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Pinguine und Piqueteros:

Politische Konjunkturen und die Zeiten der Bewegungen in Argentinien

Martina Blank

„Was der Pinguin sagt oder macht, interessiert mich nicht, überhaupt interessieren mich diese Pinguine nicht.“ (Mitglied des MTD de Solano im Gespräch mit einer Gruppe „solidarischer“ Ärzte)

In Folge der Dezemberkrise des Jahres 2001, als Massenproteste und mehrfache Regierungswechsel die politische Szenerie Argentiniens bestimmten, schien das südamerikanische Land zu einem regelrechten Freilichtlabor neuer Formen sozialer und politischer Organisierungen geworden zu sein. Mit dem Amtsantritt des regierenden Präsidenten Nestor Kirchners im Mai 2003 wurde es relativ still um die alternativen Akteure und ein neuer sozialer Konsens schien sich abzuzeichnen. Während sich nun aber erste Risse im so genannten „Projekt K“ abzeichnen und die Konflikte im Zentrum von Buenos Aires zunehmen, stricken soziale Organisierungen nahezu unbeachtet von Politik und Medien an einer anderen Gesellschaft.

Risse im Projekt K

Mit dem Amtsantritt des regierenden argentinischen Präsidenten Nestor Kirchner im Mai 2003 trat Argentinien in eine neue politische Konjunktur ein: Eineinhalb Jahre nach dem so genannten „Argentinazo“, inmitten politischer Unruhen und eines anhaltenden wirtschaftlichen Krisenprozesses gelang es dem bis dato relativ unbeschrieben Blatt Kirchner eine ungeahnte politische Stabilität herzustellen. „Den Lahmen erkennt man beim Laufen“, so ein Sprichwort, das zu Beginn der Amtszeit Kirchners kursierte und die zunächst abwartende Haltung vieler politisch-sozialer Organisierungen beschrieb. Über ein Jahr nach dem Amtsantritt Kirchners zeigt sich dieser Tage ein anderes Bild: Konnte Kirchner durch eine relativ progressive Menschenrechtspolitik (insbesondere in Hinblick auf die rechtliche und politische Aufarbeitung der Verbrechen der letzten Militärdiktatur), Bestrebungen zur Reform des Justizwesen und der Sicherheitsapparate sowie einen alternativen außenpolitischen Kurs einen Teil der politisch-sozialen Sektoren zumindest vorübergehend integrieren, so sieht er sich heute mit einer zunehmenden Opposition von rechts und von links konfrontiert.

