlichen Pophörer eher disparat.

Ich zitiere weiter aus dem Lexikon, weil es jetzt spannend wird für die Differenzierung in Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion: »Die für die Unterhaltungsmusik typische Art des Hörens beginnt beim Geräusch. Der verängstigte Großstädter kann Stille nicht mehr ertragen, wie ihm das Dunkel der Nacht unerträglich geworden ist. Seinen Wunsch nach Klang befriedigt der Rundfunk. Dessen zum Geräusch erniedrigten Sendungen begleiten den Alltag. Die obere Grenze der Unterhaltungsmusik liegt bei der Verbreitung von ›Stimmung‹. Die Psyche wird von Reizen auf das Affektive eingestimmt. Heitere Musik macht heiter, traurige führt zur Melancholie.« (S. 569) Ähnlich wie Adorno in seiner Kritik der leichten Musik legt der Lexikontext nahe, dass die Unterhaltungsmusik sich nach Modellen, nach Schemen richtet, »Seelenmedizin« sei. »Unaktivität ist ein Hauptmerkmal der Unterhaltungsmusik ... ›Ernste‹ Musik dagegen stellt in jedem Augenblick eine Forderung an den Menschen.« (S. 569) So plausibel diese Unterscheidung zu sein scheint, so unpräzise gerät sie angesichts der Musikentwicklung, die sich in den letzten Jahrzehnten zugetragen hat.

Squarepusher im Verhältnis zu Nigel Kennedy macht deutlich, dass das Problem unter Umständen nicht auf Seiten der U-Musik zu suchen ist, sondern in der Krise der E-Musik, beziehungsweise im Sinn- und Bedeutungsverlust des bürgerlichen Hochkulturanspruchs überhaupt. Der Ernst, den die E-Musik für sich beansprucht, oder auf den auch Künstler wie Nigel Kennedy, selbst zum Kitsch herabgesunken, hier rekurrieren, um sich Glanz zu verleihen, geht auf Tiefe, versucht mit einer überkommenen Tonsprache mythische Stoffschichten zu revitalisieren, behauptet die Gegenwärtigkeit des Vergangenen, ohne die eigentlich nötige Vermittlung der Musik zur heutigen Zeit zu leisten, ohne auch auf die Vergangenheit zu reflektieren, die als Unabgegoltene in Vergessenheit zu geraten droht. Squarepushers Musik hingegen ist der reine Sound, die unmittelbare Gegenwärtigkeit der überzeichneten Effekte, übertriebene Technik.

* * *

Inwiefern kristallisiert sich in der Problematik von E und U nun eine kritische Theorie der Popmusik? Die Unterscheidung von E und U wird zur selben Zeit ideologisch fixiert, in der die bürgerliche Kultur sich in ihrer bis heute verteidigten, wenn auch nicht nahtlos durchgesetzten Dichotomie von Hochkultur und Massenkultur formiert. Beide Sphären erfüllen Legitimationsfunktion, die um so nötiger werden, wie es eben die bürgerliche Gesellschaft nicht vermag, ihre Versprechen auf Gleichheit und Freiheit der Menschen einzulösen. Nie waren die beiden Sphären klar getrennt; im Gegenteil, im Versuch, sie zu trennen, überlagerten sie sich nur umso beharrlicher – man denke an die Entwicklung der Operette bei und durch Jacques Offenbach im 19. Jahrhundert, oder an die frühe Melange aus Jazz, Schlager und Varietee in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. So wenig wie die beiden Sphären widerspruchslos zueinander standen, so sehr standen sie – beziehungsweise auch die Künstler, die Kulturproduzenten – im Widerspruch zur Gesellschaft; sowohl in der Hochkultur wie auch in der Massenkultur entwickelten sich vielfältige Formen des ästhetischen Widerstands, künstlerische Formen der Kritik, und sei es, dass sich in den Operetten und Schlagern der Unmut über die bestehende Ordnung ausdrückte.

Die Entwicklung der Kritik und auch Kritikfähigkeit der verschiedenen Künste im 19. Jahrhundert basiert auf der Herausbildung der Kritikmöglichkeit, die zunächst – da es um Legitimation und hegemoniale Ansprüche ging – ästhetisch abgesichert werden konnte: durch Autonomie und dann auch bereits klassenspezifische Weisen der Authentizität, also der Echtheit und Glaubwürdigkeit der ästhetischen Kritik, die natürlich auf den Rückhalt des Publikums angewiesen ist und in einem bürgerlichen Konzertsaal sich anders anhören muss als in einer proletarischen Kneipe oder Music hall. Die ästhetische Autonomie der Musik bedeutete allerdings keine ökonomische Autonomie; im Gegenteil. Mehr und mehr wurde die Musik vom Verwertungsprozess erfasst und formierte sich als Ware auf einem kulturellen Markt, was gleichzeitig bedeutete, dass sowohl die E-Musik wie auch die U-Musik ihre Ausdrucksgestalt jetzt primär den Anforderungen des Marktes anpasste und sich erst in zweiter Linie, wenn überhaupt, auf ästhetische Erwägungen einlassen konnte. Nunmehr war die gesellschaftliche Funktion der Musik, wie Adorno als einer der ersten luzide feststellte, ausschließlich die der Ware. So heißt es in dem 1932 im ersten Jahrgang in der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹ veröffentlichten Grundlagentext ›Zur gesellschaftlichen Lage der Musik‹: »Die Rolle der Musik im gesellschaftlichen Prozess ist ausschließend die der Ware; ihr Wert der des Marktes. Sie dient nicht mehr dem unmittelbaren Bedürfnis und Gebrauch, sondern fügt sich mit allen anderen Gütern dem Zwang des Tausches um abstrakte Einheiten und ordnet mit ihrem Gebrauchswert, wo immer er übrig sein mag, dem Tauschzwang sich unter.« (GS Bd. 18, S. 729)

Und in Adornos, sechs Jahre später in der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹ publizierten Beitrag ›Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens‹ heißt es ausführlicher:

»Das gesamte gegenwärtige Musikleben wird von der Warenform beherrscht: die letzten vorkapitalistischen Rückstände sind beseitigt. Musik, mit all den Attributen des Ätherischen und Sublimen, die ihr freigebig gespendet werden, dient in Amerika wesentlich der Reklame von Waren, die man erwerben muss, um Musik hören zu können. Wird die Reklamefunktion im Bereich der ernsten Musik sorgfältig abgeblendet, so schlägt sie in der leichten allenthalben durch.« (GS Bd. 14, S. 24)

