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Finanzkrise als Folge und Motor der Entdemokratisierung: Wolfgang Streecks „Gekaufte Zeit“

Andreas Böhm

Wolfgang Streecks „Gekaufte Zeit“1 wird nicht nur intensiv diskutiert2, es befindet sich auch – für ein wissenschaftliches Buch eher ungewöhnlich – seit Erscheinen unter den ersten 50 der Spiegel-Bestsellerliste „ Sachbuch „. Das große Interesse, das das Buch weckt, wird indes sofort plausibel. Die groß angelegte zeithistorische Studie verfolgt die gegenwärtige säkulare Krise und die mit ihr gegebene soziale und demokratische Misere in ihren Ursachen in die 1970er Jahre zurück. Sie bringt die Krisentheorie in engsten Zusammenhang zur Darstellung eines unaufhaltsamen Auseinanderdriftens von Kapitalismus und Demokratie, liefert eine Fülle prägnanten empirischen Materials, hält ein vehementes Plädoyer für die Re-Etablierung von politischer Ökonomie und Klassentheorie in der Soziologie und wird von mitreißenden verdichtenden Darstellungen und politischen Stellungnahmen begleitet. Wie zu zeigen sein wird, kann das Buch diesen Anspruch einer engagierten politisch-ökonomischen Analyse allerdings in nahezu keiner Hinsicht einlösen.

Das Buch, eine überarbeitete Fassung von Streecks Frankfurter Adorno-Vorlesungen von 2012, beginnt mit einer kritischen Würdigung der Theorie der Legitimationskrise von Jürgen Habermas und Claus Offe. Als deren entscheidenden Mangel konstatiert sie eine nachträglich leicht sichtbare, fatale Dethematisierung von politischer Ökonomie und Klassenanalyse. Mit einer Theorie, die die Ökonomie systemtheoretisch konzipiert, den Klassengegensätzen nur nachrangigen Status einräumt und die Legitimationskrise aus der Perspektive systemisch induzierter Deformierungen der Lebenswelt betrachtet, konnte die wichtigste Entwicklung der 70er Jahre, „die Konterrevolution gegen den Sozialkapitalismus der Nachkriegsära“ (111) aufgrund sinkender Profitraten nicht antizipiert werden. „Nicht die Massen waren es, die dem Kapitalismus der Nachkriegszeit die Gefolgschaft versagten und ihm dadurch ein Ende setzten, sondern das Kapital in Gestalt seiner Organisationen, Organisatoren und Eigentümer.“ (41) Streeck folgert daraus nicht auf eine Ablehnung des Begriffs der Legitimationskrise, sondern auf eine Erweiterung „der nicht nur zwei Akteure, den Staat und seine Bürger kennt, sondern drei: den Staat, das Kapital und die ‚Lohnabhängigen’“ (46). Auf diese Weise, und das ist der systematisch entscheidende Zug Streecks, lassen sich Wirtschaftskrisen als Legitimationskrisen begreifen: „Wirtschaftskrisen im Kapitalismus resultieren aus Vertrauenskrisen auf Seiten des Kapitals und sind keine technischen Störungen, sondern Legitimationskrisen eigener Art. Niedriges Wachstum und Arbeitslosigkeit sind Folgen von ‚Investitionsstreiks’ derer, die über das Kapital verfügen, durch dessen Einsatz sie behoben werden könnten, aber nicht behoben werden, solange es den Kapitaleignern an Vertrauen mangelt.“(49f.) In dieser Konstellation ist, so das Buch im weiteren, seit den 70er Jahren das Kapital mit seinem aggressiven Kampf für niedrige Steuern, Staats- und Lohnquoten, Deregulierung und Wettbewerbsfreiheit das aktive Element. Die demokratischen Staaten, zu dieser Zeit überwiegend sozialdemokratisch regiert, begeben sich weder in offenen Konflikt mit dem Kapital noch wollen sie am „Versprechen eines sozial befriedeten Kapitalismus“ (225) rühren und reagieren ausweichend geldpolitisch mit der titelgebenden Politik der ‚gekauften Zeit’ die „zunächst durch Inflationierung der Geldmenge, dann durch steigende Staatsverschuldung und schließlich durch freizügige Kreditvergabe an private Haushalte eine Art von Massenloyalität sicherte, wie sie die Theorie des Spätkapitalismus sich schlechthin nicht hatte vorstellen können“ (26).3