Ein zentrales innenpolitisches Projekt Nestor Kirchners war die so genannte „Transversalidad“. Mit dieser Vorstellung von einer parteiübergreifenden Koalition der „progressiven“ Sektoren trug Kirchner der Tatsache Rechnung, dass er innerhalb seiner eigenen Partei – der peronistischen Partido Justicialista (PJ) – keine Mehrheit besaß und daher seine Machtbasis außerhalb der eigenen Partei suchen musste. Nun stößt derzeit nicht nur dieses Projekt der „Transversalidad“ an seine Grenzen, auch regt sich zunehmend Kritik in der eigenen Partei. Obwohl Kirchner das stabilste Regierungskabinett in der jüngeren Geschichte Argentiniens aufweisen kann, fehlt es ihm also letztlich an einer parteipolitischen Basis. Angesicht der übermäßigen Zustimmung Kirchners in der Bevölkerung während seines ersten Amtsjahres (Umfragen ergaben 80% und mehr) hielt sich die parteipolitische Opposition lange weitgehend zurück. Dieser Tage scheint der Burgfrieden aber gebrochen und eine neue politische Konjunktur anzubrechen. Dies umso mehr als sich Kirchner seit einigen Wochen einem neuen Konfrontationskurs seitens eines Gutteils der Piquetero-Organisationen (Organisierungen Arbeitsloser) gegenüber sieht. Seit Beginn seiner Amtszeit verfolgte Kirchner bezüglich dieser größten sozialen Bewegung Argentiniens eine klassische Politik des „teile und herrsche“. Zwischen „duros“ und „blandos“, d.h. „harten“ und „weichen“ Sektoren unterscheidend, suchte er die teilweise politische Integration der verhandlungsbereiten „weichen“ Sektoren und eine Marginalisierung der „harten Sektoren“. Schien diese Politik angesichts der Fragmentiertheit der oppositionellen Piquetero-Organisationen vorübergehend erfolgreich, so hat es Kirchner nun seit einigen Wochen mit einem radikalisierten linken Piquetero-Flügel zu tun, innerhalb dessen sich neue Koalitionen herausbilden. Einen entscheidenden Wendepunkt stellt hier wohl der vergangene 9. Juli dar: Bei einem Staatsakt zur Feier des argentinischen Unabhängigkeitstages in der nordwestlichen Provinzhauptstadt Tucuman lieferten sich „duros“ und „blandos“ eine Straßenschlacht und verhinderten damit auch die planmäßige Durchführung des Festaktes. Infolge dieses 9. Julis wurde Buenos Aires nun in den letzten Wochen von einer Reihe großer Mobilisierungen erschüttert, die durch neuartige Koalitionen zwischen verschiedenen linken Piquetero-Organisationen und eine außergewöhnlich erfolgreiche Koordinierung überraschten. Ein weiterer vorläufiger Höhepunkt wurde am 16. Juli erreicht. Während einer Sitzung des Stadtparlaments der Hauptstadt sollte ein neues Gesetz (código de convivencia) verabschiedet werden, das unter anderem die legale Beschränkung von Protest und Straßenarbeit in Buenos Aires vorsah. Am Rande einer Mobilisierung betroffener Akteure – zu nennen wären hier neben den Piqueteros auch fliegende HändlerInnen und sexuelle ArbeiterInnen – kam es zu einer fünfstündigen gewaltsamen Attacke auf den Tagungsort des Stadtparlaments (Legislatura), die sich durch eine völlige Abwesenheit der Polizeikräfte auszeichnete und die Vertagung der Sitzung zur Folge hatte. Obwohl bis heute ungeklärt ist, wer die Verantwortlichen für diese Attacke waren, sah sich Kirchner nun einem massiven öffentlichen Druck zur Aufgabe seiner Anti-Repressions-Politik ausgesetzt. Wurden die Mobilisierungen der Piqueteros bislang von wenigen Sicherheitskräften begleitet, so waren bei einer weiteren Großdemonstration am 4. August gleich über 1500 Polizeikräfte im Einsatz.

Das Zentrum von Buenos Aires gleicht dieser Tage einem zoologischen Garten: Weiträumige Absperrungen zerteilen öffentliche Plätze und zentrale Straßen. Während es aber im Jahr 2002 vor allem Banken waren, die infolge der wütenden Proteste der Kleinsparer mit Stahl vergittert wurden, so handelt es sich heute um staatliche Institutionen wie die Legislatura, den Präsidentenpalast, das Kongressgebäude und den obersten Gerichtshof. Was sich hier überaus sichtbar vergegenständlicht ist jedoch nicht nur ein neuer Konfrontationskurs linksgerichteter Oppositioneller, sondern vielmehr eine tief greifende politisch-institutionelle Krise des Projekts K. Ein wichtiger Pfeiler dieses Projekts waren die bereits erwähnten Reformen des Justizwesens und der geradezu mafiösen und teilweise völlig autonomisierten Polizeikräfte. Handelte es sich hier einerseits um zentrale Forderungen der Protestbewegung des Jahreswechsels 2001/2002, so sind diese Neuerungsbestrebungen Kirchners aber auch vor dem Hintergrund einer Desintegration des staatlichen Gewaltmonopols zu sehen. Die Regierungsfähigkeit Kirchners war also in doppelter Weise – sowohl in Hinblick auf die Einbindung der Protestbewegung als auch in Hinblick auf die Reintegration der Exekutiven und der Judikativen – von dem Erfolg dieses Reformprojekts abhängig. Während Kirchner bezüglich der Reform des Justizwesens – insbesondere einer Neubesetzung des obersten Gerichtshofes – bedeutende Fortschritte machen konnte, erweist sich die Umbildung des Sicherheitsapparates als wesentlich schwieriger. In diesem Kontext stand auch die kürzlich aufgekündigte Anti-Repressions-Praxis Kirchners, wollte er doch den Einsatz eines für ihn nicht zu kontrollierenden Polizeiapparats vermeiden. Angesichts zunehmender politischer Konfrontationen und eines deutlichen Anstiegs organisierter Kriminalität (an der ironischerweise nicht zuletzt die zwecks Reform aus dem Polizeiapparat entfernten Subjekte beteiligt sind) ist es aber nun die oppositionelle Rechte, der es – vor allem mit Unterstützung eines Großteils des argentinischen Mediensektors – gelingt, die Ängste der argentinischen Mittelschicht in einem umfassenden Sicherheitsdiskurs zu artikulieren, der ein nachvollziehbares Sicherheitsbedürfnis mit einer Kriminalisierung von Armut und Protest verknüpft. Das Ergebnis ist ein Rechtsruck in Teilen der argentinischen Mittelschicht und eine öffentliche Forderung nach einem „härteren Durchgreifen“, die das Reformprojekt Kirchners zu blockieren drohen. In einer aktuellen Umfrage rangiert das Thema „Unsicherheit“ mit 71,2% auf Platz 1 der von den Befragten angegebenen „Hauptprobleme des Landes“, während nur 41% der Befragten im Fall einer Präsidentschaftswahl Nestor Kirchner wählen würden. Das sind zwar doppelt so viele wie jene die Kirchner tatsächlich in sein Amt hoben, von den zwischenzeitlich 80% und mehr an Zustimmung scheint er heute aber weit entfernt.

