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Aufgehoben ist nicht aufgeschoben. Derridas Antworten auf seine marxistischen Kritiker in Marx & Sons1

Andreas Böhm

1993 veröffentlichte Jacques Derrida unter dem Titel „Spectres de Marx“ eine Reihe von Vorträgen, die eine erneute Lektüre von Karl Marx‘ Texten sowohl betrieben wie zu ihr aufforderten.2 Unter dem Eindruck des Triumphes der neuen Weltordnung, der Marx und den Marxismus für tot erklärte,3 macht sich Derrida hier zum Fürsprecher des in Wirklichkeit Un-Toten, dessen durch nichts überholte Kritik der modernen Gesellschaft auch die des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts notwendig heimsuche – in den offenkundigen Wunden dieser neuen Weltordnung (von Hunger und Massenarbeitslosigkeit bis zum Drogenkonsortium) wie im (vergeblichen) Beschwören des Endes der Geschichte durch Francis Fukuyama.

Die Rede von den „Gespenstern“, die für den in Sachen Dekonstruktion unbedarften Leser eine hübsche Metapher darstellen mag, ist von Derrida durchaus ernst gemeint und steht im Zentrum seiner Auseinandersetzung mit der die Geschichte der Philosophie dominierenden Ontologie. Zu Gunsten des Traums einer sich selbst völlig transparenten, erfüllten Gegenwart gründe jene im Negieren der Fortdauer der vergangenen Gegenwart, „in einer Bewegung des Exorzismus“ (Derrida 1995:253). Einer solchen Trauerarbeit, dem Beschwören und Vertreiben der untoten Vergangenheit stellt Derrida die Hantologie (abgeleitet vom französischen „hanter” – heimsuchen) entgegen, die das nicht Gegenwärtige in die Konstruktion eines jeden Begriffes aufnehme.

Der Titel „Marx Gespenster“ zielt also auf die Formen, in denen der ja schon längst begrabene Marx für uns gegenwärtig ist. Das Buch beschäftigt sich aber nicht nur mit den Gespenstern, die von Marx ausgegangen sind, sondern auch mit denen, die für ihn maßgeblich waren. In diesem Sinn würdigt Derrida Marx in langen, gewundenen, abrupt abbrechenden und auf die rhetorischen und performativen Aspekte der Texte abhebenden Kommentaren zu einigen Fragmenten aus der „Deutschen Ideologie“, dem „Kommunistischen Manifest“, dem „18. Brumaire“ und dem „Kapital als hellsichtigen Analytiker von spukhaften Phänomenen (Ideologien, Fetischismen). Er präsentiert dabei eine beeindruckende Fülle von Stellen, in denen Marx zur Darstellung ideologischer Phänomene aus dem Vokabular um Gespenst und Spuk schöpft und macht so deutlich, dass es sich beim „Gespenst“ auch bei Marx um mehr als eine beliebige Metapher handelt. Nicht mehr einverstanden mit Marx ist Derrida, wenn jener den Spuk im allgemeinen historisch überwinden, die Gespenster letztlich einfach los haben möchte. Hier gehöre Marx als „paradoxer Erbe Platons“ (Ebda.: 199), der philosophischen Tradition der Ontologie an. Wichtigster Beleg bei Marx ist die berühmte, im „18. Brumaire“ formulierte Aufforderung an die sozialen Revolutionen des neunzehnten Jahrhunderts im Gegensatz zu den „weltgeschichtlichen Totenbeschwörungen“ der bürgerlichen Revolutionäre „ihre Poesie ... aus der Zukunft“ zu schöpfen und die „Toten ihre Toten begraben“ zu lassen.4 Für Derrida stellt das einen folgenreichen Bruch mit der menschlichen Existenz dar. Nur noch lebende Sterbliche begrüben schon gestorbene Lebende und genau dies unterscheide sie von den Göttern (Vgl. Derrida 1995:184, 275).

