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Militärradikalismus in Venezuela – ein Modell für andere Entwicklungsländer?

Walden Bello

Anmerkung der Redaktion:

Die politischen Verhältnisse in Lateinamerika scheinen in einem dynamischen Wandel begriffen zu sein. In Argentinien, Chile, Brasilien, Uruguay, Bolivien und Venezuela gibt es inzwischen eher links orientierte Regierungen. Das signalisiert eine Erosion der neoliberalen Hegemonie auch auf dem Kontinent, auf dem nach dem Pinochet-Putsch in Chile das neoliberale Projekt erstmals in Praxis umgesetzt wurde. Regierungswechsel bedeuten allerdings noch nicht, dass sich die inneren Kräfteverhältnisse schon entscheidend verschoben hätten, und schon gar nicht, dass von den internationalen Machtverhältnissen her eine grundsätzlich andere Politik möglich wäre. Aber es ist etwas in Bewegung geraten, der soziale Protest nimmt zu und die sozialdemokratisch orientierten Regierungen versuchen, sich zwischen internationalen politischen und ökonomischen Druck sowie erstarkenden sozialen Bewegungen einigermaßen durchzulavieren. Besonders interessant ist der Fall Venezuela und Hugo Chavez` Projekt einer „bolivarianischen Revolution“. Gerade in Lateinamerika verbinden sich damit zugleich große Erwartungen und begründete Skepsis. Denn immerhin handelt es sich dabei um den Versuch, einen tiefgreifenden sozialen Wandel gewissermaßen von oben durchzusetzen, und das Militär spielt dabei eine zentrale Rolle. Welche besonderen Bedingungen, diese Entwicklung möglich gemacht haben, behandelt der Beitrag von Walden Bello. Wie er zeigt, wird die Zukunft dieser Form von Staatsreformismus ganz wesentlich davon abhängen, ob es gelingt, der ihn tragenden Massenmobilisierung dauerhaftere und basisdemokratische politische Grundlagen zu geben, d.h. emanzipative „zivil“-gesellschaftliche Strukturen zu entwickeln.

Das links-netz hat sich bereits früher, mit dem Interview von Raoul Zelik mit Roland Denis (2003) sowie dem Beitrag von Gregory Albo (2004) mit Venezuela beschäftigt. Bellos neue Analyse zeigt, dass die dabei aufgezeigten Probleme nach wie vor bestehen. Die Frage bleibt, ob die Entwicklung alternativer, selbstorganisierter politischer Strukturen durch den seinen eigenen Logiken folgenden Staatsapparat wenn schon nicht vorangetrieben, so doch wenigstens nicht behindert wird. Allerdings lehrt indessen das venezolanische Beispiel schon heute, dass es keinen Grund für die Revision der Erkenntnis gibt, dass tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen kaum mittels des Staatsapparats vorangetrieben werden können.

Im internationalen Maßstab spielt Venezuela – nicht zuletzt wegen seiner auf Ölreichtum gestützten Machtposition – allerdings eine zunehmend wichtige Rolle. Die wirtschaftlichen und politischen Kooperationsbeziehungen insbesondere mit Cuba, Brasilien und Argentinien und neuerdings mit Bolivien werden enger. Ob allerdings die von Chavez propagierte „Bolivarianische Alternative für Amerika“ (ALBA) wirklich zu einem wirksamen Gegenprojekt gegen die von den USA mit der Absicht einer Zementierung ihrer Vorherrschaft angestrebte gesamtamerikanische Freihendelszone werden kann, ist ebenfalls noch offen. Das höchst anspruchsvolle Ziel von ALBA besteht darin, nicht nur eine andere Freihandelszone zu schaffen, sondern diesen Kooperationszusammenhang auf die Förderung anderer Wirtschaftsformen und Sozialbeziehungen auszurichten. Und eben da stellt sich die Frage nach den Grenzen einer mittels des Staatsapparats (und des Militärs) durchgesetzten Politik ganz entscheidend.

