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Nach Cancún und dem 15. Dezember:
Neue Dynamiken?

Ulrich Brand

Viele KommentatorInnen hoben hervor, dass der Name des mexikanischen Badeortes Cancún für einen Einschnitt hinsichtlich weltweiter Machtverhältnisse stehen könnte. Die Regierungen der kapitalistischen Peripherie haben sich organisiert, um den eigenen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Es zeichnet sich eine neue Konfliktstruktur in der internationalen Handelspolitik ab.

Was war passiert? Die „Gruppe 20plus“, deren Name nicht der Anzahl der Gründungsmitglieder, sondern dem Tag ihrer Gründung am 20. August geschuldet ist, hat sich unter der Führung Brasiliens, Indiens und Chinas zu einem ernst zu nehmenden Faktor entwickelt. Zwar gibt es erhebliche Divergenzen, der gemeinsame Nenner ist jedoch, die nördlichen Regierungen zur Umsetzung der aktuellen Verpflichtungen zu drängen. Die betrifft in erster Linie die Liberalisierung des Agrarsektors in der EU und die drastische Minderung von Subventionen in anderen Branchen durch die europäischen und nordamerikanischen Regierungen.

Die Kritisierten wollten jedoch etwas ganz anderes, nämlich die in ihrem Interesse liegende Ausweitung der Verhandlungsthemen. Seit der 1. WTO-Ministerkonferenz in Singapur stehen nämlich die von den Nordregierungen geforderten Ausweitungen der Verhandlungen hin zu Investitionsschutz, Wettbewerb, öffentlichem Beschaffungswesen und administrativen Handelserleichterungen auf der Agenda, wurden aber nach dem Scheitern in Seattle (der 3. Konferenz Ende 1999) in Doha zunächst in den Hintergrund gestellt. Das arrogante Beharren der Nordregierungen auf „ihren“ Themen führte letztlich zum Scheitern der Runde. Als der Verhandlungsleiter in Cancún dann einen zweiten Entwurf für eine Abschlusserklärung vorlegte, in der wieder einmal den Themen der Nordregierungen Vorrang eingeräumt wurde, kündigten die in der neuformierten Gruppe zusammengeschlossenen Länder die Verhandlungen auf. In Genf wurde am 15. Dezember 2003 nochmals versucht, Kompromisse zu finden, um – wie geplant – die sog. Doha-Runde (benannt nach der 4. WTO-Ministerkonferenz Ende 2001 in der Hauptstadt Katars) bis Ende 2004 abzuschließen. Doch auch das scheiterte.

Offenbar sind die südlichen Regierungen angesichts der zunehmenden Krisen und dem Druck der eigenen Bevölkerung immer weniger in der Lage, das neoliberale Modell in ihren Ländern abzusichern. Gleichzeitig stellen sie die Terrains der internationalen Aushandlungsprozesse infrage. Das war die Essenz von Cancún. Die nördlichen Regierungen verstanden das sehr wohl und fingen sofort an (hierzulande durch Künast und Clement), die – ja sehr heterogenen – Forderungen der südlichen Länder und sozialen Bewegungen zu delegitimieren (die brasilianische und die chinesische Regierung haben nicht viel gemeinsam). US-Präsident Bush machte sofort Analogien zur Debatte um eine Alternative Weltwirtschaftsordnung der 70er Jahre auf, die auf jeden Fall verhindert werden müsse.

Wie weiter?

Wie können die symbolischen Erfolge bei der Infragestellung neoliberaler Gewissheiten dazu führen, auf der institutionellen Ebene die Durchsetzung neoliberaler Interessen zu verhindern? Das ist eine wichtige Frage für linke Kräfte, die sich auf die schwierige Suche nach gesellschaftlichen Alternativen einlassen. Ich werde mich in diesem Rahmen auf ein paar Aspekte beschränken. Die analytische Perspektive ist eine, die nach der Handlungsfähigkeit emanzipativer Akteure unter hochgradig widersprüchlichen Bedingungen fragt.

Mehrere Blickerweiterungen scheinen notwendig. Einen wichtigen Fortschritt stellen die in den vergangenen zwei Jahren hergestellten Bezüge zwischen der Kritik an der neoliberalen Gesellschaftstransformation und der militärisch-repressiven Absicherung der Neuen Weltordnung dar. Und auch die gegenwärtige Ausweitung von „Globalisierungskritik“ in die nationalstaatlichen Auseinandersetzungen um Sozialabbau ist ein schwieriger, aber notwendiger Prozess.

Hinsichtlich der Einschätzung der gegenwärtigen Herrschaftsverhältnisse leidet die Diskussion m.E. jedoch an einer Schieflage. Weltweite Machtverhältnisse werden als eine Art Nullsummenspiel zwischen nördlichen und südlichen bzw. in einigen Diskussionen nur zwischen nördlichen Regierungen, nämlich den USA und EU-Europa betrachtet.