Derridas anscheinend wenig konkrete Rede von einer „neuen Internationalen“ und einem „messianischen Versprechen“, seine Charakterisierung von Marx als einem paradoxen Erben Platons, die beanspruchte philosophiegeschichtliche Sonderstellung der Dekonstruktion, etc. bot auf Seiten der akademischen Linken reichlich Anlass zum Streit: Wollte Derrida die wirklichen Klassenkämpfe bagatellisieren? Hatte Marx nicht ausdrücklich mit der Philosophie gebrochen und feierten nicht umgekehrt in der Dekonstruktion die philosophischen Prinzipien in Gestalt einer „nicht dekonstruierbaren Bedingung der Dekonstrukton“ oder „quasi transzendentalen Gründen“ fröhliche Wiederauferstehung? Offenbarten Sätze wie „Die beste Übersetzung von ‚Perestrojka’ ist immer noch ‚Dekonstruktion’“ (Ebda.: 144) nicht eine maßlose Selbstüberschätzung?

Eine Reihe höchst unterschiedlicher Antworten auf „Marx Gespenster“ erschien 1999 in dem Sammelband „Ghostly Demarcations“.5 Am einen Ende des Spektrums finden sich ideologiekritische Einschätzungen, die Derridas gesellschaftskritische Aussagen als plakativ und abstrakt, dekonstruktivistische Lektüren im Vergleich zu den ernsthaften marxistischen Anliegen als irrelevant, den Dekonstruktivismus an den Universitäten als entpolitisierend und Derridas Hinwendung zum Marxismus als lediglich chic betrachten, erst der völlig marginalisierte Marxismus werde für die ins Scheitern verliebte Dekonstruktion hoffähig (vgl. die Beiträge von Terry Eagleton, Tom Lewis und Aijaz Ahmad). Am anderen Ende werden Derridas politische Aussagen begrüßt und Vermittlungen zwischen Ideologietheorie und Hantologie angestrebt (so bei Werner Hamacher, Frederic Jameson und Antonio Negri). Im letzten Kapitel mit dem Titel „Marx & Sons“ antwortet Derrida summarisch auf seine Kritiker.

Das französische Original dieses Textes erschien 2002, die deutsche Übersetzung hiervon Anfang diesen Jahres bei Suhrkamp. Die Argumente von Derridas Kritikern sind im Anmerkungsteil zusammengefasst, was man hilfreich oder tendenziös finden kann. Der hermetischere Charakter, den der Text als eigenständiges Buch zwangläufig bekommt, wird noch durch die Einleitung von Thierry Briault (zumindest in der deutschen Übersetzung) verstärkt, aus der nicht unbedingt deutlich wird, dass es sich bei „Marx & Sons“ um einen aus „Ghostly Demarcations“ ausgegliederten Beitrag handelt. Die deutsche Übersetzung verfügt über keine eigene Einleitung und weist darüber hinaus die Peinlichkeit auf, aus dem bei Fischer erschienenen deutschen Übersetzung von „Marx Gespenster“ ausführlich zu zitieren, Erscheinungsort und Verlag aber nirgends zu erwähnen.

Im Vergleich zu „Marx Gespenster“, das als dekonstruktivistische Lektüre den „affirmativen Satz, die philosophische Proposition meidet, ... nicht bejaht noch verneint“ (Frederic Jameson in Sprinker 1999:33) ist „Marx & Sons“ einfach zu lesen. Derrida argumentiert hier in durchaus traditioneller Weise. Zwar bezieht er sich auch hier ohne größere äußere Ordnung auf selektiv herausgesuchte Passagen aus Texten seiner Kritiker, beschränkt sich aber auf wenige Punkte und ist vornehmlich bemüht, Verzerrungen und Fehlinterpretationen zurückzuweisen. Von daher kann man das Buch als wünschenswerte Vereindeutigung von „Marx‘ Gespenster“ in Hinblick auf den Klassenbegriff, den Ausbeutungsbegriff, die politischen Formen der Partei und der Internationalen, die Problematik des Erbens, etc. lesen- oder besser, als Vorschlag, wie Derrida „Marx‘ Gespenster“ gelesen haben möchte.