Adorno zitiert die berühmte Passage aus Marxens ›Kapital‹ zur weiteren Erklärung des Fetischcharakters der Ware: »Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, dass sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen.« (Hier GS Bd. 14, S. 24; MEW 23, S. 86)

Und weiter Adorno: »Das gesellschaftliche Einverständnis harmonisiert den Widerspruch. Der Schein von Unmittelbarkeit bemächtigt sich des Vermittelten, des Tauschwerts selber. Setzt die Ware allemal sich aus Tauschwert und Gebrauchswert zusammen, so wird der reine Gebrauchswert, dessen Illusion in der durchkapitalisierten Gesellschaft die Kulturgüter bewahren müssen, durch den reinen Tauschwert ersetzt, der gerade als Tauschwert die Funktion des Gebrauchswertes trügend übernimmt. In diesem quid pro quo konstituiert sich der spezifische Fetischcharakter der Musik: die Affekte, die auf den Tauschwert gehen, stiften den Schein des Unmittelbaren, und die Beziehungslosigkeit zum Objekt dementiert ihn zugleich. Sie gründet in der Abstraktheit des Tauschwerts ... Der Funktionswechsel der Musik rührt an Grundbestände des Verhältnisses von Kunst und Gesellschaft. Je unerbittlicher das Prinzip des Tauschwerts die Menschen um die Gebrauchswerte bringt, um so dichter vermummt sich der Tauschwert selbst als Gegenstand des Genusses. Man hat nach dem Kitt gefragt, der die Warengesellschaft noch zusammenhält. Zur Erklärung mag jene Übertragung vom Gebrauchswert der Konsumgüter auf ihren Tauschwert innerhalb einer Gesamtverfassung beitragen, in der schließlich jeder Genuss, der vom Tauschwert sich emanzipiert, subversive Züge annimmt. Die Erscheinung des Tauschwerts an den Waren hat eine spezifische Kittfunktion übernommen.« (GS Bd. 14, S. 25 f.)

Wenige Jahre später prägt Adorno zusammen mit Horkheimer in der ›Dialektik der Aufklärung‹ dafür den Begriff der Kulturindustrie (1944/47); die kritisch-theoretischen Bestimmungen sind allerdings schon in diesen frühen Texten enthalten: Unter Bedingungen der Kulturindustrie wird alle Kultur, also eben auch die Musik zur Ware; das ist ihre primäre Funktion, der alle anderen Funktionen oder Bedürfnisse, die in der Kunst sich ausdrücken, nachgeordnet sind. So ändert sich im Übrigen auch die Funktion des Rezipienten, der nun vordergründig den Kulturprodukten als Konsument gegenüber tritt. Rezeption ist, bevor sie Rezeption sein kann, ein ökonomischer Tauschvorgang. Die Warenfunktion selbst ist die der Reklame: in der Kulturindustrie dient die Musik einmal der Reklame für sich selber, dann der Reklame für die Welt, so wie sie ist.

Was das im einfachsten Sinne heißt, mag ein Beispiel verdeutlichen, von dem die Marktforschung berichtet: – »Klassische Musik hebt den Umsatz‹: London. Wenn in Restaurants der Umsatz nicht mehr stimmt, liegt es möglicherweise an der Musik. Denn bei Rock und Pop sind die Gäste kniepig, Klassik dagegen macht spendabel. Das ergab eine britische Studie. ›Klassische Musik bringt Assoziationen von Bildung, Wohlstand und Reichtum. Sie gibt einem das Gefühl, ein bisschen vornehm zu sein. In einem Restaurant bedeutet das, die Leute geben etwas mehr Geld aus‹, so der Psychologie-Dozent Adrian North.« (›Hamburger Morgenpost‹, 8. Oktober 2003, S. 48)

In der Kulturindustrie hat der Fetischcharakter gewissermaßen gegenüber dem autonomen Charakter der Kunst gewonnen. Dagegen behauptet sich eine Musik, die sich nicht gänzlich dem Betrieb dadurch überantwortet, indem sie genau auf ihre Bedingungen als Ware, auf ihren Warenfetisch reflektiert. Das heißt aber nichts anders, als das Musik den Prozess der Verwertungslogik in ihr Material selbst aufnehmen muss, also auf die gesellschaftlichen Bedingungen überhaupt reflektiert. Adorno verweist darauf in dem frühen Aufsatz ›Zur gesellschaftlichen Lage der Musik‹: die Musik darf ihre Verwertung nicht als innermusikalisches Problem begreifen, nicht in ihre Isolierung zurückfallen. »Statt dessen gilt es hart einzusehen, dass die Gesellschafts-Fremdheit der Musik, all das, wofür ein eilfertiger und rational unerhellter musikalischer Reformismus Schimpfwörter wie Individualismus, Artistentum, technische Esoterik verwendet, selber gesellschaftliches Faktum, selber gesellschaftlich produziert ist. Und darum auch korrigierbar nicht innermusikalisch, sondern bloß gesellschaftlich: durch Veränderung der Gesellschaft. Es steht dahin, was zu solcher Veränderung dialektisch Musik etwa beitragen mag; gering aber wird ihr Beitrag sein, wenn sie von sich aus eine Unmittelbarkeit herzustellen trachtet, die gesellschaftlich nicht bloß heute verwehrt, sondern schlechterdings nicht wiederherstellbar noch selbst wünschbar ist; und damit zur Verhüllung der Lage beiträgt. Es ist weiter die Frage, wie weit Musik, soweit sie etwa selber in den gesellschaftlichen Prozess eingreifen sollte, in der Lage sein wird, als Kunst einzugreifen.« (GS Bd. 18, S. 730 f.)

