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Pathologien, Diagnosen und der kritische Theoretiker als Arzt

Robin Celikates „Kritik als soziale Praxis“

Andreas Böhm

„Der Wald ist groß, die Finsternis auch. Manchmal ist halt ein Käuzchen drin, das keine Ruh‘ gibt. Mehr bin ich nicht. Mehr verlang‘ ich auch nicht zu sein.“
(Thomas Bernhard)

Die Rede von "Pathologien" nebst zugehörigen "Diagnosen" für Gegenstand und Tätigkeit des kritischen Theoretikers ist mit Jürgen Habermas' Theorie des kommunikativen Handelns zu einiger Prominenz gekommen. Bei Habermas ist dies ursprünglich noch wörtlich gemeint. Der Aufsatz „Überlegungen zur Kommunikationspathologie“ von 1974 beabsichtigt, das interpersonale Gegenstück zu intrapsychischen Störungen theoretisch zu fassen, die die Psychoanalyse auf unbewusste Konfliktabwehr zurückführt. Er schließt damit an die Tradition des normativen Funktionalismus an, der seinen Ausgang in Durkheims Analyse von Anomien hat.

Pathologien und Diagnosen spielen in Habermas Sprachgebrauch längst keine zentrale Rolle mehr, umso mehr in den Schriften von Axel Honneth und ihm verbundener Autoren. Honneth, der den Funktionalismus bei Habermas ablehnt, erhob die Pathologie in den Rang des Grundbegriffes der Sozialphilosophie und Ethik (Pathologien des Sozialen 1994, Pathologien der Vernunft 20071) in Abgrenzung zu der Rede von den Ungerechtigkeiten in der Moralphilosophie. Der Begriff behält die klinischen Konnotationen, verliert aber den direkten klinischen Bezug. Gegenüber dem „guten Leben“ der überkommenen Ethik und Adornos entsprechender Rede vom „beschädigten Leben“ suggeriert die Diagnose von Pathologien Präzision. Sie ist nicht so substantiell wie das Adornosche Umkreisen des Leidens und nicht so kühl wie das Feststellen von Dysfunktionalitäten oder Anormalitäten. Honneths Grundbegriffe haben sich seither gewissermaßen verselbständigt und in den soziologischen und sozialphilosophischen Sprachgebrauch eingeschliffen.

Gegen die Verwendung von Metaphern bzw. Begriffen mit Konnotationen aus dem klinischen Bereich ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Sie sind im Feld der Gesellschaftstheorie verbreitet und kaum durch andere zu ersetzen. Man denke nur an die altehrwürdige „Krise“, bei der alles darauf ankommt, wie und in welchem Kontext von ihr die Rede ist und welche Metaphern sie begleiten.2 Unbehagen bereiten Pathologien und Diagnosen als Leitmetaphern, da sie für den Theoretiker selbst unweigerlich Vorstellungen aus dem Umfeld der ärztlichen Praxis evozieren. Einen gegenüber dem professionellen Betrieb distanzierten Leser werden die vielen imaginären Ärzte nicht weniger befremden als die noch bis vor nicht allzu langer Zeit verbreiteten „kämpfenden“ imaginären schriftstellernden Revolutionäre. Der Arzt nun hat an der Heilung der von ihm diagnostizierten Krankheiten ein vornehmlich professionelles Interesse. Gewöhnlich ist er gegen sie geimpft. Auf der anderen Seite teilt er mit seinen Patienten die Einschätzungen darüber, was gesund und was krank ist. Von Horkheimers Begriff „kritischen Verhaltens“ ist dies denkbar weit entfernt und es erscheint verwunderlich, dass die Rede von Pathologien und Diagnosen ausgerechnet bei den Erben Horkheimers so stark verbreitet ist.