Den Ausgangspunkt dieser Entwicklung, den Gesellschaftsvertrag des demokratischen Kapitalismus der Nachkriegsära skizziert die „Gekaufte Zeit“ wie folgt: „ politisch garantierte Vollbeschäftigung, flächendeckende Lohnfindung durch Verhandlungen mit freien Gewerkschaften, Mitbestimmung der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz und im Unternehmen, staatliche Kontrolle von Schlüsselindustrien, ein breiter öffentlicher Sektor mit sicherer Beschäftigung als Vorbild für die Privatwirtschaft, universelle, gegen den Wettbewerb geschützte soziale Bürgerrechte, durch Einkommens- und Steuerpolitik in engen Grenzen gehaltene soziale Ungleichheit und staatliche Konjunktur- und Industriepolitik zur Verhinderung von Wachstumskrisen.“ (56) Die Aufkündigung dieses Gesellschaftsvertrages von oben, zunächst durch Investitionszurückhaltung, setzt eine Folge von Krisen in Gang. Die demokratischen Staaten versuchen, die sozialkapitalistische Friedensformel durch jeweils veränderte Geldpolitiken zu retten. Sobald eine dieser Strategien seitens der Kapitaleigentümer für zu teuer befunden wird, wird sie beendet und durch eine neue ersetzt. Auf den Investitionsrückgang der frühen 1970er Jahre reagieren die Staaten „mit einer Geldpolitik, die die über den Produktionszuwachs hinausschießenden Lohnerhöhungen akkommodierte, mit der Folge hoher weltweiter Inflationsraten insbesondere in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre“ (61). Die Stagflation der Endsiebziger führt zu einer monetaristischen Gegenreaktion, insbesondere bei den Regierungen Thatcher und Reagan verbunden mit einer massiven Bekämpfung der Gewerkschaften. Der abbröckelnde Sozialstaat rettet sich in die Staatsverschuldung. Aus dem vehement bekämpften Steuerstaat des Sozialkapitalismus wird der Schuldenstaat des Neoliberalismus (Kapitel 2), dessen Ressourcen indes nach weniger als 20 Jahren erschöpft sind. Die Gläubiger zweifeln an der Fähigkeit der Staaten die Kredite bedienen zu können, die Staaten selbst sorgen sich um den wachsenden Anteil des Schuldendienstes (60). Mit der Initiative der Regierung Clinton „vor allem durch Kürzungen der Sozialausgaben ihren öffentlichen Haushalt auszugleichen“ (ebd.) beginnt die Ära des Konsolidierungsstaates (Kapitel 3). Auch hier wird die sozialkapitalistische Friedensformel nicht aufgegeben. Der „auf Pump finanzierte Konsumerismus“ (vgl. 78) wird durch Liberalisierung der Kapitalmärkte und private Verschuldung ermöglicht. Nun ist „das politisch Nötige mit dem neoliberal Wünschenswerten auf ideale Weise zur Deckung gebracht“ (68). Es beginnt die dem Konsolidierungsstaat korrespondierende Phase des „privatisierten Keynesianismus“ (Crouch 2008). Das Platzen der Schuldenblase führt zuletzt zum erneuten Anstieg der Staatsversschuldung und zur dreifachen Krise von Banken, Staatsfinanzen und Realökonomie.

Am Ende des Prozesses sind die finanziellen Mittel der Staaten erschöpft, die Ökonomie neoliberal reorganisiert, die Demokratie an die Gläubiger der vormals souveränen Staaten verpfändet und insbesondere im undurchsichtigen Mehrebenensystem des europäischen Konsolidierungsstaates auch schon formal ausgehebelt. Bei diesem schonungslosen Resümee gescheiterter (sozial-)demokratischer Politik verwundert es nicht, dass Streeck mit einem Plädoyer für „destruktive Opposition“ (218) schließt, die „an den verstopften Kanälen der institutionalisierten Demokratie vorbei“ ... „Sand in das Getriebe des kapitalistischen Austeritätskurses und –diskurses“ streut und „ein Gefühl für die tiefe Absurdität des Markt- und Geldkultur und die groteske Überzogenheit ihrer Ansprüche gegen die Lebenswelt“ zum Ausdruck bringt, auch wenn den Bürgern, so endet der Hauptteil des Buches „als Argumente nicht Geldscheine zur Verfügung stehen, sondern nur Worte und, vielleicht, Pflastersteine“ (223).