Damit gehen zwei Probleme einher. Analytisch wird die Durchsetzung des neoliberalen Modells sehr stark an Regierungshandeln gebunden. Natürlich spielt Regierungshandeln eine wichtige Rolle, denn die neoliberal-militaristische Globalisierung setzt sich nicht nur als Projekt ökonomischer Akteure oder des Kapitals durch, sondern ist viel komplexer. Die allgemeinen Reproduktionsbedingungen wie Vertrags- und Eigentumssicherheit werden immer noch wesentlich vom Staat bzw. von Staaten bereit gestellt.

Aber stärker als bisher müsste in den Blick geraten, dass staatliche Politik die neoliberalen Prozesse nicht steuert oder anleitet. Es gibt weiterhin eine relative Autonomie gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse und ökonomischer Prozesse gegenüber dem Staat. Eine politische Konsequenz daraus lautet, dass eben auch diese verändert werden müssen. Dies geht gerade aus emanzipativer Perspektive nur sehr eingeschränkt über den Staat.

Damit ist ein zweiter Aspekt verbunden. In vielen Beiträgen folgt der Analyse interstaatlicher Kräfteverhältnisse die Bemerkung, dass unter den gegebenen Bedingungen die nördlichen Regierungen sich kaum von ihrer neoliberal-militaristischen Ausrichtung wegorientieren würden. Dafür bräuchte es einer starken sozialen Bewegung. Häufig bleibt der Eindruck, dass diese Bewegung(en) vor allem Druck machen sollten auf die Regierungen. Dies ist wichtig, aber aus dem oben genannten Grund problematisch, wenn dies der einzige Fokus ist.

Gerade um Konferenzen wie die WTO sowie die dortigen intergouvernamentalen Streits und Proteste herum gerät die kapillare Durchsetzung des neoliberalen Modells tendenziell aus dem Blick. So wichtig Vorschläge wie Schuldenerlass, Erhöhung der Entwicklungshilfe oder die Regulierung der Finanzmärkte sind, so sehr droht unterschätzt zu werden, dass die Stabilität des Neoliberalismus neben seiner institutionellen Verfasstheit auch in den Köpfen und Herzen der Menschen sind – wenn auch immer weniger als aktive Zustimmung, so doch zumindest als passiver Konsens. Tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen benötigen nicht nur starke Bewegungen, sondern eine komplexere Infragestellung neoliberaler Gewissheiten im Alltag und in Institutionen. Gerade hier ist die Diskussion um gesellschaftliche Alternativen zu führen – und zwar nicht abstrakt, sondern von konkreten Erfahrungen ausgehend.

„WTO abschaffen!“

Die globalen sozialen Bewegungen sind weiterhin recht erfolgreich in der Delegitimierung der herrschenden neoliberal-militaristischen Globalisierung. Sie können sich auch auf die Fahnen schreiben, Bewegung in die festgefügten Machtverhältnisse gebracht zu haben. Die brasilianische Regierungspolitik ist ein gutes Beispiel dafür, wie innergesellschaftliche Kämpfe sich auf die internationale Ebene vermitteln. Walden Bello wies kürzlich auf einem Workshop darauf hin, dass die Führungsrolle der brasilianischen Regierung auch damit zusammenhängt, dass sie innenpolitisch aufgrund der internationalen Verpflichtungen wenig Spielraum hat, aber Erfolge benötigt.

Insbesondere muss die Diskussion um Alternativen intensiviert werden. Emanzipative soziale Bewegungen sollten sich weder an das Schmieden alternativer Masterpläne machen, noch in die Lage von PolitikerInnen oder bürgerlichen Medien begeben und sich darauf beschränken, realpolitisch durchzudeklinieren, was die konkreten Für und Wider von WTO-Politiken sind. Vielmehr geht es darum, Denk- und Handlungsräume zu öffnen, das Unsagbare zu formulieren, Sachverhalte provokativ zuzuspitzen, Menschen von der Notwendigkeit gesellschaftlicher Veränderungen und eigenem Engagement zu überzeugen. Denn die Debatte um die WTO darf sich nun nicht darin erschöpfen, wie vielleicht doch der ein oder andere Aspekt „reinverhandelt“ werden kann. Die gesamte institutionelle Struktur und die darin geronnenen grundlegenden Orientierungen sind das Problem.

Vor diesem Hintergrund wäre eine heute angemessene und m.E. gut politisierbare Forderung jene nach der Abschaffung der Welthandelsorganisation WTO (und/oder von Weltbank und Weltwährungsfonds). Auch wenn das zunächst ziemlich unrealistisch ist, können hiermit Argumente über die Verfasstheit des internationalen Systems transportiert werden. „Eine andere Welt ist möglich!” – aber das geht nicht mit WTO, IWF und Weltbank. Die hochgradig vermachteten Organisationen repräsentieren einen Politiktypus, der suggeriert, dass Probleme am besten „von oben” gelöst werden. Damit werden all jene Kräfte delegitimiert, die immer noch meinen, diese Institutionen seien reformierbar.