Der weitaus größte Teil von „Marx & Sons“ widmet sich den groben Differenzen. Derrida wehrt sich gegen die Vorwürfe, er würde den Klassen und den Ausbeutungsbegriff ablehnen, gegen eine Identifikation mit der Postmoderne, dem Poststrukturalismus und der Rede vom Ende der Metaerzählungen und möchte auch nicht mit dem Marxismus versöhnt werden, da er sich nie in einem Kriegszustand mit diesem befunden habe. Seine scharfen Kritiker gruppiert er, der Titel „Marx & Sons“ weist ja schon darauf hin, um die Figur des „besitzergreifenden Marxisten“, der „über die Orthodoxie wie seinen Erbteil wach(t)“ (Derrida 2004:39). Als langjähriger und leidgeprüfter Leser marxistischer Texte glaubt man dieser Charakterisierung natürlich gerne, findet sie aber zumindest in der bösen und witzigen Polemik von Eagleton nicht bestätigt.

Wirklich interessant sind erst Derridas Kommentare zu seinen freundlicheren Kritikern, wenn Licht auf kleine Differenzen geworfen wird und es so zu Präzisierungen kommt. Das ist namentlich bei den Repliken auf Negri und Jameson der Fall. Hier soll nur als ein Beispiel die Diskussion um die Formulierung des Messianischen ohne Messianismus herausgegriffen werden. Jameson erinnert daran, dass in Walter Benjamins zur Zeit des Hitler-Stalin-Paktes formulierten geschichtsphilosophischen Thesen die „schwache messianische Kraft“ eine spezifische Form der Hoffnung in Zeiten der zertrümmerten Hoffnungen bedeute, in revolutionären Zeiten, in denen die Befreiung realisierbar erscheine, würde man das Messianische nicht evozieren wollen. Weiterhin hält er den Ausdruck für gleichbedeutend mit „untergründigem Utopismus“, wobei Jameson selbst diese Formulierung bevorzugt. In seiner Antwort weist Derrida darauf hin, dass die von ihm verwendete Formulierung zwar von Benjamin inspiriert, mit dieser aber nicht identisch sei und bestreitet vor allem, dass das Messianische und die Utopie dasselbe seien: Vielmehr sei das Messianische „eine universale Struktur der Erfahrung“ im Sinne einer Offenheit für die heterogenste Andersheit. „Da sie (die Struktur, A.B.) alles andere als utopisch ist, fordert sie hier und jetzt die Unterbrechung des gewöhnlichen Laufs der Dinge, der Zeit und der Geschichte“ (Ebda.: 78f.). Am Ende ist es also der Theoretiker des nicht Gegenwärtigen, des „Aufschubs“, der auf der Dringlichkeit des Hier und Jetzt insistiert, während der in der Tradition der Hegelschen „Aufhebung“ stehende Jameson die Befreiung aufs Unendliche in die Utopie aufschiebt.

Anmerkungen

  1. Derrida, Jacques 2004: Marx & Sons, Frankfurt am Main, Suhrkamp.Zurück zur Textstelle
  2. Derrida, Jacques 1993: Spectres de Marx, Paris, Galilée, deutsche Ausgabe 1995: Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt am Main, Fischer. Zurück zur Textstelle
  3. Hierzulande kann man sich sicher noch an Norbert Blüms Ausruf: „Marx ist tot, Jesus lebt!” erinnern.Zurück zur Textstelle
  4. Marx, Karl/Engels Friedrich 1973: Werke, Bd.8, Berlin, Dietz, 115ff.Zurück zur Textstelle
  5. Sprinker, Michael (Editor) 1999: Ghostly Demarcations. A Symposium on Jacques Derrida’s Specters of Marx, London/New York, Verso.Zurück zur Textstelle
© links-netz Juni 2004