Ein an die eigentlichen Adorno-Vorlesungen noch angefügter Schluss verdichtet die Beschreibung der gegenwärtigen Schuldenkrise auf den „Moment, an dem sich die Wege von Kapitalismus und Demokratie trennen müssen“ (235) und nimmt als die wichtigste Konsequenz daraus etwas überraschend ein leidenschaftliches Plädoyer für die Rückabwicklung des EURO, die Wiedereinführung des Instruments der äußeren Abwertung der Währung als Alternative zur allenthalben betriebenen Politik der „inneren Abwertung“ (237)4 und damit auch für die Auflösung rückschrittlicher europäischer Koalitionen. 5

Leider zerfällt das bisher skizzierte Bild einer klaren und engagierten Analyse der säkularen Krise bei einer genaueren Lektüre.

Beginnen wir mit dem Literaturverzeichnis. Bei den ca. 15 aufgeführten Titeln von Streeck selbst fällt eine Lücke für die Jahre von 1998 bis 2004 auf, für die Zeit also, in der er Berater der Regierung Schröder und federführend für das Bündnis für Arbeit war. Nimmt man einen Text aus dieser Zeit6 zur Hand, wird man es nicht für möglich halten, dass er vom Autor der „Gekauften Zeit“ stammen soll. Zwar präsentiert sich auch hier ein wortgewaltiger und scharfzüngiger Intellektueller, der die Zukunft des Sozialstaats in dramatischen Schreckensszenarien zuspitzt und verantwortliche Kräfte benennt, er folgt aber anderen politischen Zwecken und theoretischen Narrativen. Der in der „Gekauften Zeit“ für das soziale und demokratische Elend Hauptverantwortliche, das die Konterrevolution gegen den Sozialkapitalismus betreibende Kapital, ist hier nicht der Gegenstand der Kritik. Verantwortlich für den Niedergang des Sozialstaats sind dem Streeck dieser Zeit zufolge in der Hauptsache diejenigen die, ob konservativ oder links, die notwendige Anpassung des Sozialstaats an die Bedingungen der internationalisierten Wirtschaft verhinderten, für Arbeitszeitverkürzung eintraten und sich notwendigen Maßnahmen wie der Einführung von Niedriglohnsektoren und der Senkung der Schwelle der Zumutbarkeit für aufzunehmende Arbeit widersetzten. Umgekehrt spielt in der „Gekauften Zeit“ eine „sozialstaatlich subventionierte Verknappung des Arbeitsangebots“ als „Ursache von dauerhafter Massenarbeitslosigkeit“7 und damit der Krise von Sozialsystemen und Staatsfinanzen keine Rolle mehr. Ein hoch selektives Erklärungsmuster erscheint durch ein anderes, wie noch zu zeigen sein wird, nicht minder selektives, ausgetauscht.

Nun muss auch ein führender sozialdemokratischer Intellektueller einschneidende Änderungen seiner Auffassungen nicht unbedingt öffentlich reflektieren, auch wenn dies sicher zu Klarheit und Glaubwürdigkeit beitragen würde. Der unkommentierte rasche Wechsel in Streecks Auffassungen zwischen 2004 und 2009 deutet zunächst nur darauf hin, dass man den in der „Gekauften Zeit“ weit gestreuten impliziten Bündnisangeboten an die Linke mit Vorsicht begegnen sollte. Fragen der Glaubwürdigkeit müssten hier auch nicht so betont werden, wäre das Beste an dem Buch nicht gerade die schwungvolle Rhetorik, die seine konzeptuelle und begriffliche Schwäche nur dürftig überdeckt. Es genügt hier, auf die gröbsten Punkte aufmerksam zu machen:

Zunächst fällt auf, dass das Ende des Buches nicht recht zu seinem Anfang und zu seiner zentralen Entwicklungslinie passen will. Streeck empfiehlt die Rückabwicklung des EURO.8 Seine wichtigste Referenz für die 3 Stufen Logik der gekauften Zeit ist aber die Entwicklung der USA. Es liegt auf der Hand, dass mit der Wiedereinführung je flexibler Wechselkurse für die dann ehemaligen EURO Staaten, selbst wenn sie so reibungslos verläuft, wie Streeck sie sich vorstellt, die generelle, auch für die USA, Großbritannien, Japan, Schweden etc. konstatierte Tendenz zu entsolidarisierten, autoritären und von ihren Gläubigern abhängigen Gesellschaften noch gar nicht berührt wäre.9 Nicht zufällig hat das Buch, wie oben erwähnt, auch zwei Schlüsse. Die drei Adorno Vorlesungen enden mit einem bemerkenswerten allgemeinen Plädoyer für destruktive Opposition, auch Gewerkschaften und sozialdemokratische Parteien spielen hier keine positive Rolle. Wären aber die Bürger wirklich institutionell so entmachtet, wie es dieser Schluss nahelegt, wäre die Rückabwicklung des EURO im Streeckschen Sinne von vornherein zum Scheitern verurteilt und nur unter neoliberalen (und nationalistischen) Bedingungen zu haben – ein keineswegs unwahrscheinliches Szenario. Streecks praktische Konsequenzen wirken unzureichend durchdacht oder gar undurchsichtig.

Auch die wenigen begrifflichen Oppositionen, mit denen es der „Gekauften Zeit“ zu gelingen scheint, ihre Analyse elegant zu strukturieren (Demokratie versus Kapitalismus, innere versus äußere Abwertung, Marktvolk versus Staatsvolk), zeigen sich bei näherer Betrachtung als ad hoc zurechtgelegte Konstrukte.

Um die Geschichte des unaufhaltsamen Auseinandertretens von Kapitalismus und Demokratie in den westlichen Gesellschaften seit Beginn der 1970er Jahre erzählen zu können, muss Streeck ‚Umverteilung’ zum Bedeutungskern von ‚Demokratie’ machen.10 Das ist ungewöhnlich und wird sicher wenige Befürworter finden. Legt man dagegen den sehr viel gängigeren, im Hinblick auf inhaltliche Zwecke unspezifischeren Begriff der Volkssouveränität in der Tradition Rousseaus und Kants zugrunde, wird die Enge von Streecks Konzept ersichtlich. Mit dem Konzept der Volkssouveränität lässt sich problemlos eine demokratisch organisierte Gesellschaft mit (annähernd) egalitärer Primärverteilung denken – ohne eine Notwendigkeit zur Umverteilung. Auf der anderen Seite ist Streecks Insistieren auf der entdemokratisierenden Wirkung sozialer Ungleichheit nur zu ernst zu nehmen. Wachsende soziale Ungleichheit bewirkt, wie das Buch auch am Gegenstand der Wahlbeteiligung statistisch eindrucksvoll belegen kann (87ff.) politische Apathie vor allem in den unteren sozialen Schichten. Das macht es wiederum unwahrscheinlich, dass demokratische Wahlen dazu führen, die Ungleichheit zu korrigieren. Trotzdem kann man skeptisch sein, ob die Demokratie so am Abgrund steht, wie Streeck und sein Gewährsmann Colin Crouch dies suggerieren. Weiterhin gibt es nicht nur sozial-ökonomische Bedingungen politischer Partizipation sondern etwa auch die Abwesenheit sexueller Diskriminierung. Selbst in der finsteren Zeit des Neoliberalismus sind hier gegenüber der goldenen Nachkriegszeit nicht nur Rückschritte zu vermelden. Zuletzt ist noch zu bemerken, dass ein inhaltlich eng definierter, um ‚Umverteilung’ zentrierter Begriff von Demokratie es schwer macht, die von Streeck an sich überzeugend angegriffenen, dem formalen demokratischen Zugriff entzogenen Expertokratien zu kritisieren.