Für die Situation der musikalischen Moderne zu Beginn der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, im Schatten des anbrechenden Nationalsozialismus resümiert Adorno allerdings: »Wie immer jedoch es damit sich verhalte: heute und hier vermag Musik nichts anderes als in ihrer eigenen Struktur die gesellschaftlichen Antinomien darzustellen, die auch an ihrer Isolation Schuld tragen. Sie wird um so besser sein, je tiefer sie in ihrer Gestalt die Macht jener Widersprüche und die Notwendigkeit ihrer gesellschaftlichen Überwindung auszuformen vermag; je reiner sie, in den Antinomien ihrer eigenen Formensprache, die Not des gesellschaftlichen Zustandes ausspricht und in der Chiffrenschrift des Leidens zur Veränderung aufruft ... Die Aufgabe der Musik als Kunst tritt damit in gewisse Analogie zu der der gesellschaftlichen Theorie. Wollte man die immanente Entfaltung der Musik absolut setzen, als bloße Spiegelung des gesellschaftlichen Prozesses, so würde man damit eben den Fetischcharakter der Musik sanktionieren, der ihre Not und das heute gerade von ihr darzustellende Grundproblem ist. Dass sie andererseits nicht nach der bestehenden Gesellschaft gemessen werden darf, die sie produziert und zugleich von sich fernhält, steht klar. Dass sie vollends nicht, abstrakt und fern von den tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnissen, als ›geistiges‹ Phänomen genommen werden sollte, das irgendwelche Wünsche der gesellschaftlichen Veränderung unabhängig von deren empirischer Verwirklichung im Bilde vorwegnehmen kann, ist die Voraussetzung jeder historisch-materialistischen und nicht bloß ›geistesgeschichtlichen‹ Methode. Damit ist die Relation von gegenwärtiger Musik und Gesellschaft nach allen Richtungen hin gleich problematisch. Ihre Aporien teilt sie mit der gesellschaftlichen.« (GS Bd. 18, S. 731)

Zur Disposition steht, ob sich nicht in den letzten dreißig Jahren in der zunehmenden Verschränkung der Kulturindustrie eine gänzlich neue Situation für sowohl die E-Musik wie auch die U-Musik ergeben hat. Eine mögliche Verschiebung von E und U offenbart sich derart in den technischen Veränderungen der kulturindustriellen Gesellschaft, etwa auch in Hinblick der Techniken, die unmittelbar nur Reklamezwecken dienen. Adorno reflektiert dies für die Veränderungen durch den Fetischcharakter, die sich in der Regression des Hörens ausdrücken. Er schreibt:

»Regressives Hören tritt ein, sobald die Reklame in Terror umschlägt: sobald dem Bewusstsein vor der Übermacht des annoncierten Stoffes nichts mehr übrigbleibt als zu kapitulieren und seinen Seelenfrieden sich zu erkaufen, indem man die oktroyierte Ware buchstäblich zur eigenen Sache macht. Im regressiven Hören nimmt die Reklame Zwangscharakter an. Ein englischer Brauereikonzern bediente für einige Zeit zu Propagandazwecken sich eines Plakats, das täuschend einer jener weißgefugten Backsteinmauern glich, die in den Armenquartieren Londons und den Industriestädten des Nordens so häufig sind. Geschickt plaziert war das Plakat von einer wirklichen Mauer kaum zu unterscheiden. Auf ihm fand sich, kreideweiß, die sorgfältige Imitation einer ungelenken Schrift. Die Worte lauteten: What we want is Watney's. Die Marke des Biers ward als politische Parole demonstriert. Nicht bloß gewährt dies Plakat Einsicht in die Beschaffenheit der jüngsten Propaganda, welche ihre Parolen ebenso als Waren an den Mann bringt, wie hier die Ware als Parole sich maskiert. Die Verhaltensweise, die das Plakat suggerierte: dass Massen eine ihnen empfohlene Ware zum Gegenstand ihrer eigenen Aktion machen, findet sich in der Tat als Schema der Rezeption leichter Musik wieder. Sie brauchen und verlangen das, was ihnen aufgeschwatzt wird.« (GS Bd. 14, S. 35 f.)*

In der Transformation von der Kulturindustrie zur Popkulturindustrie verlieren die Waren endgültig ihre geschichtlichen Bezug, werden enthistorisiert und nivelliert. Für die Melodien, die bei Mobiltelefonen üblich sind, ebenso wie bei der Produktwerbung, ist es mittlerweile vollständig gleichgültig, ob sie aus dem Bestand der ehemaligen E-Musik kommen oder aus der Popmusik. E und U fallen zusammen. Was heute als E-Musik aufrecht erhalten wird, ist nur noch die ideologische Plakette, deren Unterhaltungswert darin besteht, Bildung zu suggerieren. So wie die U-Musik auf Reize sich weitgehend reduziert, erwecken die als ernst angebotenen Waren den Anschein von Wissen, Information, Gehobenes: es genügt fast schon, dass Streicher zu hören sind. »E« wird merkwürdig zur Strategie, sich einerseits der hegemonialen Kultur anzubiedern und um Anerkennung zu kämpfen (»Hört her, wir können auch Musik machen!«), andererseits ist »E« auch Strategie, sich von ihr abzugrenzen. Das hat damit zu tun, dass mit der Unterscheidung von E und U eine Abwertung der Unterhaltungsmusik verbunden ist. Den Hörer, der bloß sich unterhalten lässt, straft der Liebhaber vermeintlicher E-Musik mit abfälligem Gestus, schließlich zu wissen, was Geschmack ist. Dabei ist sein Geschmack längst auf denselben Schematismus der kulturindustriellen Verfahren hinabgerutscht.