Wie gesagt, weltweite Machtverhältnisse stellen sich natürlich nicht über IWF/Weltbank/WTO her, sondern sind komplexe politische und ökonomische Prozesse. Die immer ungleicher werdende Weltmarktintegration peripherer Länder – insbesondere durch den Verfall der Rohstoffpreise, der ja kein Naturgesetz ist, sondern eine Frage politischer und ökonomischer Macht – kann durch medienwirksame Initiativen wie der Schuldenerlass für hochverschuldete Länder nicht umgekehrt werden. Neben ihrer materiellen Macht (über finanzielle Ressourcen oder Rechtsetzungskompetenz) sind diese Organisationen auch „organische Intellektuelle” des Neoliberalismus, denn hegemoniale Verhältnisse müssen immer wieder hergestellt werden, was nicht zuletzt heißt: Kritik partiell aufzunehmen und zum dynamischen Moment zu machen, jedoch zur und unter Beibehaltung grundlegender Machtverhältnisse. Die immer wieder formulierten und trügerischen Reformhoffnungen von NGOs werden zur Legitimationsfolie von WTO & Co. Denn offenbar sitzt ja die „globale Zivilgesellschaft” mit am Tisch, zeternd zwar, aber dennoch hoffend, vorschlagend, sich einladen lassend. (Wobei der Tisch gar nicht so rund ist und es am Kopfende der Gastgeber feist und relativ desinteressiert an den Gästen zugeht.)

Aus einer radikalen Reformperspektive geht es zuerst darum, Erkenntnis- und Handlungsspielräume zu öffnen, auch über Zuspitzungen. So verstanden ist die Forderung, IWF, Weltbank und WTO abzuschaffen, legitim und wichtig. Von diesen Organisationen ist aus kritisch-emanzipativer Perspektive nichts zu erwarten, im Gegenteil. Ihre Abschaffung könnte Teil eines Prozesses sein, die bürgerlich-kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse und ihre aktuelle neoliberale Ausformung umfassend zu verändern. Das ist nur über radikale praktische wie theoretische Kritik, umfassende gesellschaftliche Auseinandersetzungen und die Organisierung von Gegenmacht zu

So interpretiere ich das Konzept der „De-Globalisierung” von Walden Bello. Es gehe gerade nicht um die falsche Alternative Protektionismus versus wirtschaftliche Außenöffnung, sondern darum, die desaströsen internationalen Zwänge zu bekämpfen, die lokale und nationale regionale Entwicklungen unmöglich machen würden. Zudem ist eine radikale Demokratisierung in allen Ländern möglich, denn die verkrusteten politischen Strukturen haben zur Entstehung dieser Zwänge entschieden beitragen. Internationale Politik spielt natürlich eine Rolle, sie muss aber vor allem Raum lassen für lokale und nationale Entwicklungen. Daher, so Bello in einer Diskussion in Porto Alegre, muss die WTO abgeschafft werden. Von ihr ist nichts zu erwarten.

M.E. haben sich nach Cancún die Möglichkeiten verbessert, die grundlegende Funktion internationaler Organisationen zur Absicherung des neoliberalen Modells in einer breiteren Öffentlichkeit zu diskutieren. Die Verschiebungen sind aber nicht zu überschätzen. Beispielsweise sind in der internationalen Finanzpolitik vergleichbare Formierungsprozesse „südlicher“ Gegenmacht kaum vorstellbar. Zu sehr hängen die verschuldeten peripheren Länder in der Schuldenfalle und zu umsichtig managen die nördlichen Regierungen und Banken im Zusammenspiel mit IWF und Weltbank die internationalen Finanz- und Währungsbeziehungen (was partielle Krisen nicht ausschließt, die aber auch kaum zur Infragestellung der herrschenden Politiken führen).

Wichtig wird in Zukunft sein, den Apologeten eines Post-Washington Consensus (der Washington-Konsens bezeichnet die neoliberale Ausrichtung internationaler Politik durch IWF und Weltbank, die beide in Washington ihren Sitz haben) den Wind aus den Segeln zu nehmen. Sie verbreiten nämlich das Märchen, dass mit ein paar Reparaturen eine „Globalisierung mit menschlichem Antlitz“ möglich sei – und wollen so die neoliberalen Institutionen wieder legitimieren. Demgegenüber gilt es, die systematische Unfähigkeit dieser Institutionen und die sie tragenden Kräfte, eine gerechtere und freiere Welt zu schaffen, herauszustellen. Dies ist heute eher möglich als noch vor fünf Jahren. Der „Clash of Globalisations“ (Stephen Gill) muss intensiviert werden.

© links-netz Dezember 2003