Die Zeiten der Bewegung

Während die Konflikte im Zentrum von Buenos Aires täglich zunehmen und sich eine veränderte politische Konjunktur abzeichnet, arbeiten verschiedene politisch-soziale Akteure – nahezu völlig unbeachtet von Politik und Medien – am Projekt einer anderen Gesellschaft. Ein Beispiel bilden hier die Stadtteilversammlungen, die - im Jahr 2002 noch in aller Munde - im Laufe des Jahres 2003 von Medien und SozialwissenschaftlerInnen für „nicht länger existent“ erklärt wurden: Tatsächlich konnte nicht nur eine Reihe von Stadtteilversammlungen eine kontinuierliche Arbeit in ihren Stadtvierteln entwickeln, in dessen Rahmen Radioprojekte, Kulturzentren, Bildungs- und Gesundheitsinitiativen sowie lokale Interventionspolitiken entstanden, mehr noch konnten sich diese Praxen relativ erfolgreich mit anderen Akteuren und Bewegungen, wie zum Beispiel den Piqueteros oder den „fabricas recuperadas“ (in Konkurs befindliche Fabriken, die von ihren ArbeiterInnen besetzt und in Eigenregie wieder in Betrieb genommen wurden) artikulieren. Während das viel beschworene „Scheitern“ der Bewegung der Stadtteilversammlungen ihre Reduktion sowohl in Anzahl als auch Größe sowie ihr Verschwinden aus der öffentlichen Arena beklagt, bestehen unter der Oberfläche und an den Rändern – gerade auch in den oftmals vernachlässigten äußeren Bezirken des Großraums Buenos Aires – sehr produktive Netzwerke, die sich unter dem Motto einer „neuen Gesellschaftlichkeit“ um die Stärkung sozialer Bindungen und alternative Formen der Vergemeinschaftung bemühen.

Ähnliches gilt für die Bewegung der Piqueteros: Berichten die Medien ausschließlich über die Mobilisierungen im Stadtzentrum und die Ebene des Protests, so ist die Realität in den Stadtteilen und Elendsvierteln eine andere. Nahezu alle Piquetero-Organisationen haben sehr konkrete Sozialprojekte in ihren alltäglichen Lebensrealitäten entwickelt. Bewegungen wie die „Arbeitslosen ArbeiterInnen“ (MTD) aus Solano konzentrieren sich dieser Tage gar ausschließlich auf die politisch-soziale Arbeit im Stadtviertel und das, was sie als „nach innen wachsen“ bezeichnen. In mehreren südlichen Bezirken des Großraums Buenos Aires hat diese Bewegung auf verlassenen Fabrikgeländen und inmitten von Elendsvierteln Orte zur selbstständigen sozialen (Re-) Produktion geschaffen: Von Bildungsinitiativen (Alphabetisierung, Nachhilfe für Schulkinder, Fremdsprachen- und Philosophieworkshops) über Gesundheitsprojekte (Vorsorgemaßnahmen, Bereitstellung einer gewissen medizinischen Basisversorgung und „Reflektionsgruppen“ zur Aufarbeitung psychosozialer Probleme) bis hin zur Produktion von Lebensmitteln (Bäckereien, Gemüsegärten und sogar Vieh- und Fischzucht) dienen diese „Situationen“, wie sie es selbst nennen, einer (Wieder-) Aneignung der eigenen Lebensbedingungen. „Was der Pinguin sagt oder macht, interessiert mich nicht“, so ein Mitglied dieser Bewegung bei einem Treffen mit einer Gruppe von Ärzten einen geläufigen Spitznamen Kirchners verwendend. „Überhaupt interessieren mich diese Pinguine nicht“: Gemeint sind damit Kirchners Kabinett und seine politischen Partner. Die politisch-institutionelle Konjunktur scheint hier weit entfernt, denn die Arbeit im Stadtviertel folgt ihren eigenen Zeiten und Logiken.