Angesichts der einigermaßen versteinerten politischen Verhältnisse in den kapitalistischen Zentren lohnt sich ein Blick auf diesen Teil der Peripherie, auf die sozialen und politischen Kämpfe und den Umgang mit den diesen zugrundeliegenden gesellschaftlichen Widersprüchen allemal.

„Eine Armee des Volkes“

Dass sich in Venezuela etwas Interessantes und Unübliches abspielt, wurde mir zum ersten Mal bei folgendem Vorfall klar. Auf einen sarkastischen Kommentar dazu, dass eine Anti-Kriegs-Veranstaltung des Weltsozialforums 2006 in einer Luftwaffenbasis stattfand, sagte ein Teilnehmer uns Ausländern in bester pädagogischer Manier: „Schauen Sie, in Venezuela haben wir keine normale Armee, sondern eine Armee des Volkes“.

In Venezuela vollzieht sich derzeit, wenn nicht eine Revolution, so doch ein Prozess radikaler Veränderung, und das Militär steht dabei im Zentrum. Wie konnte dies passieren, fragen viele Skeptiker, wenn berücksichtigt wird, dass das Militär insbesondere in Lateinamerika üblicherweise den Status Quo stützt? Andere, weniger Skeptische fragen, ob Venezuela eine Ausnahme darstellt oder ob sich da eine zukünftige Entwicklung abzeichnet.

Bezüglich der Rolle des venezolanischen Militärs sind viele Erklärungen vorgetragen worden. Eduardo Lander, eine bekannter venezolanischer Politikwissenschaftler sagt, dass dort im Unterschied zu anderen lateinamerikanischen Ländern ein sehr viel größerer Anteil von „Menschen einfacher Herkunft“ im Offizierskorps zu finden sei. Die Oberklassen hätten hier eine militärische Karriere eigentlich nur mit Verachtung betrachtet. Richard Gott, einer der führenden Intellektuellen der US-amerikanischen Linken, fügt einen anderen Gesichtspunkt hinzu, nämlich die Vermischung von Offizieren und Zivilisten im Erziehungssystem des Landes: „Ab den siebziger Jahren wurden im Rahmen eines als „Andres Bello“ bezeichneten Regierungsprogramms Offiziere in größerer Anzahl an die Universitäten geschickt, wo sie in engen Kontakt mit anderen Studierenden kamen, die z.B. Wirtschaftswissenschaften oder Politikwissenschaft studierten“. Diese „Einschleusung“ in das Zivilleben hatte weitreichende Konsequenzen. Zum einen wurden die Offiziere zu einer Zeit, in der die Linke die Universitäten dominierte, mit progressiven Ideen konfrontiert. Und zum anderen bedeutete dies, dass das Offizierskorps sehr viel stärker in die Zivilgesellschaft integriert wurde als in den meisten anderen lateinamerikanischen Ländern. Wie Gott sagt, war möglicherweise ebenso bedeutsam, dass Venezuela wohl sehr viel weniger Offiziere in die von der US-Armee betriebene „School for the Americas“ in Fort Benning (Georgia), gesandt hat, deren Hauptaufgabe darin besteht, die Militärkräfte der westlichen Hemisphäre für die Aufstandsbekämpfung (counterinsurgency) zu trainieren.

Diese Bedingungen mögen dazu beigetragen haben, dass die venezolanische Armee weniger reaktionär ist als andere lateinamerikanische. Aber sie erklären nicht, warum sie eine der Speerspitzen einer der radikalsten sozialen Veränderungen in dieser Hemisphäre darstellt. Gott, Landes und andere venezolanische Experten stimmen indessen in einem überein: der absolut zentralen Rolle von Hugo Chavez.

Der „Chavez – Faktor“

Chavez ist vieles: eine charismatische Gestalt, ein großer Redner, ein Mann, der lokale, regionale und globale Politik mit Geschick und Einsatzbereitschaft betreibt. Er ist zugleich ein Mann der Armee, der das Militär als die Institution verehrt, die unter Simon Bolivar einen großen Teil Lateinamerikas von Spanien befreite und der von sich glaubt, dass er dazu bestimmt ist, eine entscheidende Rolle in der sozialen Transformation Venezuelas zu spielen.