Nivelliert wird damit die Musik selbst, die Trennung zwischen E und U nicht aufgehoben, sondern bestärkt; vollständig ausgeblendet bleiben indes die Produktionsverhältnisse von Musik – zu erinnern ist an dieser Stelle im Übrigen, dass die Unterscheidung von E und U immer noch eine große Rolle bei den Musikrechten und Tantiemen der Verwertungsgesellschaften spielt, ebenso bei Subventionen. Nivelliert werden auch die Hörer auf den Konsumenten: Ernst und Unterhaltung sind beides Muster, die sich nicht auf den Menschen in seiner gesellschaftlichen Stellung beziehen; so wenig wie E-Musik ernst ist, ist die U-Musik unterhaltsam. Unterhaltung wird ebenso wie musikalischer Ernst reduziert auf die Warenmarke. So wie die ästhetische Kategorie des Ernstes, die eigentlich musikalisch den Ernst der gesellschaftlichen Verhältnisse ins Material setzt, bloß das verdinglichte Surrogat des Seriösen ist, mit dem gerade vom sozialen Ernst abgelenkt wird, so dient freilich die Unterhaltung auch nicht dem Bedürfnis, sich zu Zerstreuen, sondern die Zerstreuung wird genutzt, um den Konsumenten das Amüsement anzudrehen, indem eben alles, was nicht ernst ist, unterhaltsam sei. Mithin heißt es in der ›Dialektik der Aufklärung‹ präzisieren: »Ernste Kunst hat jenen sich verweigert, denen Not und Druck des Daseins den Ernst zum Hohn macht und die froh sein müssen, wenn sie die Zeit, die sie nicht am Triebrad stehen, dazu benutzen können, sich treiben zu lassen. Leichte Kunst hat die autonome als Schatten begleitet. Sie ist das gesellschaftlich schlechte Gewissen der ernsten. Was diese auf Grund ihrer gesellschaftlichen Voraussetzungen an Wahrheit verfehlen musste, gibt jener den Schein sachlichen Rechts. Die Spaltung selbst ist die Wahrheit: sie spricht zumindest die Negativität der Kultur aus, zu der die Sphären sich addieren. Der Gegensatz lässt am wenigsten sich versöhnen, indem man die leichte in die ernste aufnimmt oder umgekehrt. Das aber versucht die Kulturindustrie. Die Exzentrizität von Zirkus, Panoptikum und Bordell zur Gesellschaft ist ihr so peinlich wie die von Schönberg und Karl Kraus.« (GS Bd. 3, S. 157) In dieser Exzentrizität, von der Adorno und Horkheimer sprechen, findet die ideologische Scheidung von E und U ihre dialektische Aufhebung. Sie wird zur Möglichkeit des musikalischen Materials, die den »reflektierten Arbeitsbündnissen« (Heinz Steinert und Christine Resch), zu denen die Produzenten gleichermaßen gehören, zur Aufgabe gestellt ist. Dieses Exzentrische, als Ausdruck gegen Stil und Stereotyp, findet sich insbesondere in der Musik, die im 20. Jahrhundert sich quer zur E- und U-Musik entfaltete, vor allem im Jazz und Soul, später im Punk und New Wave.

Solche Materialdialektik ist durchaus auch bei Adorno aufgehoben, wenn er etwa im Nachwort seiner ›Einleitung in die Musiksoziologie‹ bemerkt: »Die Werke wechseln durch ihre Reproduktion, die sie dem Markt zueignet, ihre Funktion; prinzipiell kann die ganze obere Musiksphäre, mit Ausnahme der widerspenstigsten avantgardistischen Werke, zur U-Musik werden. Das musikalisch falsche Bewusstsein der Reproduzierenden, ihre objektiv nachweisliche Unfähigkeit, die Sache adäquat darzustellen ..., ist ebensowohl auch gesellschaftlich falsch, wie zugleich durch die gesellschaftlichen Verhältnisse erzwungen. Richtige Reproduktion wäre soviel wie gesellschaftliche Verfremdung. Grundsätzlich gewinnt Musik ihren gesellschaftlichen Wahrheitsgehalt allein noch durch Opposition, durch Kündigung ihres Gesellschaftsvertrags.« (GS Bd. 14, S. 426)

Will sagen: An Adorno zu kritisieren, dass er die avantgardistischen Strömungen jenseits der U-Musik, nämlich im Jazz und den aus ihm folgenden Entwicklungen, nicht hören wollte, ist keine Frage von Geschmack, sondern ein systematisches Problem seiner auf Gesellschaftskritik zielenden Ästhetik; es ist gleichwohl auch ein begriffliches Problem, dem Adorno zwar Konturen gegeben hat, aber keine den Gegenständen angemessene Analyse. – Diedrich Diederichsen spricht davon, dass Adorno mit richtigen Analysen zu den falschen Ergebnissen kommt; kritisch ist indes das Gegenteil zu postulieren: es sind richtige Ergebnisse, aber falsche Analysen. Um diese Gegenposition zuzuspitzen: Den Gesellschaftsvertrag hat die E-Musik sowenig gekündigt wie die U-Musik; allein diejenigen, die aus dem Gesellschaftsvertrag ausgeschlossen waren, bis die Kulturindustrie an ihnen Gefallen und Interesse zeigte, etablierten eine Musik der ästhetischen Opposition, ganz im Sinne des hier von Adorno gemeinten Exzentrischen der gesellschaftlichen Verfremdung. Diese Musik kommt nicht aus der E-Musik und nicht aus der U-Musik; sie kommt von außen, wie bei den utopischen Sozialisten vom Saturn, ›Space is the Place‹.

Nachtrag. Anmerkungen zu Gerhard Scheit, ›Roll over Adorno? Kleine Musikgeschichte des Fordismus (notiert nach Art der Sonate)‹

Dort resümiert Adorno: »Dennoch ist zu fragen, ob nicht auch der Ernst, der auf Kunst lieber ganz verzichten möchte, als sie in den wie immer gearteten Dienst der gegenwärtigen Realität zu stellen, abermals nur eine verkappte Form der Anpassung ist: der an jenen bereits universalen Geist einer Praxis, die im Bestehenden sich zufriedengibt, ohne irgend noch darüber hinauszugehen. So sehr alle Kunst heute ein schlechtes Gewissen hat und haben muss, wofern sie sich nicht dumm machen will, so falsch wäre doch ihre Abschaffung in einer Welt, in der immer noch das herrscht, was als seines Korrektivs der Kunst bedarf: der Widerspruch zwischen dem was ist und dem Wahren, zwischen der Einrichtung des Lebens und der Menschheit.« Adorno, ›Das Altern der Neuen Musik‹ (GS Bd. 14, S. 167)