Diese Einsicht hatte sich einst auch die Organisierung der Kinder der „Verschwundenen“ (H.I.J.O.S.) zu Eigen gemacht. Ausgehend von ihrer Forderung nach Verurteilung und Bestrafung der Täter der letzten Militärdiktatur (1976-1983) entwickelten sie die Praxis des „Escrache“, indem sie straflose Militärs und an den Verbrechen der Militärdiktatur Beteiligte an ihren Wohn- und Arbeitsorten aufsuchten, um ihre (Mit-) Täterschaft zu denunzieren. Aufgrund der allmählichen Verschiebung dieser Denunziationspraxis hin zu einer intensiven politischen Arbeit im betreffenden Stadtviertel rief H.I.J.O.S. Ende der 90er Jahre die Mesa de Escrache Popular ins Leben, die als offener Zusammenhang, unter Mitwirkung der AnwohnerInnen und den „eigenen Zeiten des Stadtviertels“ folgend, die Escraches vorbereiten und durchführen sollte. Geradezu exemplarisch für das Nebeneinander und die Desartikulation verschiedener Politikebenen im gegenwärtigen Argentinien, sieht sich dieser politische Zusammenhang heute mit einer Unvereinbarkeit von politischer Konjunktur und den Zeiten des Stadtviertels konfrontiert: Angesichts der progressiven Menschenrechtspolitik Kirchners und der damit verknüpften Hoffnung auf die Erfüllung der zentralen Forderung nach Verurteilung und Bestrafung der Militärs, beabsichtigt H.I.J.O.S. den „Escrache“ wieder verstärkt als Interventionspraxis zur Ausübung öffentlichen Drucks einzusetzen. Als unmittelbare Folge dieser Neuorientierung hat sich H.I.J.O.S. nun vorläufig aus dem Zusammenhang der „Mesa de Escrache Popular“ zurückgezogen, wird deren Vorgehensweise bzw. Arbeitslogik doch als blockierend für das aktuelle Vorhaben wahrgenommen.

Im Jahr 2002 trat das argentinische AutorInnenkollektiv Colectivo Situaciones mit ihrer Hypothese der Herausbildung einer Parallelgesellschaft in Argentinien an, mit der auch die Hoffnung auf die Entwicklung einer umfassenden „Gegenmacht“ der alternativen Akteure verknüpft wurde. Schien diese Hypothese durch den Erfolg der Kirchnerschen Integrationspolitik zwischenzeitlich überholt, so zeigt sich heute ein differenzierteres Bild: Nicht nur ist Kirchner bisher keine stabile institutionelle Verankerung seiner Reformpolitik gelungen, mehr noch beschränkt sich die Reichweite des Projektes K auf ein politisches Zentrum, das – ganz zu schweigen vom Landesinneren – oftmals weit entfernt von den politischen und sozialen Realitäten der unmittelbar angrenzenden Stadtviertel ist. Die Hypothese einer Parallelgesellschaft hat also keineswegs an Aktualität verloren, nur gestaltet sich die Arbeit an einer alternativen Gesellschaft wesentlich kleinteiliger und mühseliger als noch im Jahr 2002 vielerorts erhofft. Die daran beteiligten Akteure haben ihren Raum- und Zeithorizont jedenfalls längst verschoben und beurteilen ihre eigenen – für den unbeteiligten Betrachter häufig unsichtbaren – Fortschritte meist sehr positiv.

© links-netz August 2004