Dagegen meint ‚Kapitalismus’ in der „Gekauften Zeit“ zunächst nicht mehr als Marktwirtschaft und die dramatische Alternative zwischen einem autoritären Kapitalismus ohne Demokratie und einer „Demokratie ohne Kapitalismus, zumindest ohne den Kapitalismus, den wir kennen“ (235) offenbart dann doch nur den altbekannten und zuvor reichlich idyllisierten11 sozial eingehegten Kapitalismus der Nachkriegszeit: Institutionen „mit denen Märkte wieder unter soziale Kontrolle gebracht werden können“. (237)12

Der dramatische Höhepunkt der Narration verpufft also. Die gegenwärtige Situation ist in den meisten Punkten sicherlich sehr viel schlechter als zu Beginn der 1970er Jahre. Aber weder gab es damals ein ausgewogenes Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie, noch droht uns hier und heute ein schlechterdings demokratiefreier Kapitalismus. Die andere Alternative, Demokratie ohne Kapitalismus, erwägt Streeck – bedauerlicherweise – kaum ernsthaft. Er tritt dafür ein, dass die Kräfteverhältnisse sich wieder zugunsten des einfachen Volkes und gegen das Kapital verschieben und plädiert für souveräne Schuldenstreichungen, Ende der Niedrigsteuerkonkurrenz unter den EU Staaten, Steuererhöhungen und sehr viel stärkere Umverteilung von oben nach unten. Das ist selbstverständlich unterstützenswert, eine Alternative von Kapitalismus und Demokratie beschreibt es nicht.

Enttäuschend ist zuletzt auch die in der „Gekauften Zeit“ völlig zurecht geforderte Rehabilitierung von politischer Ökonomie und Klassenanalyse. Streeck operiert hier mit einem völlig überdehnten Begriff von Legitimationskrise, der so weit geht, ökonomische Krisen als strategisches Mittel im Klassenkampf zu konzipieren: „Im Übrigen konnte das Kapital, wie wir gesehen haben, immer schon auf soziale Eingriffe in den Markt, die ihm zu weit gingen, mit Krisen reagieren. Krisen entstehen, wenn diejenigen, die unentbehrliche Produktionsmittel kontrollieren, glauben befürchten zu müssen, am Ende nicht entsprechend ihren Vorstellungen von Marktgerechtigkeit entlohnt zu werden.“ (94) Das Überschätzen der Organisationsfähigkeit des Kapitals, dabei das Übersehen des Konkurrenzmechanismus zwischen den Kapitalen, das Absehen von „objektiven“ Faktoren ökonomischer Krisen (auch die „objektive“ ökologische Krise kommt in dem Buch nicht ohne Grund nicht vor) – all dies ist sicher nicht Stand der Wissenschaft.13 Die Konstruktion des Buches braucht aber diesen überdehnten Begriff von Legitimationskrise wie die Identifizierung von Demokratie und Umverteilung, um säkulare ökonomische Krise und Entdemokratisierung 1 zu 1 aufeinander abbilden zu können.

Nun gibt es ohne Zweifel eine dramatische Krise, wachsende soziale Ungleichheit, Prozesse der Entdemokratisierung und Zusammenhänge zwischen all dem. Das Buch weist allerdings nicht als erstes darauf hin und trägt zum Erhellen dieser Zusammenhänge eher wenig Neues bei. Analytisch bleibt allenfalls die, allerdings nicht nur von Streeck vertretene, diskussionswürdige These der Dominanz der Klassenkämpfe seitens der herrschenden Klassen für die betrachtete Ära, eine Menge informativen und geschickt arrangierten empirischen Materials sowie die „gekaufte Zeit“ selbst als übergreifende Metapher einander ablösender politischer Verlegenheitslösungen. Diese sind, wie erwähnt, in weiten Teilen von sozialdemokratischen Regierungen getragen worden. Als Theorie der ökonomischen Krise und der Entdemokratisierung eher irreführend empfiehlt sich die „Gekaufte Zeit“ daher als gegen den Strich zu lesendes Lehrbuch gescheiterter sozialdemokratischer Politiken und Theorien.14

Literatur:

Altvater, Elmar (2013): Der politische Euro, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 5

Assheuer, Thomas (2013): Das böse Spiel; Warum sich Jürgen Habermas mit Wolfgang Streeck streitet und der neuen Partei Alternative für Deutschland viel Erfolg wünscht in „Die ZEIT“ 16.5.2013

Bischoff, Joachim, Lieber, Christoph (2013): Wohin treibt der »demokratische Kapitalismus«?, in: Sozialismus, H. 5