Wie sehr die Vermengung von Kritik, Diagnosen und Pathologien in die Irre führt, zeigt sich an Robin Celikates viel beachtetem Buch „Kritik als soziale Praxis“ (im folgenden KasP)3. Celikates nimmt die Rede von Pathologien und Diagnosen wieder (wie der frühe Habermas) wörtlich. Ausgehend von einer von Habermas bald darauf fallengelassenen Idee aus „Erkenntnis und Interesse“ beabsichtigt er, das psychoanalytische Arbeitsbündnis von Analytiker und Analysand als methodologisches Vorbild einer praxisorientierten kritischen Theorie verbindlich zu machen. Entscheidend ist für KasP, dass der Analytiker zwar über ein privilegiertes Expertenwissen im Hinblick auf Blockaden verfüge, gleichwohl sei die letztliche Bestätigung der Deutung des Analytikers durch den Analysanden als unverzichtbares Kriterium gelungener Deutung anzusehen. Eine Ablehnung als Widerstand oder Verdrängung zu interpretieren, könne nur vorläufigen Charakter haben. Insofern handle es sich um ein notwendig dialogisches Verhältnis. Analog analysiere der Gesellschaftstheoretiker Bedingungen von Ideologien, „Pathologien zweiter Ordnung“. Diese hinderten als „strukturelle Reflexivitätsdefizite“ die Akteure am Erkennen ihrer sozialen Lage - den Pathologien erster Ordnung - und überhaupt am Entfalten ihrer reflexiven Kompetenzen. Dabei dürfe der Gesellschaftstheoretiker die Akteure nicht als „judgemental dopes“ (kognitive Trottel) unterschätzen und die Ablehnung seiner Diagnosen nicht einfach als Ideologie abtun. Ohne Zustimmung der Akteure komme die Kritik zu keinem Ende. Mit einer solchen „rekonstruktiven Kritik“ sollen Konsequenzen aus der „Soziologie der Kritik“ von Luc Boltanski und Eve Chiapello gezogen und diese zugleich in eine erneuerte kritische Soziologie überführt werden, die sich wieder mit dem frühen Horkheimer auf soziale Emanzipation und weniger auf Fragen der Begründung konzentriert.

Dieses äußerst ambitionierte Projekt scheitert auf verschiedenen Ebenen:

Erstens erscheint das ganze Projekt merkwürdig falsch angelegt. Celikates übernimmt von Boltanski/Chiapello das Motiv der Unterschätzung der Akteure seitens der Theoretiker in der Form, dass er die Vermeidung von Paternalismen zum zentralen Anliegen seiner rekonstruktiven Kritik macht – und nicht die viel interessantere Behauptung, die Theorie müsse von den Akteuren erst wieder lernen, was Kritik ist. Das Problem einer Akteure im Allgemeinen, soziale Bewegungen im Besonderen bevormundenden oder durch Autorität einschüchternden Großtheorie existiert aber seit langem nicht mehr – zumindest nicht für die sozialen Bewegungen. Das mag bei Lenin anders gewesen sein, vielleicht auch noch bei Sartre und Marcuse. Aber heute?

Zweitens ist das auf das Verhältnis von Theoretiker und Akteur begrenzte Blickfeld kaum geeignet, ein ganzes Kritikmodell zu entfalten. Es sei denn, man machte substantielle gesellschaftstheoretische Aussagen über dieses Verhältnis. In diesem Sinne reflektierte etwa Adorno konsequent auf die herrschaftliche Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit. In KasP sucht man entsprechende Annahmen zur intellektuellen Tätigkeit vergeblich. Die methodologischen Überlegungen bleiben abstrakt und zeitlos.

Drittens gelingt die modellhafte Übertragung des Arbeitsbündnisses von Analytiker und Analysand allein nur auf die Praxis der Gesellschaftstheorie nicht. Wichtige diesbezügliche Einwände, wie die von Anthony Giddens, der therapeutische Prozess sei gänzlich im Medium der symbolischen Kommunikation organisiert, die in der erfolgreichen Therapie überwundene Herrschaft sei die der inneren Konstitution des Patienten, nicht die anderer über ihn, nennt KasP, ohne sie zu entkräften (215).

