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„Der Diskurs der Unsicherheit treibt die Fragmentierung voran“

Nach dem Dezember 2001: Ein Gespräch über die jüngsten Veränderungen in Argentinien, militante Untersuchung, Revolutionsromantik und schwierige Alternativen

Interview mit Sebastián Scolnik und Andrés Fernández

Am 19. und 20. Dezember wehrte sich ein großer Teil der argentinischen Bevölkerung massiv gegen die Auswirkungen der neoliberalen Politiken. Unmittelbarer Anlass war für die städtische Mittelklasse die Sperrung der Bankkonten, da der IWF der Regierung keine Kredite mehr geben wollte. Die Bewegungen der Erwerbslosen, die sog. piqueteros, hatten schon seit Mitte der 1990er Jahre protestiert. Insbesondere mit der Strategie der Straßensperren versuchten sie auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen, wurden jedoch weitgehend ignoriert und repressiv bekämpft. Doch im Dezember entstanden neue Protestformen, viele Menschen engagierten sich erstmals in Bewegungen und die piqueteros wurden zumindest für eine Zeit zu Verbündeten der Mittelklassen. Innerhalb von wenigen Tagen kam es zu vier Präsidentenwechseln. Spätestens seit Mai 2003 hat sich die politische Situation dann mit dem Amtsantritt von Präsident Nestor Kirchner geändert. Während einer Rundreise durch Österreich und Deutschland sprach Ulrich Brand mit Sebastián Scolnik vom Colectivo Situaciones und mit Andrés Fernández vom Movimiento de los Trabajadores Desocupados (MTD) de Solano (Bewegung der Erwerbslosen Solano, Groß-Buenos Aires) über die aktuelle.

Ulrich Brand: Gab es denn im Übergang von Eduardo Duhalde zu Nestor Kirchner vor eineinhalb Jahren überhaupt Veränderungen?

Sebastián: In der Tat. Kirchner hat sich einerseits den Diskurs der sozialen Bewegungen angeeignet. Andererseits erhebt er den Anspruch, dass der Staat wieder das Zentrum der Politik sei. Er bekräftigt also die sozialen Bewegungen und er negiert sie. Alle sollen sich hinter ihm einreihen, damit die Rechte nicht gestärkt wird. Symbolisch wichtig war hier, dass eines der wichtigsten Folterzentren in Buenos Aires während der Militärdiktatur (1976-83), die Nationale Mechanikerschule des Militärs (ESMA), an Menschenrechtsgruppen gegeben wurde, damit sie dort ein Museum des Erinnerns einrichteten. Die gesamte offizielle Lesart des Staates bezüglich der Diktatur wurde von den Menschenrechtsgruppen übernommen. Auf der anderen Seite wurde jedoch die neoliberale Wirtschaftspolitik nicht verändert, es fand keine Umverteilung statt, die neue Regierung war nicht in der Lage, die ökonomische Situation vieler Menschen zu verbessern.

Kann man davon sprechen, dass es so etwas wie eine Rekonstitution von Hegemonie gibt?

Sebastián: Da muss man diskutieren, was mit Hegemonie gemeint ist. Wenn Hegemonie bedeutet, dass es einen gewissen Konsens über die politische Zentralität des Staates gibt, dann ja. Aber das geschieht auf der Basis eines enormen sozialen Ausschlusses oder als Form eines subordinierten Einschlusses, der nicht mehr der früheren Form der Integration der Arbeiterklasse entspricht. Für viele bedeutet das, noch nicht einmal ihr Leben reproduzieren zu können.

Wie waren in den Erwerbslosenbewegungen die Erwartungen gegenüber der neuen Regierung?

Andrés: Die Bewegung der Erwerbslosen MTD Solano umfasst etwa 400 Familien. Die Situation ist in den meisten Stadtvierteln, in denen die MTD Solano aktiv sind, dadurch gekennzeichnet, dass noch nicht einmal die grundlegenden Bedürfnisse befriedigt werden können. Die regierende peronistische Partei, zu der ja auch der Präsident gehört, hat bis heute eine assistentialistische Position uns gegenüber, das heißt, sie wollen weiterhin die Kontrolle behalten. Wir haben eher schlechte Erfahrungen, insbesondere was die Strategien der Kooptation durch die Parteiführer angeht.

Gab es denn eine klare Spaltungsstrategie der Regierung gegenüber den Bewegungen?