In dem Verhältnis von E und U findet die grundlegende Widerspruchslogik des kapitalistischen Vergesellschaftungsprozesses ihren Ausdruck; auch der Dialektik der Kultur bleibt die strukturelle Dynamik gesellschaftlicher Widersprüche nicht äußerlich, nur so haben sich überhaupt die getrennten Sphären populärer Massenkultur und elitärer Hochkultur, samt Überschneidungen und Zerfallsderivaten, herausbilden können. Auch die kritische Reflexion vermag nicht unabhängig von solchem Ausdruckszusammenhang operieren, will sie nicht als Ideologie bloß positivistisch wiederholen, was ohnehin schon ist. So mutet es paradox an, Gerhard Scheits ›Roll over Adorno?‹ einerseits als stringente Fortsetzung und Aktualisierung der Jazzkritik Adornos zu verstehen, andererseits den Text genau deshalb jedoch als Verlängerung eines letzthin eindimensionalen Trugschlusses über Jazz, Rock und Pop zu lesen. Den Versuchen, mit oder gegen Adorno eine kritische Theorie der Popmusik, also der gegenwärtigen Musik zu entwerfen, vermag Scheit allesamt nichts abzugewinnen: »Adorno lässt sich nicht verjazzen, die Negative Dialektik nicht einmal rappen. Die Differenz zwischen U- und E-Musik ist mehr als die Grenze zwischen zwei Marktsegmenten – sie hat in der Produktion ihren Sitz, und bis dorthin reicht die beschwingte Adorno-Kritik der akademischen Vatermörder meist nicht. Wenn es darum über autonome Kunst und kulturindustriellen Pop, über Atonal-Seriell-Minimal und Jazz-Rock-Rap, noch irgendetwas zu sagen gibt, dann in ihrem Zusammenhang mit der Durchsetzung der abstrakten Arbeit als universaler Kategorie der Gesellschaft – Kunstautonomie und Kulturindustrie sind die beiden ästhetischen Seiten dieser Durchsetzung. Denn bei Adorno, der im Unterschied zu den meisten seiner verjazzten und poppigen Kritiker noch einen Begriff von Wertkritik – als Kritik der abstrakten Arbeit – hatte, ist gerade dieser Zusammenhang etwas verdeckt – aber er ist vorhanden.« (Scheit, ›Roll over Adorno‹, in: ›Weg und Ziel‹, Nr. 5 / 1997, S. 3) Zur Wertkritik gehört ein Begriff der Krise, die sich nicht nur ökonomisch manifestiert, sondern auch in der »Kultur« ihren Ausdruckszusammenhang findet: Insofern ist die Krise nicht gleich Zusammenbruch, sondern der tendenzielle Fall der Profitrate, der sich allerdings in den gesellschaftlichen Verhältnissen des Kapitalismus, in den Formen der Vergesellschaftung der kapitalistischen Subjekte konkretisiert. Fordismus ist nicht nur die spezifische, automatisierte Produktionsweise, sondern das Auto und die mit ihm verbundene Ideologie selbst – und so auch der Jazz. Scheit führt dies luzide aus: »Der Siegeszug des Jazz verlief parallel zu dem des Automobils. Es waren die Fabriken Henry Fords, die ab 1908 das Fahrzeug mit Verbrennungsmotor (Modell T) zur Massenware machten — und weil in diesen Fabriken mit Fließband und tayloristischen Methoden auch ein neues Niveau in der ›Rationalisierung‹, in der Abstraktheit und Messbarkeit von Arbeit erreicht wurde, das bald auf die Produktion anderer Konsumgüter übergriff, sprechen Ökonomen mit einigem Recht vom Zeitalter des Fordismus, das damals angebrochen sei. [/] Etwa zur selben Zeit und schneller noch als das Auto entwickelte sich die Schallplatte zur Massenware; auf ihrer Grundlage erst avancierte der Jazz zur ersten nahezu globalen Unterhaltungsmusik. Die erste Jazzplatte ging 1918 (in New Orleans) in Produktion. Der Fordismus zeichnet sich auf der Ebene des Marktes vor allem dadurch aus, dass zum ersten Mal in der Geschichte breiteste Schichten als Konsumenten der industriell gefertigten Waren gewonnen werden konnten, neue Bedürfnisse geweckt oder alte umgeleitet wurden, die zuvor noch von Kleinbetrieben, Handwerkern, oder überhaupt nicht in Form von Waren bedient wurden. Während also früher dem Platzkonzert der örtlichen Blechmusikkapelle gelauscht oder zur Polka im Gasthaus getanzt wurde, kaufte man sich nun in zunehmendem Maß, so man genügend Geld hatte, eine Schellack oder Schallplatte (der Plattenumsatz stieg etwa in Deutschland zwischen 1906 und 1930 von 1,5 Millionen auf 30 Millionen Stück, 1977 waren es dann 136,4 Millionen). [/] Das Auto verhält sich auch hinsichtlich seines Gebrauchswerts zur Eisenbahn – der ersten industriellen Form der Mobilität –, wie die Jazzband zur Blasmusik: diese war die frühe Begleitmusik der Industrialisierung, ob sie nun von Militär-, Dorf- oder Werkskapellen geblasen wurde ... Wie das Auto dem einzelnen Fahrenden Mobilität relativ unabhängig von den anderen ermöglichte (das Fahrrad fungiert hier in gewisser Weise als Auto des kleinen Mannes), so der Jazz dem einzelnen Spielenden im Ensemble. Die Analogie soll nicht überspannt werden, aber beide, Auto und Jazz, gewannen im Fordismus geradezu symbolischen Gebrauchswert – also einen Gebrauchswert, der für viele andere stand: sie galten als Inbegriff der Freizeit – ja als Ding, das die Freizeit in Freiheit verwandeln konnte. Diese symbolische Bedeutung gilt es im Inneren der Musik selbst dingfest zu machen.« (Scheit, S. 3) – Scheit füllt eine Lücke in der kritischen Theorie gegenwärtiger Kultur, in der Kritik der Kulturindustrie. Die Grundthese der Kulturindustriekritik hatten Adorno und Horkheimer in der ›Dialektik der Aufklärung‹ formuliert: alle Kultur wird zur Ware; und gemeint war dies in Anwendung der Marxschen Analyse der Verwertungslogik und des Fetischcharakters. Nicht sollte bloß der Kommerz moniert werden, sondern herausgestellt werden, was die Warenförmigkeit für die kulturellen Produkte selbst bedeutet, inwiefern es sie verdinglicht. Sie verlieren ihren Wahrheitsgehalt; und in dem Maße, wie sich die Produktionsverhältnisse in die Kultur verlängern, verlieren sie zudem jede Möglichkeit, sich aus dem verwertungslogischen Zwang zu befreien. Bei Adorno bleibt aber Desiderat, wie diese Warenförmigkeit zu erkennen sei, woran sie gemessen wird. Und Scheit argumentiert nun für den Rhythmus als Ausdruck und Indikator. Damit füllt er aber nicht nur eine Lücke, sondern verlängert ebenso die theoretische Schwierigkeit, die einmal diese Lücke klaffen ließ.