Nach seiner eigenen Aussage kam Chavez zur Armee, weil das für ihn die Möglichkeit bot, professionell Baseball zu spielen. Aber was auch immer seine ursprüngliche Motivation war, er tat dies in der Zeit eines großen institutionellen Wandels. In den siebziger Jahren war die Armee mit Operationen der Guerillabekämpfung beschäftigt und zur gleichen Zeit wurden ihre Offiziere im Rahmen des Andres-Bello-Programms an der Universität mit progressiven Ideen bekannt gemacht. Viele wurden von linken Gruppen in geheime Diskussionszusammenhänge einbezogen. Statt ein Baseballstar zu werden, profilierte sich Chavez als beliebter Geschichtsdozent in der venezolanischen Kriegsakademie. Gleichzeitig stieg er in der Kommandohierarchie auf. So weit er nicht seinen militärischen Pflichten nachging, engagierte er sich beim Aufbau einer geheimen Gruppe junger, gleichgesinnter, idealistischer Offiziere, die „Bolivarianische revolutionäre Bewegung“ genannt wurde. Desillusioniert von einem demokratischen System, das sie als dysfunktional wahrnahmen und das von korrupten Parteien – der „Demokratischen Aktion“ und „COPEI“ – beherrscht wurde, die sich im Machtbesitz abwechselten, entwickelten sich diese „Jungtürken“ von einem Studienzirkel zu einer konspirativen Vereinigung. Sie beschäftigten sich mit Überlegungen zu einem Staatsstreich, der ihrer Ansicht nach eine Periode nationaler Erneuerung einleiten sollte.

Wie Richard Gott in seinem maßgebenden Buch über Chavez und die Bolivarianische Revolution schreibt, wurden diese Vorbereitungen durch den „caracazo“ von 1989 eingeholt. Dabei handelte es sich um eine soziale Erhebung, die durch eine auf Druck des Internationalen Währungsfonds durchgesetzte starke Erhöhung der Transportpreise hervorgerufen wurde. Drei Tage lang strömten Tausende städtischer Armer aus den Ranchos oder Hüttenstädten der Berge um Caracas herum in die Stadtmitte und in die wohlhabenden Viertel. Bei diesem Aufstand und den Plünderungen handelte es sich um einen kaum verhüllten Klassenkrieg. Der caraczo brannte sich in das Bewusstsein vieler junger Offiziere ein. Er machte ihnen nicht nur deutlich, wie groß die Ernüchterung einer großen Mehrheit der Bevölkerung in Bezug auf das liberaldemokratischen System war. Er sorgte auch für die Erbitterung darüber, dass sie gezwungen waren, das Schießen auf Arme zu befehlen, um eben dieses System zu verteidigen.

Als Chavez fast drei Jahre später das Kommando über ein Fallschirmjägerregiment erhielt, hielten er und seine Mitverschwörer die Zeit reif für den lange geplanten Staatsstreich. Zwar scheiterte der Versuch, aber er wurde dadurch bei vielen Venezolanern berühmt und gleichzeitig berüchtigt bei der Elite. Chavez trat im Fernsehen auf, um am Coup beteiligte Militäreinheiten zu überzeugen, ihre Waffen niederzulegen. Nach Gott „machte ihn diese einminütige Medienpräsenz im Augenblick eines persönlichen Desasters zu einem Mann, der als möglicher Retter des Landes wahrgenommen wurde“. Chavez übernahm die volle Verantwortung für den Fehlschlag des Staatsstreichs, aber er elektrisierte die Nation als er erklärte, „dass es neue Möglichkeiten geben werde“.