Andrés: Ja. Zunächst die erwähnte Übernahme des Diskurses. Damit übernahm der Staat wieder die symbolische Steuerung und zwängte die Bewegungen auf einen Platz jenseits des Politischen. Das Verhältnis des Staates zu den neuen Bewegungen war seit den ersten sozialen Protesten 1995 widersprüchlich. Er stellte eine Art Sozialhilfe für Erwerbslose bereit, zu denen auch die später stark wachsenden Bewegungen Zugang hatten, um Projekte und Initiativen voranzutreiben. Der Zugang war aber sehr selektiv und limitiert. Kirchner weitete das aus. Es war eine zeitlang sehr einfach, Ressourcen für soziale Projekte zu bekommen. Die meisten Bewegungen haben das akzeptiert, wurden von Kirchner sogar in den Präsidentenpalast eingeladen zur Präsentation der neuen Programme. Aber darüber haben sie sich auch gespalten.

Welche Sektoren stehen zu Kirchner, die vorher eher kritisch waren?

Andrés: Zunächst alle jene, die dramatische wirtschaftliche Probleme hatten und mittels der Sozialpläne überleben konnten. Dazu kommen die traditionellen linken Kräfte, die eine politische Kraft werden wollen. Die Sozialpläne dienen ihnen dazu, sich eine Anhängerschaft aufzubauen. Sie verbleiben aber in der Parteienlogik. Andere Kräfte haben die Regierung offen unterstützt und arbeiten mit ihr zusammen. Die Bewegungen, die wie wir eine Autonomie aufbauen wollen, haben in diesen Arrangements keinen Platz. Zum Jahresende gibt es eine Reform der Sozialpläne. Das stellt auch uns vor enorme Probleme.

Was steht hinter der Regierungsstrategie?

Sebastián: Neben der erwähnten „Verstaatlichung“ kritischer Ansätze kommt es zu einer Universalisierung der Sozialpläne, was bedeutet, dass nicht mehr die Bewegungen die Pläne erhalten, sondern individuell jede und jeder einzelne. Es soll also keine politische Mediation durch die Bewegungen geben, sondern eine Stärkung des alten territorialen Apparates des Peronismus, der ja noch existiert. Damit wurden und werden Machtverhältnisse festgezurrt.1

Eine zentrale Verschiebung ist etwas, was man als Diskurs der Unsicherheit bezeichnen könnte. Diffus sind damit sehr viele gemeint: Die sich wehrenden Erwerbslosen, Diebe bis hin zum Nachbarn. Sie alle tragen zur vermeintlichen Unsicherheit bei – und der Staat soll es wieder richten. Damit geht aber eine soziale Fragmentierung einher, die der Herstellung neuer sozialer Zusammenhänge nach dem Dezember 2001 vollständig entgegengesetzt ist. Interessant ist dabei, dass dieser Diskurs nicht „von oben“ kommt, sondern sehr komplex von vielen Menschen aus den Stadtteilen. Die Medien nehmen ihn auf und verstärken ihn. Ein Phänomen ist Juan Carlos Blumberg, ein deutschstämmiger Unternehmer, dessen Sohn im April 2004, kurz nach der Übergabe der Mechanikerschule an die Menschenrechtsgruppen, ermordet wurde. Er ruft zu einer Demonstration auf, zu der 200.000 Menschen kommen. Die politische Rechte und die rechten Medien nehmen das auf, erzeugen damit einen unheimlichen Druck und zwingen die Regierung, ihre progressiven Aspekte fallen zu lassen. Es geht plötzlich nicht mehr um Vergangenheit, Menschenrechte und Neoliberalismus, sondern um Unsicherheit. Damit aber werden die Bewegungen weiter isoliert.

Dazu kommt, dass es eine gewisse ökonomische Erholung gibt, von der einige Mittelklasse-Sektoren profitieren. Die wollen eine gewisse „Normalisierung“ und interessieren sich überhaupt nicht mehr für die Piqueteros. Das sind viele von denen, die 2001/2002 noch dafür waren, dass die Kämpfe der Unter- und Mitteklassen zusammen geführt werden müssten.

Wie haben sich die Piquetero-Bewegungen in den letzten Jahre entwickelt?

Andrés: Insgesamt gibt es eine Schwächung. Viele Bewegungen haben sich unter dem enormen ökonomischen Druck auf die Angebote eingelassen. Die radikalen Ansätze, denen es um Autonomie geht, haben deutlich an Terrain verloren. Wir sind heute die Dämonen in der Gesellschaft. Unsere Kampfform der Straßensperren verliert an Akzeptanz. Diese müssen wir überdenken und dabei selbstkritisch sein.