Crouch, Colin (2008): Postdemokratie, Frankfurt am Main

Demiriović (2013): Keine Zeit mehr. Das Ende des sozialdemokratischen Projekts, in: Prokla 171, Berlin. (Im Erscheinen)

Habermas, Jürgen (2013): Demokratie oder Kapitalismus?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 5

Streeck, Wolfgang, Heinze, Rolf G. (1999): Runderneuerung des deutschen Modells. Aufbruch für mehr Jobs, in: Hans-Jürgen Arlt, Sabine Nehls (Hrsg.): Bündnis für Arbeit, Opladen

Streeck, Wolfgang (2004): Hire and Fire- Ist der amerikanische Arbeitsmarkt ein Vorbild für Deutschland? in: Berliner Republik 3/2004, zit n. http://www.b-republik.de/b-republik.php/cat/8/aid/600 (letzter Zugriff 9.6.2013)

Anmerkungen

  1. Streeck, Wolfgang: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.Zurück zur Textstelle
  2. Vgl. unten die Beiträge im Literaturverzeichnis Zurück zur Textstelle
  3. Die Formulierungen schwanken. An dieser Stelle kaufen die Staaten quasi zweckgebunden dem „kapitalistischen System mit Geld Zeit“, an anderer Stelle handelt es sich um „Notbehelfe“ (225) demokratischer PolitikZurück zur Textstelle
  4. Gemeint ist damit „die Steigerung von Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit durch flexiblere Arbeitsmärkte, niedrigere Löhne, längere Arbeitszeiten, eine höhere Erwerbsbeteiligung und eine auf Rekommodifizierung umgestellten Wohlfahrtsstaat“ (237)Zurück zur Textstelle
  5. Die „Flexibilisierung des europäischen Währungssystems“ bedeute zugleich die „Beendigung der Koalition zwischen den Exportindustrien des Nordens, insbesondere Deutschlands, und den Staatsapparaten und Mittelschichten des Südens ..., die gegenwärtig dabei ist, die Renten und Löhne der Kleinverdiener des Mittelmeerraumes zu kürzen, damit dessen städtische Mittelschichten sich weiterhin deutsche Luxusautomobile zum Festpreis kaufen und deren Produzenten langfristig mit einem stabilen Wechselkurs kalkulieren können ...“ (251)Zurück zur Textstelle
  6. Vgl. Streeck und Heinze 1999, Streeck 2004.Zurück zur Textstelle
  7. Vgl. Streeck (2004): „Heute ist die sozialstaatlich subventionierte Verknappung des Arbeitsangebots dadurch, dass sie auf dem Umweg über die Sozialversicherungsbeiträge die Kosten des Faktors Arbeit ständig erhöht, selber zur Ursache von dauerhafter Massenarbeitslosigkeit geworden.“In diesem kurzen Text kommen, positiv bewertet, all die Punkte vor, die in der „Gekauften Zeit“ unter dem Titel der „inneren Abwertung“ geführt werden: flexiblere Arbeitsmärkte, niedrigere Löhne, längere Arbeitszeiten, eine höhere Erwerbsbeteiligung und Rekommodifizierung des Wohlfahrtsstaats. Er zieht hier mit Blick auf den amerikanischen Arbeitsmarkt Lehren für den deutschen und hält sein für diese Zeit programmatisches Plädoyer für die Erhöhung der Erwerbsquote durch Flexibilisierung des Arbeitsmarktes im Dienstleistungssektor. Er polemisiert gegen „sozialstaatliche Wärmestuben“, „üppige Arbeitszeitverkürzungen der letzten zwei Jahrzehnte“ und „gigantische Lohnnebenkosten“ und fordert darüber hinaus, „dass die Mitglieder einer reichen und entsprechend anspruchsvollen Gesellschaft mehr Risiken selbst übernehmen können und müssen“. Der Gestus gegenüber den Disprivilegierten ist weniger emphatisch empört als paternalistisch: „Wer kein Geld oder gar keine Arbeit hat, der kann mit sechs Wochen Urlaub ohnehin wenig anfangen.“ Zurück zur Textstelle
  8. Für sich genommen ist das natürlich eine diskussionswürdige Position. Sie wird allerdings v.a. von Elmar Altvater (2013) überzeugend zurückgewiesen.Zurück zur Textstelle