Die Krisendynamik, die Scheit zwischen Auto, Jazz und kapitalistischer Verwertungslogik ausmacht, mündet für Scheit 1997 im »Ende der Pop-Musik ..., das der Rap ausplaudert.« Dieses Ende »lässt sich wie jenes der ernsten Musik, über das schon John Cage schmunzelte, nicht rückgängig machen, so lange es sich auch hinziehen mag. Eine wirklich neue Musik kann es nur noch jenseits des Fetisch-Systems von U- und E-Musik, Beat und Off-Beat, geben. Und solange diese Schwelle nicht überschritten ist, bleibt jenes Spannungsverhältnis in Kraft, in dem sich Adorno immerzu bewegte: ›Es gibt kein richtiges Leben im Falschen‹, heißt es 1944 in den Minima Moralia ...« (Scheit, S. 10) Die Popmusik ist das endgültige Ende der ernsten Musik; nicht nur, weil sie selbst den Hohn, mit dem die E-Musik das Populäre einst behandelte, wie ein Echo ertönen lässt, sondern weil sie das, was musikalisch das Ende markiert, zu ihrem Material macht, aus dem Schund der ernsten Hochkultur nunmehr Unterhaltung bastelt. Rhythmus hält das zusammen. Rhthmus hält aber auch zusammen, was nicht mehr zusammen gehalten werden kann: Das Ende der Popmusik ist auch das Ende der Parameter, an denen Popmusik geschichtlich zu messen wäre. Ihr ist buchstäblich alles egal; Scheits Rekonstruktion einer kleinen Musikgeschichte des Fordismus ist nicht minder konstruiert wie das Automobil auf dem Fließband.

Scheit polemisiert in seinem Text gegen die Vatermörder, gegen die »nicht wenigen Jazz- und Rock-Fans«, »die vielleicht sogar in einer Band« spielen«, die mit dem »Jazz-Verdikt Adornos« nicht klar kämen, dass nämlich »ausgerechnet der Meister der Negativen Dialektik ... ihnen diesen Rhythmus« verdürbe etc. Der Affront, den Scheit konstruiert, richtet sich nicht grundsätzlich gegen den Versuch, Adornos Überlegungen zum Jazz für gegenwärtige Popmusik zu aktualisieren; genau das unternimmt ja Scheit mit Bezug auf die Musik, die er als »Rap« bezeichnet ja selbst. Der Affront richtet sich gegen den Fan, als welcher derjenige, der Jazz oder Rock gegen Adorno verteidigt, per se auftritt. Der Fan, der Fanatiker also, entspricht den Mustern des regressiven Konsumenten, der sich das billige Produkt als hochwertig andrehen lässt, samt des pseudoradikalen Subversionsversprechen. Adorno hat genau dies in seiner Hörertypologie an eben dem Jazz-Fan gezeigt. Ist der Fan aber eine Funktionale der Warenlogik oder der Musik? Ist der Off-Beat oder die Synkope Ausdruck eines sozialen Charakters, der bereitwillig einschnappt und sich als Experte glaubt, wo er doch nur der bessere Konsument ist, oder ist es ein Automatismus, der im Off-Beat und in der Synkope selbst liegt, wonach der Hörer einschnappen muss und gar nicht anders kann? Die autonome Musik, von der Adorno handelte, unterscheidet sich vom Jazz und Schlager auch dadurch, dass sie gegenüber dem Hörer autonom ist, im Sinne einer ästhetischen Souveränität – die Dummheit des halbgebildeten Konzertpublikums kann einer Mahlersinfonie nichts anhaben; das Unverständnis gegenüber Schönberg ff. dient eher noch als Beleg seiner ästhetischen Vermittlungskraft. Nicht dass diese Autonomie der meisten Popmusik so fehlt wie sie der E-Musik längst abgegangen ist (nämlich spätestens mit der Entwicklung des Systems Popmusik); sowohl Adorno wie auch Scheit schließen, wie es scheint, von vornherein die Fähigkeit einer – wenn man so will – Autonomisierung unter gegebenen Bedingungen diese Musik aus. Solches Vermögen zur Autonomie bestand für die E-Musik als Reflexion ihrer Produktionsbedingungen, einschließlich der bürgerlichen Funktion des Künstlergenies. Erst die Produktionsverhältnisse, die prekär alles zu U-Musik machen und dem Profitmotiv unterordnen, bilden allerdings die Bedingungen, solche autonome und Autonomie entfaltende Reflexion in der Musik zuzulassen.