Sebastián: Viele Menschen gehen davon aus, dass die gesellschaftliche Situation jetzt wieder dieselbe ist wie vor den Aufständen, es also eine gewisse Normalisierung gibt. Der gesellschaftliche Boden, auf dem wir uns bewegen, hat sich in Wirklichkeit aber stark verändert. Die gegenwärtigen Pläne der Regierung zielen darauf ab, die Menschen zu reproletarisieren, also die Sozialpläne zu reduzieren. Durch den leichten Aufschwung gibt es sogar einzelne Branchen, in denen Arbeitskräfte fehlen. Wir denken, dass sich die Bewegungen vor diesem Hintergrund erneuern müssen oder aber verschwinden werden. Die Strategien, die von 1997 bis heute verfolgt wurde, werden nicht mehr greifen.

Ihr habt ja nach den Aufständen die These eines „neuen sozialen Protagonismus“ vertreten, um die Bewegungen zu verstehen. Wie hat sich das eurer Meinung nach entwickelt?

Sebastián: Zentral für das Verständnis ist, dass der Staat nicht mehr der zentrale Ort der Politik in Argentinien ist. Das weiß der Präsident, das weiß Blumberg, das wissen die Bewegungen. Ausgangspunkt sind die dramatischen gesellschaftlichen Veränderungen in den 90er Jahren. Die These eines „neuen sozialen Protagonismus“ entstand ja aufgrund der damaligen Erfahrungen. Es wurden praktische Ansprüche formuliert, das Politische wieder in das Soziale zu absorbieren. Das Leben wird nicht mehr von der Politik getrennt; Politik und Veränderung findet aber auch nicht mehr über das statt, was traditionell als Politik begriffen wurde. Es geht um gesellschaftliche Veränderungen, die von konkreten antikapitalistischen Praktiken ausgehen. Diese sind sehr lokal, sehr situativ, ohne dass sie isoliert wären. Es gibt Gruppen von Erwerbslosen, BäuerInnen, Praktiken sozialer Gerechtigkeit wie die sog. escraches.2 Sie warten nicht auf die versprochene Lösung in der Zukunft, sondern nehmen die Produktion und Reproduktion des Lebens in ihre eigenen Hände. Sie versuchen antagonistisch zum Kapital zu handeln und neue Werte zu entwickeln. Das alles ist voll von Ambivalenzen, Problemen, Fragen.

Die Form, das zu entwickeln und zu reflektieren ist für euch die militante Untersuchung.

Sebastián: Wir nehmen den Begriff aber nicht nur für uns in Anspruch. Es handelt sich ganz allgemein darum, eigene Praktiken zu reflektieren, den neuen sozialen Protagonismus zu untersuchen, seine Potenziale auszuloten. Wir haben das zusammen mit der Erwerbslosenbewegung in Solano, einer Schule in Moreno (beide in Groß-Buenos Aires) oder der Koordination der Escraches gemacht. Es handelt sich um eine Art gemeinsame Forschung, bei der wir uns in gewisser Weise selbst untersuchen. Ausgangspunkt ist keine abstrakte Forschungsfrage, sondern die Hindernisse und konkreten Probleme für einen neuen sozialen Protagonismus. Das bearbeiten wir gemeinsam.

Was bedeutet denn für die MTD Solano diese Form der gemeinsamen Reflexion für eure Alltagspraxis?

Andrés: Das was uns am Colectivo Situaciones von Beginn an interessiert hat war, wie sie sich uns angenähert haben. Sie kamen im Februar 2001 eben nicht als ForscherInnen zu einer Gruppe, die zum damaligen Zeitpunkt „interessant“ war und die sie ausgehend von einer Forschungsfrage „untersuchen“ wollten. Sie nahmen uns zunächst so wie wir waren. Wir begannen mit Workshops, in denen wir gemeinsam lernten, in denen wir unsere Praktiken reflektierten und Spielräume ausloteten.

Ihr habt gesagt, dass es derzeit eine gewisse Erschöpfung der Bewegungen gibt. Wo öffnet sich derzeit dennoch etwas, woran könnte angeknüpft werden?