Chavez wurde ins Gefängnis geworfen, und fast unmittelbar nach seiner Freilassung begann er seine Kampagne für das Präsidentenamt. Was er durch einen Staatsstreich nicht erreichen konnte, versuchte er nun mit verfassungsmäßigen Mitteln. Obwohl er nicht mehr Angehöriger des Militärs war, behielt er den Kontakt zu seinen Offizierskollegen und den einfachen Soldaten, bei denen er eine ungeheure Popularität genoss. Als er schließlich 1998 mit großem Vorsprung die Präsidentenwahl gewann, wer es keine Überraschung, dass er befreundete Offiziere in Schlüsselstellungen der Regierung brachte. Wichtiger war noch, dass er allmählich das Militär dazu bewegte, sich als zentrales institutionelles Instrument des Wandels zu begreifen, den er im Lande einleitete. Im Jahre 1999 richteten Unwetter starke Zerstörungen an. Damit erhielt er die Möglichkeit, das Militär in dieser neuen Funktion zu plazieren. Armeeeinheiten wurden mobilisiert, um Suppenküchen zu betreiben und auf Armeegelände Häuser für Tausende von Geflüchteten zu bauen. Danach wurden militärische Einheiten für zivile Aktion und für Ingenieurwesen in ein neues Regierungsprogramm eingegliedert, das auf die Errichtung „nachhaltiger agro-industrieller Siedlungen“ in verschiedenen Teilen des Landes zielte. Gleichermaßen wurden Militärhospitäler für die Armen verfügbar gemacht.

Transformation des Militärs: Probleme und Möglichkeiten

Nicht alle Teile der Armee begrüßten indessen die Einbeziehung des Militärs in ein Programm radikalen Wandels. In der Tat widersetzten sich viele Generale dem populistischen Ex-Oberst. Als sich der Prozess beschleunigte und Chavez dazu überging, die Landreform voranzutreiben und die direkte Kontrolle über die Ölindustrie zu übernehmen, begannen diese, mit den Zeitungsbossen, der Elite und den Mittelklassen zu konspirieren, um ihn gewaltsam aus dem Amt zu entfernen.

Nach einer Serie gewaltsamer Zusammenstöße zwischen der Opposition und Chavez-Anhängern in den Straßen von Caracas unternahmen hochrangige Generale, darunter die Spitze der Streitkräfte, der Generalstabschef und der Oberkommandierende der Armee, einen Staatsstreich und schafften es am 11. April 2002, Chavez zu stürzen. Allerdings blieben die meisten Feldoffiziere und jüngeren Angehörigen des Offizierskorps gegenüber Chavez loyal und verhielten sich neutral, als Tausende von Armen nach Caracas herunterkamen, um dessen Freilassung zu verlangen. Die Loyalisten unternahmen einen Gegencoup, verhafteten die Verschwörer und setzten Chavez wieder in das Amt ein.

Für Chavez war der Staatsstreich zumindest in einer Hinsicht ein Segen. Er gab im die Möglichkeit, die Umgestaltung des Militärs zu vollenden. Über einhundert Spitzengenerale und Offiziere wurden wegen Verrats festgenommen und die Schlüsselstellungen im Oberkommando wurden Leuten übertragen, die sich gegenüber Chavez und der bolivarianischen Revolution loyal verhielten. Diese Säuberung beraubte die USA, die den Staatsstreich unterstützt hatten, ihrer Hauptstützpunkte im venezolanischen Militär.

Chavez` Projekt, das er nun als Bewegung zum „Sozialismus“ bezeichnete, stützt sich auf einen überwältigenden Rückhalt bei den städtischen und ländlichen Armen. Dennoch ist das Militär die einzige organisierte Institution, auf die er setzen kann. Die Presse steht im feindlich gegenüber und ebenso die Kirchenhierarchie. Die Bürokratie ist schwerfällig und von Korruption durchzogen. Die politischen Parteien sind diskreditiert. Chavez selbst greift sie an und zieht es vor, seine Unterstützer in Form einer losen Massenbewegung zu organisieren.

