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Die Bedeutung von Seattle

Walden Bello

„The Battle of Seattle“: Noch ein Jahrestag.
Der zwanzigste Jahrestag des Mauerfalls ist hierzulande als nationales Großereignis bis zum Überdruss abgefeiert worden. Dabei gäbe es durchaus noch an Anderes zu erinnern. Vom 30. November bis zum 2. Dezember 1999 sollte in Seattle (USA) eine Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation WTO stattfinden. Deren Zustandekommen wurde durch die militanten Aktionen einer großem Zahl von DemonstrantInnen verhindert, die aus sehr unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen kamen – von anarchistischen bis hin zu kirchlichen und gewerkschaftlichen. Obwohl die Auseinandersetzungen im Vergleich mit späteren Ereignissen, z.B. in Genua oder Heiligendamm noch eher harmlos waren, kam es wie üblich zu harten staatlichen Reaktionen, aber vor allem war auch die mediale Resonanz enorm. Ob „The Battle of Seattle“ tatsächlich als Geburtsstunde der internationalen globalisierungskritischen Bewegung anzusehen ist, mag dahingestellt bleiben. Ohne Zweifel aber hat das Ereignis wesentlich dazu beigetragen, ihr einen Platz in der Öffentlichkeit zu schaffen und die neoliberale ideologische Hegemonie etwas ins Wanken zu bringen.
Zum zehnten Jahrestag dieses Ereignisses veröffentlichen wir einen Beitrag von Walden Bello, einem der prominenteren Aktivisten der Bewegung, der selbst an den Aktionen in Seattle teilgenommen hat. Vom selben Autor gibt es auch einen Kommentar zur Klimakonferenz in Kopenhagen (www.focusweb.org).
Die Redaktion

Es ist inzwischen allgemein akzeptiert, dass die Globalisierung – gemessen an dem dreifachen Versprechen, Länder aus der Stagnation zu befreien, Armut zu beseitigen und Ungleichheit zu verringern – ein Fehlschlag war. Die aktuelle globale Abwärtsbewegung, die ihre Ursachen in der von der von den Unternehmen vorangetriebenen Globalisierung, in der Liberalisierung der Finanzmärkte und in der diese legitimierenden neoliberalen Ideologie hat, ist der letzte Sargnagel für dieses Projekt.

Das sah eine Dekade zuvor noch ganz anders aus. Ich erinnere mich noch an die triumphale Aura, mit der das erste Ministertreffen der Welthandelsorganisation im November 1996 in Singapur umgeben wurde. Damals erzählten die Vertreter der USA und anderer entwickelter Länder, die Globalisierung sei unvermeidlich, sie weise in die Zukunft, und es käme nur noch darauf an, die Politiken der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds und der Welthandelsorganisation „kohärenter“ zu machen, um schnell das neoliberale Utopia einer integrierten Weltökonomie zu erreichen.

Tatsächlich schien die Wucht der Globalisierung alles hinwegzufegen, die Wahrheit eingeschlossen. In dem Jahrzehnt vor Seattle gab es noch zahlreiche Studien und auch UN-Berichte, die den Anspruch in Frage stellten, Globalisierung und die Politik der freien Märkte würden zu nachhaltigem Wachstum und Wohlstand führen. Im Gegenteil! Die Studien zeigten, dass diese mehr Ungleichheit und mehr Armut erzeugen und insbesondere im globalen Süden die ökonomische Stagnation befestigen würden. Diese Zahlen wurden von WissenschaftlerInnen, der Presse und den PolitikerInnen als „Faktoide“ und nicht als Fakten wahrgenommen. Pflichtbewusst wiederholten diese Leute das neoliberale Mantra, dass ökonomische Liberalisierung Wachstum und Wohlstand schaffe. Aus dieser orthodoxen Sichtweise, bis zur Unendlichkeit wiederholt in Hörsälen, Medien und politischen Zirkeln, handelte es sich bei den GlobalisierungskritikerInnen um eine moderne Variante der Ludditen, also der Menschen, die während der industriellen Revolution Maschinen zerstörten, oder die, wie Thomas Friedman uns geringschätzig bezeichnete, glaubten, die Erde sei eine Scheibe.

Dann kam Seattle. Nach diesen bewegten Tagen begann die Presse, über die „dunkle Seite der Globalisierung“ zu sprechen, über Ungleichheiten und Armut, die durch die Globalisierung erzeugt wurden. Dann gab es spektakuläre Überläufer aus dem neoliberalen Globalisierungslager, etwa den Finanzier George Soros, den Nobelpreisträger Joseph Stiglitz und den Starökonomen Jeffrey Sachs. Der intellektuelle Rückzug erreichte vor über zwei Jahren einen Höhepunkt, als eine Gruppe neoklassischer Wirtschaftswissenschaftler, angeführt von Angus Deaton von der Princeton-Universität und dem ehemaligen IWF-Chefökonomen Ken Rogloff mit einem umfassenden Bericht an die Öffentlichkeit traten. Sie machten darauf aufmerksam, dass die Forschungsabteilung der Weltbank – die Quelle, auf die sich die optimistischen Einschätzungen der Globalisierung hauptsächlich stützten – willkürlich Daten verdreht und/oder uneinlösbare Versprechungen verbreitet hatte.

Es ist wahr, der Neoliberalismus wird im verantwortungslosen Diskurs vieler Ökonomen und Technokraten weiter propagiert. Aber schon vor dem aktuellen Finanzkollaps hatte er erheblich an Glaubwürdigkeit und Legitimität eingebüßt.

Woher kommt das? Weniger von wissenschaftlicher Forschung und Debatte, sondern von politischer Aktion. Es bedurfte der Anti-Globalisierungsaktionen von Massen von Menschen in den Straßen von Seattle, die sich mit dem Widerstand der im Sheraton-Kongresszentrum versammelten Repräsentanten vieler Entwicklungsländer verbanden, und einer Polizeiorgie, um die WTO-Ministerkonferenz zum Scheitern zu bringen und aus Faktoiden wieder Fakten zu machen, oder besser, sie in Wahrheit zurück zu verwandeln. Das intellektuelle Debakel, das der Globalisierungsdiskurs durch Seattle erfuhr, hatte sehr reale Konsequenzen. Heute gibt der Economist, wichtigster Befürworter der neoliberalen Globalisierung, zu, dass „die Integration der Weltökonomie an fast allen Fronten auf dem Rückzug ist“ und dass sich tatsächlich ein „Deglobalisierungsprozess“ entwickelt, der einst undenkbar erschien.

Seattle war das, was der Philosoph Hegel ein „welthistorisches Ereignis“ nennt. Die fortdauernde Lehre daraus ist, dass es die Wahrheit nicht einfach irgendwo da draußen gibt und sie objektiv und ewig wahr bleibt. Vielmehr entsteht Wahrheit in der Aktion, durch die sie umgesetzt und anerkannt wird. In Seattle haben gewöhnliche Menschen Wahrheit durch eine kollektive Aktion Wirklichkeit werden lassen und damit ein intellektuelles Paradigma zerschlagen, das als ideologischer Wächter von Unternehmensherrschaft fungierte.

Der Text von Walden Bello wurde am 30.11.2009 von Focus on Trade Nr. 147 publiziert (www.focusweb.org). Übersetzung aus dem Englischen: Joachim Hirsch

© links-netz Dezember 2009