Sebastián: Die interessantesten Orte der Gegenmacht wollen darauf hinaus, dass es um andere gesellschaftliche Praxen geht. Ein Weg ist die Entwicklung ökonomischer Projekte, die nicht der Marktlogik unterworfen werden. Das geschieht längst. Dazu kommen Praktiken wie die escraches, die teilweise vom Staat durch dessen Übernahme geschwächt wurden. Hier geht es darum, sich mit anderen Praktiken sozialer Gerechtigkeit zu verbinden, um Resonanzen in Netzwerken zu erzeugen. Die militante Untersuchung selbst, der Modus der Intervention, die wir wollten, muss sich aber auch verändern. Wir müssen die schwerwiegenden Probleme zur Kenntnis nehmen, denen sich die praktischen Erfahrungen ausgesetzt sehen. Wir wollen nicht verwalten, was geschaffen wurde, uns damit zufrieden geben, dass wir ein paar gute Bücher geschrieben und interessante Hypothesen aufgestellte haben.

Andrés: Die ökonomischen Probleme sind in der Tat zentral, zumal wenn wir an unsere organisatorischen Prinzipien von Horizontalität, Autonomie und direkter Demokratie denken. Die Zeiten des kapitalistischen Marktes stehen dem entgegen, ein sozialer Markt existiert ja nicht. Wie kann aber eine eigene Zeit entwickelt werden? Was bedeutet hier ein würdiges Leben? Auch die Entstehung einer neuen Subjektivität vollzieht sich ja nicht linear, sondern ist voller Rückschritte.

Sebastián: Eine der größten Herausforderungen angesichts der vermeintlichen Normalisierung und des Wunsches nach Sicherheit ist die Isolierung der Bewegungen. Jene, die einen Schritt über das Bestehende hinausgehen wollen, sind ja in der Minderheit. Es müssen also Formen erfunden werden, um diese Tendenzen umzukehren. Die Ideologie der Unsicherheit wird nicht mit einer anderen Ideologie bekämpft, sondern mit sozialen Praktiken, die andere soziale Zusammenhänge schaffen. Meines Erachtens ist das größte Problem heute nicht gegen den Staat zu kämpfen, sondern gegen die Subjektivität des Marktes. Gegen eine postfordistische Subjektivität, die das Leben immer mehr unter utilitaristischen Aspekten sieht.

Gestern habt ihr in einem Vortrag gesagt, dass seit 2002 Scharen von AktivistInnen und ForscherInnen nach Argentinien gekommen seien. Meines Erachtens gibt es hierzulande eine starke Romantisierung der Piquetero-Bewegungen. Was sind eure Eindrücke auf dieser Europareise?

Sebastián: In der Tat kamen vor allem 2002 enorm viele Menschen, um die neue Revolution in Argentinien zu betrachten. Ich vermute, dass mit den Zapatistas 1994 etwas Ähnliches passiert ist. Das ist ja zunächst einmal gut. Hinsichtlich der Interpretationen dominieren meines Erachtens zwei Perspektiven. Eine sieht in Argentinien eine Art Vorläufer dafür, was in Europa passiert, wenn der Sozialstaat zerstört wird. Das ist ziemlich instrumentalistisch und auch etwas unfair, denn es wird von den konkreten Kämpfen abgesehen. Auf der anderen Seite sehen viele in Argentinien eine Art Modell für eine Revolution. Diese Leute wurden ziemlich enttäuscht. Es gab in beiden Fällen ziemlich problematische Übersetzungen von Argentinien nach Europa. Insgesamt besteht eine geringe Bereitschaft hinzuhören, was denn eigentlich die realen Probleme sind im heutigen Argentinien. Viele wollten sich einfach ihren Film nicht kaputt machen lassen. Ohne verallgemeinern zu wollen habe ich oft den Eindruck, dass viele EuropäerInnen mit einem bereits festgelegten Blick nach Lateinamerika blicken. Das geht teilweise einher mit einer Interpretation, dass die Menschen in Lateinamerika zwar gut kämpfen könnten, ihnen aber ein Verständnis der sozialen Strukturen fehle. Das ist immer ein wenig kolonialistisch, denn wenn die Perspektive zu sehr auf Makrostrukturen liegt, dann gibt es Gründe, vielleicht niemals zu kämpfen.

Was oft unverstanden bleibt, sind die universalisierbaren Aspekte eben eines neuen sozialen Protagonismus. Nicht im Sinne einer Imitation, Übersetzung. Das sind natürlich singuläre Erfahrungen. Manchmal wird etwa Horizontalität als moralische Idee übernommen. Manchmal scheint das wie eine naive Übertragung komplexer Realitäten. Schließlich schwingt immer wieder mit, dass man arm sein muss, um zu kämpfen. Argentinien ist aber kein Ort von Opfern, sondern einer des Ausprobierens.

Andrés, welche Eindrücke nimmst du von deiner ersten Reise nach Europa mit?