  9. Umso ärgerlicher ist, dass Streecks Eintreten für die Rückabwicklung des EURO in der Debatte um das Buch den wichtigsten Diskussionspunkt darstellt. So geht Thomas Assheuer (2013) in der ZEIT davon aus, Streeck habe diese Position durch das Buch umfassend begründet. In Wirklichkeit handelt es sich um eine zwar vertretbare, vom zentralen Argument des Buches aber eigentlich abgekoppelte Position. Jürgen Habermas (2013) nimmt Streecks Zuspitzung gerne auf, weist das Plädoyer für die Rückabwicklung des EURO im Hauptteil seiner Besprechung mit guten Gründen zurück und deckt die für seine Theorie unbequemen politisch-ökonomischen Problematisierungen der „Gekauften Zeit“ durch ausführliches Lob eingangs geschickt zu.Zurück zur Textstelle
  10. Unter Demokratie versteht die „Gekaufte Zeit“ „redistributive Massendemokratie“ (28) die begrifflich ergiebigste Stelle findet sich Seite 90: „Mit einem demokratischen Staat dagegen ist der Neoliberalismus unvereinbar, sofern unter Demokratie ein Regime verstanden wird, das im Namen seiner Bürger mit öffentlicher Gewalt in die sich aus dem Marktgeschehen ergebende Verteilung wirtschaftlicher Güter eingreift ...“. Zurück zur Textstelle
  11. Schon die in der Streeckschen Darstellung des sozialkapitalistischen Gesellschaftsvertrages (s.o.) behauptete Universalität der sozialen Rechte lässt sich mit einem großen Fragezeichen versehen.Zurück zur Textstelle
  12. Zu den beiden anderen begriffliche Oppositionen kurz:Zurück zur TextstelleWährend ‚äußere Abwertung’ ein Terminus Technicus der Währungspolitik ist, handelt es sich bei der ‚inneren Abwertung’ um eine Metapher für ein ganzes Bündel austeritätspolitischer Maßnahmen. Die Symmetrie liegt nur auf der Ebene der Wortwahl. Staatsvolk und Marktvolk sind bestenfalls Labels für einander widerstrebende Anforderungen an den Staat (im ersten Kapitel werden sie noch mit Lohnabhängigen und Kapitalabhängigen identifiziert).Zurück zur Textstelle
  13. Alex Demirović (2013) weist darauf hin, dass Streeck in absurd überheblicher Manier gerade die Literatur ignoriert, „die seit den 1970er kontinuierlich Fragen der ökonomischen Globalisierung und staatlichen Internationalisierung, der Durchsetzung des Neoliberalismus, die Entwicklung neuer Produktionskonzepte, der Finanzialisierung der Akkumulation und der Ausrichtung der Unternehmen am Shareholder-Value, der Krise und des Krisenmanagements erörtert hat.“Zurück zur Textstelle
  14. Vgl. Demirović (2013). Mir ist nicht ganz klar, ob Demirović zuspitzende These vom „Ende des sozialdemokratischen Projekts“ mehr eine praktischen Option oder eine empirische Prognose meint. Also entweder: Streecks Buch stellt, richtig gelesen, die Geschichte gescheiterter Rettungsversuche des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaats als Folge einer prekären Anlage des demokratischen Kapitalismus dar. Es kann keine plausiblen Gründe vorbringen, warum es sich lohnen sollte, das Projekt des demokratischen Kapitalismus noch einmal von neuem aufzuziehen und plädiert damit wider Willen für einen demokratischen Sozialismus, für den es sich ohnehin einzutreten lohnt.Oder: Unbeabsichtigt zeigt Streecks Buch, dass der (sozial-)demokratische Kapitalismus von vorneherein zum Scheitern verurteilt war und jetzt gescheitert ist. Dies fände ich eine zu weitgehende Schlussfolgerung. Zweifelsohne lässt sich die in dem Buch erzählte Geschichte des unaufhaltsamen Auseinandertretens von Demokratie und Kapitalismus so interpretieren. Die Geschichte ist aber nicht wahr.Zurück zur Textstelle
© links-netz Juli 2013