Problematisch an Scheits Entwurf einer »kleinen Musikgeschichte« scheint insofern, dass er das »Fetisch-System von U- und E-Musik« fortschreibt, ohne dessen strukturelle Dynamik freizulegen; der Versuch, diese Musikgeschichte mit Wertkritik als Kritik der abstrakten Arbeit zu verbinden, bleibt schließlich bei der bloßen Analogie hängen, die als Maßstab ihrer musikkritischen Reichweite an eben den Kategorien festhalten muss, die der Ideologie der bürgerlichen Kultur insgesamt obliegen. Die Analogie zwischen Fordismus und Jazz findet Scheit im Off-Beat und der Synkope: »Als wichtigstes Charakteristikum des Jazz, wie auch der an ihn anschließenden Musikformen (Pop, Rock etc.), kann eine bestimmte Art von Rhythmus gelten: Off-Beat und Synkope in Permanenz, die den Beat – die Betonung der regelmäßigen Schlagzeit – konterkarieren. Der Beat, der bei dem bevorzugten Vierviertel-Takt den ersten und dritten Taktschlag akzentuiert, wird nicht aufgehoben, aber abgewertet. Der Unterschied zwischen Off-Beat und Synkope ist dabei eher ein gradueller: die Synkope ist gewissermaßen Off-Beat in großer, notierbarer Gestalt; Off-Beat die Synkope im Kleinen. Aus der Spannung zwischen Beat und Off-Beat entsteht nun der charakteristische swing oder drive oder rock...« (Scheit, S. 3 f.) Damit wird U-Musik – und im Übrigen auch E-Musik – beschreibbar, aber nicht kritiserbar. Die E-Musik scheitert ebenso wie die U-Musik; während nach Scheit allerdings die E-Musik dies in mehr oder weniger reflektierter Auseinandersetzung mit ihrem Material tut, um schließlich in Cages ›4‘33”‹ bewusst und konsequent zu verstummen, entfaltet sich die U-Musik scheinbar blind (oder besser stumm), dem Automatismus von Off-Beat und Synkope folgend. Die »kleine Musikgeschichte des Fordismus« folgt selbst dem Fließband der seriellen Produktion: Jazz, Swing, Big Band, Bebop, Rock’n’Roll, Jimi Hendrix, Bob Dylan, Rap. Auf der anderen Seite: Wagner, etwas Mahler, Schönberg, Cage. Die Musikgeschichte aus der Entwicklung von Off-Beat und Synkope zu entfalten, bleibt eindimensional: Takt und Arbeit, Rhythmus und Wertlogik verschmelzen zu einem Kanon einer linear fortschreitenden Geschichte, die keinen Stillstand, keine Ungleichzeitigkeiten, keine Sprengung des Kontinuums kennt; ausgeschlossen ist nach diesem, selbst schon wertlogischen Zeitbegriff, dass ausgerechnet die musikalische Zeit (Beat wie Off-Beat) der, wenn man so will, Frequenz kapitalistischer Lebenszeit und ihrer warenförmigen Einheiten entgegenläuft. Scheits Darstellung einer kleinen Musikgeschichte des Fordismus kennt keinen Punk, keinen exzentrischen Jazz, keine experimentelle Rockmusik, keinen Funk und Fusion, keinen New Wave, kein Emocore, Hardcore, Grindcore, keinen Jungle, keinen Drum ’n’ Bass, keinen Postrock, und keine Musik, die sich jeder dieser Kategorisierungen versperrt. Popgeschichte als Geschichte von Anekdoten: Pink Floyds ›Dark Side of the Moon‹ von 1973 war noch über fünfzehn Jahren nach Erscheinen in den Top-100-Albumcharts; die Band bietet ihre Version eines romantischen Anti-Kapitalismus – und ›Money‹ (»Money so they say / Is the root of all evil today«) ist ausgerechnet im 7/8-Takt.

Adornos kritische Theorie ist in erster Linie kritische Theorie der Gesellschaft, keine ästhetische Kritik, wenngleich diese auch Bestandteil einer Kritik gesellschaftlicher Totalität ist. Es geht also nicht um eine ästhetische Korrektur der kritischen Theorie, erst recht nicht um ihre geschmäcklerische Nivellierung. Ausgangspunkt für eine kritische Theorie bleibt der Umstand, dass die gesellschaftliche Funktion der Musik heute ausschließlich die der Ware ist. Genau hier setzt sich die Dialektik zwischen E und U allerdings prekär fort: denn in dieser Perspektive erscheinen Jazz, Rock, HipHop etc. den gesellschaftlichen Verhältnissen adäquater als die Surrogate und Derivate der E-Musik; indessen ist die ästhetische Dimension, über die E-Musik noch verfügt, keine greifbare Reflexionsinstanz mehr, die das musikalische Material in eine radikale, kritische Relation zum Sozialen bringen könnte, außer in der anachronistischen und antiquierten Wiederholung der zur Ideologie geronnen hochkulturellen Maßgaben. Adorno hat dies als ›Altern der Neuen Musik‹ festgehalten.

E-Musik hat Geschichte, sie altert. Popmusik vermag das nicht, scheinbar. Jazz nannte Adorno die zeitlose Mode; er beschrieb seine Attraktionskraft für ein kleinbürgerliches, halbgebildetes Publikum. Im Zuge der kulturellen Veränderungen nach Adornos Tod, im Zuge der Transformation der Kulturindustrie in eine Popkultur ist die Mode zur allgemeinen Signatur der Musikindustrie geworden; der Jazz ist zugleich auch die erste Musik der Kulturindustrie, die unmodern wurde. Nicht nur derjenige, der den Jazz gegen Adorno verteidigt, wirkt in seinem Bemühen verspätet; gegenüber der gegenwärtigen Popmusik wirkt Adornos Jazz-Verdikt kulturpessimistisch, konservativ. Ende der Neunziger war »Rap« längst das Etikett, mit dem aufgeweckte Pädagogen ihr Interesse an Jugendkulturen demonstrieren wollten. Scheit verweist auf den HipHop, der die geschichtlichen Spuren verdeutlicht, die längst im Jazz angelegt waren: Popmusik als Ende der Geschichte, indem es ihren Anfang setzt – das ist das Wesen der Mode, die ewige Wiederkehr des Neuen. Mode bleibt die Musik für diejenigen, denen es nicht um Vermittlung geht: das Konsumpublikum unterscheidet sich diesbezüglich gar nicht vom Kulturkonservativen, der auf seine Klischees einschnappt, wie der Konsument auf die Stereotypen. Wer bei Popmusik nicht mehr hört als Off-Beat, Synkope, 4/4-Takt, hört von der Musik kaum etwas.