Andrés: Es fiel mir vor allem der Kontrast auf zwischen dem, was in den Gesellschaften möglich wäre und dem, was an Subjektivität konstruiert wird. Diese Disziplinierung finde ich beeindruckend. Dazu kommt diese Leere als soziales Subjekt, der offenbare Verlust von Beziehungen, von Spontaneität. Ich kann nicht verstehen, warum Menschen in einer Bar applaudieren, wenn die Polizei einen Betrunkenen abführt, der über dem Tisch eingeschlafen ist. Mir scheint ein Verlust von Sensibilität gegenüber den Mitmenschen. Wir haben ja eine Betriebsführung bei VW in Baunatal mitgemacht. Die Arbeiter bei VW scheinen eine enorme Tristesse zu leben. Da fragst du dich schon: Wo kann das hingehen? Warum wird das nicht krisenhaft?

Sebastián: Wir haben einige Dinge hier kennen gelernt, die wir nicht erwartet hätten im Deutschland des Produktivismus und der Disziplin. Wir mussten eine Nacht auf dem Bahnhof in Hamburg verbringen und dort haben wir das andere Deutschland kennen gelernt - jenes des Alkoholismus, der Exzesse. Uns scheint es, dass im reichen Deutschland das Leben wieder prekär wird für viele. Es scheint zwar immer noch, dass alle ihre Aufgabe haben, ihre Rolle ausfüllen, Zukunft haben, dafür keine weitergehenden Fragen. Was es (?) entsteht der Eindruck, dass das in Wirklichkeit gar nicht der Fall ist, sondern dass es viel Unsicherheit gibt. Das wird aber im dominanten Bild nicht zugegeben.

Lesehinweise:

Colectivo Situaciones, Que se vayan todos. Krise und Widerstand in Argentinien. Hamburg/Göttingen: Assoziation A 2003.

Friederike Habermann: Aus der Not eine andere Welt. Gelebter Widerstand in Argentinien. Kronberg: Ulrike Helmer Verlag 2004.

Anmerkungen

  1. Die Pläne, als eine Art ABM-Maßnahme konzipiert, werden immer schon von Individuen bezogen, aber bisher haben die Bewegungen darüber bestimmt, wer auf die „Liste“ kommt, d.h. wer so einen Plan bezieht und konnten umgekehrt, wenn die Leute nicht weiter an der Bewegung teilnahmen, diese einfach von der Liste streichen lassen. Zu Beginn wurden diese ABM-Maßnahmen von staatlichen Institutionen bestimmt und entsprechend klientelistisch eingesetzt, später haben sich die Piqueteros erkämpft, dass sie selbst als Organisation über Inhalt und Verwaltung dieser ABM-Maßnahmen bestimmten. Für den Hinweis sei Martina Blank gedankt.Zurück zur Textstelle
  2. „Sie nennen sich H.I.J.O.S. – „Nachkommen für die Identität und die Gerechtigkeit, gegen das Vergessen und Verschweigen“ – und haben einer neuen Aktionsform den Weg gebahnt, den Escraches. Dieses Wort stammt aus dem Lunfardo, dem Dialekt der ImmigrantInnen, der Unterklassen und des Tango am Río de la Plata. Escrache bedeutet „ans Licht bringen“. Solange sie nicht von einem Escrache heimgesucht werden, können die meisten Mörder in Uniform unerkannt, unbehelligt und angenehm in Argentinien leben. Die anfängliche Strafverfolgung der Diktaturverbrechen nach 1983 wurde bereits Mitte der 80er Jahre auf Druck der Militärs mit dem sog. 'Schlusspunktgesetz' und dem sog. 'Gesetz über den Befehlsnotstand' schnell wieder beendet. Fast zwanzig Jahre nach dem Ende der Diktatur müssen Militärs und andere Verantwortliche nun aber damit rechnen, doch noch für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen zu werden. Die Escraches finden dort statt, wo der Täter lebt. Eine Demonstration zieht durch den Stadtteil bis vor sein Haus, das mit roten Farbbeuteln markiert wird – als Symbol für die begangenen Bluttaten. Mit einer Rede wird sein persönlicher Beitrag zur Unterdrückung bekannt gegeben. Dann zieht die Demo weiter und beendet die Aktion mit Musik und Tanz auf der Straße. Zurück bleiben Hinweise auf dem Bürgersteig oder an der Haustüre: `Hier wohnt ein Völkermörder / Folterer´.“ (Alix Arnold in: Colectivo Sitiaciones 2003)Zurück zur Textstelle
© links-netz Dezember 2004