Schließlich zeigen auch die begrifflichen Konnotationen und die Metaphern, dass die hier vorgestellte Kritik keine soziale Praxis werden wird. Was in der Lektüre zeitgenössischer sozialphilosophischer und soziologischer Literatur lediglich einen merkwürdigen Geschmack hinterlässt, wird in KasP durch die schiere Anhäufung unverdaulich. Das gilt nicht nur für die Pathologien und ihre Diagnosen. Systematisch wird das Verhältnis von Theoretiker und Akteur als „Dialog“ (passim) gefasst. Was man sich darunter in der Praxis der Gesellschaftstheorie vorstellen soll, bleibt dunkel genug. Ebenso durchgängig und systematisch ist aber von den Akteuren als „Adressaten“ der Theorie die Rede. Ob hier Horkheimer/Adornos Metapher der „Flaschenpost“, der Terminus der Informationstheorie, der Sprechakttheorie oder die Bezeichnung für eine sozialarbeiterliche Klientelbeziehung Pate stand, ist einerlei, in jedem Falle ist deutlich, wer Sender und wer Empfänger ist. Von der Theorie als dem Adressaten der Akteure spricht KasP nicht, dafür aufs Knappste zusammengezogen und ungeachtet des offensichtlichen Widersinns von einem „Dialog zwischen Theoretikern und Adressaten“ (236, vgl. auch 182, 188). An einer Stelle geht KasP sogar so weit, den Prozess zwischen Theoretiker und Adressat mit allenfalls leichter Ironie einen „Prozess der ‚begleiteten‘ Selbstreflexion“ (225) zu nennen, womit wir im Kontext der Personalberatung wären. Auch kein schönes Bild für den kritischen Theoretiker. An wieder anderer Stelle geht es um die „Ermächtigung der ‚gewöhnlichen‘ Akteure“ (249), wir sind im Feld der Sozialarbeit. Grundsätzlich krankt, um in der Metaphernfamilie zu bleiben, das Buch an der Diskrepanz zwischen dezidiert engagierter und antipaternalistischer Absichtserklärung und sanft paternalistischer Metaphorik aus dem Umfeld der ärztlichen Praxis, die ein substantielles eigenes Interesse des Theoretikers gerade nicht auszudrücken vermag. Zudem ist die Praxis unseres auf Seite 213 auch wirklich auftretenden Arztes leider leer. Die Moderne, zwar krank und siech, wendet sich lieber an Ratgeber und Esoteriker und ignoriert regelmäßig die sozialphilosophischen Sprechstunden. Vielleicht sollen wir aber auch an einen morphiumsüchtigen Arzt aus einem Roman Raymond Chandlers denken, in dessen Praxis sich allenfalls ein paar Alte und Junkies verirren.

Das klinische Vokabular bezieht sich in KasP übrigens ausschließlich auf die Akteure. Im Hinblick auf konkurrierende Theoretiker (die, nebenbei gesagt, im Unterschied zu den gewöhnlichen Akteuren primäre Adressaten soziologischer Schriften sind), tritt Celikates im Gestus des Dogmen zerstörenden Aufklärers auf. Angegriffen werden die Dogmen des Szientismus, des Funktionalismus, der Totalität und vor allem die „Dogmen des Bruchs und der Asymmetrie“ (27-30, 32,40, 47, 50, 72, 95, 99, 159, 160, 161, 228, 245). Allerdings schafft man ein Problem nicht dadurch aus der Welt, dass man es zum Dogma erklärt. Der „epistemologische Bruch“ mit dem Alltagsbewusstsein ist kein bloßes Dogma. Er ist mit der Einnahme einer wissenschaftlichen Perspektive gegeben und ließe sich konsequent nur durch einen hermeneutischen Relativismus vermeiden. Auch die von KasP als Kronzeuge herangezogene Ethnomethodologie und an sie anschließend die Soziologie der Kritik können nur prätendieren, die Perspektive der Akteure zur Geltung zu bringen. Sie lassen sie ja nicht selbst zu Wort kommen, wie Foucault das tat, wenn er Texte von Gefängnisinsassen vorlas oder der als Dogmatiker schlechthin in KasP böse geprügelte Bourdieu, der in „Das Elend der Welt“ ausführlich wörtliche Äußerungen der Interviewten abdruckte.

Für einen zeitgenössischen westeuropäischen Soziologen ist das Bild des Arztes ist sicher nicht schlechter als das des „revolutionären Kämpfers“ oder des „mutigen Sprechers der Entrechteten und Beleidigten“. Es passt zu einem normativen Funktionalismus Durkheimscher Prägung, vielleicht auch zu einem auf hoch abstrakte Begründungen spezialisierten Theorietypus, dessen oberste Verpflichtung die zur Neutralität ist. Für einen kritischen Theoretiker erscheint das Bild verfehlt und verbreitet auch einen Hauch von Größenwahn. Hier lässt sich von dem eingangs zitierten, für seinen vorgeblichen Größenwahn häufig kritisierten Thomas Bernhard noch einiges lernen.

Anmerkungen

  1. Zuletzt als Mitherausgeber „Pathologien der chinesischen Moderne“ so der Titel von Westend 2/2009Zurück zur Textstelle
  2. Vgl. zuletzt Heinz Steinert “Krise? welche Krise? wessen Krise? – Metaphern und Modelle und was daraus folgt“ in www.links-netz.de.Zurück zur Textstelle
  3. Robin Celikates: Kritik als soziale Praxis. Gesellschaftliche Selbstverständigung und kritische Theorie. Campus Verlag, Frankfurt/New York 2009Zurück zur Textstelle
© links-netz Februar 2011