»Eröffnete die Technik zunächst neue Möglichkeiten der Individualisierung, so werden sie im Rap wieder kassiert. Das freie Singen, das sich in der Spannung zwischen Beat und Off-Beat entfalten konnte, wird auf ein monotones, schnelles und abgehacktes Beat-Sprechen reduziert, das so etwas wie einen Off-Beat nur noch in rhythmischen Betonungen erkennen lässt; das parodistische Moment, das der Rock mitunter vom Jazz übernommen hatte, wird auf bloßes Recycling heruntergeschraubt (dem Sampling fehlt die Ironie) .« (Scheit, S. 10) Dagegen: Schon die ersten Popsamplings von Mother Mallard zu Beginn der Siebziger waren ironisch zu hören; Frank Zappa, Bootsy Collins, selbst Kraftwerk haben mit Samplingverfahren nachgerade die ironischen Anekdoten der Popgeschichte geliefert. Zum Rap indes parallel: House, Disco, Techno, und zwar Detroit mehr als EBM, weitgehend ohne Gesang, und dennoch Gil Scott-Heron, The Last Poets, die ganzen Remixe von Grandmaster Flash, die ohne Gesang auskommen ... »Allein diese Aufblähung mit Text schwächt die Beat-Off-Beat-Spannung beträchtlich und macht das Aussingen einer Melodie unmöglich ... Dabei zeigt sich oftmals eine neue musikalische Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern (die sich übrigens auch in der Kleidermode niedergeschlagen hat): die Männer rappen im Vordergrund, die Frauen singen im Hintergrund.« (Scheit, S. 10) Aphex Twin (›Windowlicker‹, insbesondere – was Rappen, Geschlechterverhältnis, Schnitte, Zeit betrifft – in Verbindung mit Chris Cunninghams 10:33-Version des Videos) ... Minimalismus. Abstraktion. Dagegen aber zur selben Zeit die Entwicklung der Rave-Musik. Und doch bleibt Scheits Resümee: »Wenn die hier entwickelte Theorie des Off-Beat stimmt, dann deutet sich in der Abschwächung der Off-Beat-Spannung vielmehr ein insgesamt verändertes Verhältnis von Arbeit und Freizeit, Staat und Individuum an – dann läutet der Rap das Ende des Fordismus ein. Die Zeit ist nicht mehr zerrissen in Freizeit und Arbeit – sie ist flexibilisiert.« (Scheit, S. 10) Sie ist so flexibilisiert wie die Geschichte, der sie zur Signatur wird; aber es bleibt die kapitalistische Zeit, die unter dem Wertgesetz auch flexibilisiert noch am linearen Kontinuum sich festhält. Das flexible Verfügbarkeit von Zeit, wie die Popmusik sie verspricht, ist Ideologie, im Kern: Kulturindustrie, nämlich die Bestätigung der Verhältnisse so, wie sie sind. Sie bleibt zerrissen in Freizeit und Arbeit unter dem Vorwand, dass nun auch in der Freizeit gearbeitet wird, um die Arbeit wie Freizeit erscheinen zu lassen. Das ist die ökonomische Dimension der Verwischung von E und U. Alles wird Unterhaltung, ohne dass damit der Ernst überhört werden könnte, der selbst noch im fröhlichsten Popsong zynisch sich versteckt. Scheit schließt mit Adornos Satz: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.« (GS Bd. 4, S. 42) Der Aphorismus ist mit »Asyl für Obdachlose« überschrieben, es geht um das Wohnen; Adorno verweist hier, allerdings ohne namentliche Nennung, auf Siegfried Kracauers gleichlautend überschriebenen Essay aus ›Die Angestellten‹; dort notierte Kracauer bereits vor über einem halben Jahrhundert, was die Popkultur noch immer zusammenhält, was E und U noch immer scheidet: »Je mehr die Monotonie den Werktag beherrscht, desto mehr muss der Feierabend aus seiner Nähe entfernen; vorausgesetzt, dass die Aufmerksamkeit von den Hintergründen des Produktionsprozesses abgelenkt werden soll. Der genaue Gegenschlag gegen die Büromaschine aber ist die farbenprächtige Welt. Nicht die Welt, wie sie ist, sondern wie sie in den Schlagern erscheint. Eine Welt, die bis in den letzten Winkel hinein wie mit einem Vakuumreiniger vom Staub des Alltags gesäubert ist. Die Geografie der Obdachlosenasyle ist aus dem Schlager geboren.« (›Die Angestellten‹, Frankfurt am Main 1974, S. 97)

Roger Behrens, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bauhaus-Universität Weimar, Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg und an der Universität Lüneburg. Redakteur der ›Zeitschrift für kritische Theorie‹ und Mitherausgeber der Buchreihe ›Testcard. Beiträge zur Popgeschichte‹. Zuletzt erschien: ›Krise und Illusion. Beiträge zur kritischen Theorie der Massenkultur‹ (Münster et al. 2003), ›Die Diktatur der Angepassten. Texte zur kritischen Theorie der Popkultur‹ (Bielefeld 2003), ›Verstummen. Über Adorno‹ (Hannover/Laatzen 2004).

Anmerkung

* Ein neueres Beispiel vermag indessen zu zeigen, dass Adornos Befund keineswegs so konstruiert ist, wie er hier erscheinen mag im Zusammenhang mit Propaganda, Parole und Werbung. ›Financial Times Deutschland‹, 8. Oktober 2003: ›Plattenfirmen machen Millionen mit Klingeltönen‹: von Thomas Clark, New York: »Die Musikindustrie wird in diesem Jahr fünf Mal soviel Geld mit Klingeltönen für Handys verdienen wie mit dem Verkauf von digitaler Musik über das Internet ... Eine Band wie die Sugababes habe mit ihrem Lied ›Round Round‹ mehr Geld als Klingelton verdient als mit dem eigentlichen Verlauf der Single, behauptet Mark Mulligan, Analyst bei Jupiter in London ... Ein Klingelton könnte sich beispielsweise ideal als ›Köder‹ für den neuesten Hit eines Stars eignen, deren erste Töne die Fans aufs Handy bekommen, noch bevor das Lied im Radio gespielt wird oder in den Plattenläden erhältlich ist.« (S. 4) – Die ›Sarabande‹, ursprünglich von Händel, hier in einer triefenden, kitschigen Fassung, ist ein gutes Beispiel: Unter Umständen dürfte diese Veröffentlichung eine der ersten oder zumindest wenigen Single-Auskopplungen aus dem vermeintlichen E-Bereich sein (wobei in der Frühzeit der Schallplatte gewissermaßen alle Veröffentlichungen aufgrund der Länge Singles waren; auch als das Format der Single auf den Markt kam, wurde versucht, Klassik entsprechend anzupassen – zum Beispiel ›Der Chor der Gefangenen‹ von der Deutschen Grammophon). Auf der Single finden sich die »Original Version«, was immer das auch sei, außer das hier das Cembalo zu hören ist, sowie zwei Orchesterbearbeitungen, eine davon »extended«. Auf dem Cover Aufkleber: »Aus der TV Werbung«, nämlich Levis-Jeans; und: »Hol dir die Melodie von ›Sarabande‹ auf dein Handy«, mit Klingeltonbestellcode. Auf dem Longplayer, der neben dieser Werbemusik ausschließlich »Klassik« bietet, die als Filmmusik Verwendung fand, gibt es noch einmal diese Aufkleber. Hier stehen Bach, Mahler, Elgar, Mozart, Rachmaninow und Barber nun unterschiedslos zusammen.Zurück zur Textstelle

© links-netz März 2004