Angesichts der zentralen Rolle des Militärs als den Reformprozess vorantreibende Institution hat Chavez eine Armee städtischer Hilfstruppen oder Reservisten geschaffen, die die reguläre Armee unterstützen sollen. Diese ursprünglich als „Bolivarianischer Zirkel“ bezeichnete und in einer Zahl von etwa einer Million geplanten Hilfstruppe wird zu einem Instrument bei der Organisation und Bereitstellung von Sozialprogrammen in den Elendsvierteln. Sie beteiligt sich gleichzeitig, gemeinsam mit der Nationalgarde, an der Enteignung von privatem Land im Zuge des beschleunigten Agrarreformprogramms.

Ein gewisser Skeptizismus

Angesichts der zentralen Rolle des Militärs in der bolivarianischen Revolution fragen sich viele Beobachter, ob es dazu überhaupt in der Lage ist. Wie der Politikanalytiker Lander sagt, ist für Chavez das Militär deshalb verlässlich, weil es nicht korrupt und effizienter sei als andere Institutionen. Lander zieht das in Zweifel. „Ich denke nicht, dass es irgend etwas gibt, das das Militär weniger korruptionsanfällig macht als andere Institutionen“. Und auch die Effizienz des Militärs ist, wie er sagt, nur die halbe Wahrheit. „ Ja, das Militär mag effektiv sein, wenn es dazu eingesetzt wird, unmittelbare Probleme zu lösen, etwa Schulen oder Kliniken zu bauen, die mit kubanischen Ärzten ausgestattet werden. Aber es stellt keine langfristige Lösung dar. Man muss diese Lösungswege institutionalisieren, und hier liegt die Schwäche der Revolution. Es breiten sich Ad-hoc-Lösungen aus, die ad hoc bleiben“.

Indessen gibt es keinen Zweifel daran, dass bei Chavez und seiner Offiziersgeneration ein Reformeifer existiert, der die Revolution für einige Zeit antreiben wird. Es ist ein Eifer, der sich aus einem starken Frustrationsgefühl speist. Chavez hat das in einem Interview mit Gott vor einigen Jahren so ausgedrückt: „Über viele Jahre hinweg waren die venezolanischen Militärs Eunuchen: Wir durften nicht sprechen, wir mussten still halten, während wir das Desaster beobachteten, das korrupte und unfähige Regierungen angerichtet haben. Unsere oberen Offiziere haben gestohlen, unsere Truppen hatten praktisch nichts zu essen, und wir standen unter strenger Disziplin. Aber was für eine Art von Disziplin war das? Wir wurden zu Komplizen des Desasters gemacht“.

Ein Modell für andere Länder?

Die Gefühle, die Chavez hier ausgedrückt hat, würden möglicherweise bei vielen jungen Offizieren in vielen anderen Armeen der Dritten Welt Anklang finden. Das führt zu der Frage, was die Lektionen der venezolanischen Entwicklung für andere Gesellschaften des Südens bedeuten. Oder genauer: Ist die venezolanische Erfahrung wiederholbar?

Anstatt umfangreiche Vergleiche anzustellen ist es vielleicht sinnvoll, sich auf ein Militär zu konzentrieren, das zur Zeit tiefgreifende Umbrüche erfährt und eine ähnliche Unzufriedenheit entwickelt wie das venezolanische in den späten Achtzigern – das der Philippinen. Dessen Widerspenstigkeit ist die Reaktion auf eine Krise ähnlich der, die die venezolanische Gesellschaft zu der Zeit durchmachte: eine tiefgreifende Krise korrupter liberaldemokratischer Institutionen.

Kann die venezolanische Erfahrung auf den Philippinen wiederholt werden? Die Antwort ist eher ein vorsichtiges Nein. Zuallererst hat das philippinische Militär, anders als das venezolanische, kein nationalrevolutionäres Erbe. Es ist kein direkter Abkömmling der „Katipuneros“ und der philippinischen Revolutionsarmee von 1886-1889. Es wurde nach der „Befriedung“ des Landes durch die USA aufgebaut. Es diente zunächst dem Zweck, die US-Besatzungstruppen zu unterstützen und die öffentliche Ordnung während der Kolonialperiode aufrecht zu erhalten. Schließlich hatte es die US-Truppen im Kampf gegen Japan im zweiten Weltkrieg zu unterstützen. Nach der Unabhängigkeit im Jahre 1946 unterhielten die philippinischen Streitkräfte mittels militärischer Hilfe und in Form von Ausbildungsprogrammen sehr enge Beziehungen zum US-Militär. Hinsichtlich der Beziehungen zu den USA ist die militärische Erfahrung der Philippinen möglicherweise typischer als die venezolanische.

Zweitens verfügt das philippinische Militär über kein dem Andres-Bello-Programm ähnliches Äquivalent, bei dem Offiziere systematisch in das zivile Erziehungssystem eingegliedert wurden und nicht nur mit den neuesten technischen und administrativen Konzepten konfrontiert wurden, sondern ebenso mit progressiven Ideen und Bewegungen. Aber selbst wenn ein derartiges Programm existiert hätte, hätte die neoliberale ideologische Hegemonie in den Wirtschaftswissenschaften der philippinischen Universitäten einen ähnlichen Effekt verhindert.

Drittens hatten in Venezuela die Offiziere ein ambivalentes Verhältnis zur politischen Linken. Auf der einen Seite bekämpften sie diese als Guerilla und auf der anderen nahmen sie ihre Ideen und Konzepte für einen Wandel auf. Im Gegensatz dazu betrachtet das Militär auf den Philippinen die neue Volksarmee, gegen die es fast seit 30 Jahren kämpft, als seinen Todfeind, institutionell wie ideologisch. Es ist nicht überraschend, dass Gruppen wie die Streitkräftereformbewegung (RAM) oder Magdalo, die zeitweise entstanden waren, über wenige nationale oder soziale Inhalte verfügten. Ihre Zielsetzung beschränkte sich auf die militärische Machtergreifung und darauf, das Militär in eine Kommandoposition über die Gesellschaft zu bringen mit dem Zweck, die zivile Politik von Korruption zu säubern. Klassenanalyse, Imperialismus, Landreform – das sind Konzepte, die den meisten Offizieren als Angelegenheit einer rivalisierenden militärischen Kraft erscheinen.

Schließlich: Wenn ein Militär völlig von den bestimmenden sozialen Verhältnissen der zivilen Gesellschaft durchdrungen ist, dann ist es das philippinische. Das Militär ist von oben bis unten in Klientelbeziehungen mit nationalen und lokalen Eliten verstrickt. Konkurrierende zivile Eliten haben ihre Fraktionen innerhalb des Militärs kultiviert und manipuliert. Selbst militärische Reformgruppen haben oft in ungesunden Abhängigkeitsbeziehungen mit traditionellen Politikern und Wirtschaftseliten geendet. Die gottvater-ähnliche Beziehung zwischen den traditionellen Politiker Juan Ponce Enrile und dem militärischen Rebellen Gringo Honasan war, um nur ein Beispiel zu geben, möglicherweise den entscheidende Faktor, der es verhindert hat, dass RAM eine wirklich autonome und progressive Kraft wurde.

Aber die Geschichte ist offen. Das philippinische Militär kann noch für Überraschungen sorgen. Und das gilt auch für die Streitkräfte anderer Länder. Schließlich hätte ein Beobachter des venezolanischen Militärs in den späten achtziger Jahren möglicherweise darauf gewettet, dass dieses, mit seinem Kader korrupter höherer Offiziere mit engen Bindungen zum US-Militär, ein zuverlässiges Instrument zur Erhaltung des Status Quo bleiben würde.

Walden Bello ist Soziologieprofessor an der Universität der Philippinen (Diliman) und geschäftsführender Direktor der Forschungs- und Interessenvertretungsorganisation Focus on the Global South, eine Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Bangkok. Er hat kürzlich Venezuela besucht.

(Übersetzung: Joachim Hirsch)

© links-netz April 2006