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Die WTO als Fahrrad denken

Walden Bello´s „De-Globalisierung“ ist auch eine Kritik an Vorstellungen eines globalen Keynesianismus

Ulrich Brand

Mit der Kritik der neoliberal-neoimperialen Globalisierung geht ein ungleich schwierigeres Unterfangen einher, nämlich die konzeptionelle wie politisch-praktische Öffnung hin zu alternativen und emanzipativen Handlungs- und Vergesellschaftungsweisen.

Vorschläge wurden natürlich immer gemacht, kritisches Denken und Handeln war auch in den tiefsten Tiefen neoliberaler Hegemonie Mitte der 1990er Jahren nicht vollständig weg. Es war jedoch besonders marginalisiert. In den letzten Jahren ist eine doppelte Verschiebung festzustellen: Im Rahmen der Delegitimierung des neoliberalen Projektes werden zum einen alternative Denk- und Handlungsangebote wieder stärker entwickelt und rezipiert, insbesondere in den Bewegungen selbst, aber durchaus bis in die linksliberale Öffentlichkeit. Zum anderen können die Beiträge stärker auf die Erfahrungen der letzten zehn Jahre zurückgreifen – von den unzähligen und wenig sichtbaren lokalen Ansätzen über die Zapatistas, viele spezifische politische Kampagnen und die Kämpfe gegen das Multilaterale Investitionsabkommen 1997/1998 bis hin zu „Seattle“, „Genua“, den diversen Sozialforen und „Cancún“.

In dieser Konjunktur wurde in den letzten drei Jahren der Begriff „De-Globalisierung“ wichtig, den der Direktor der „Süd-Denkfabrik“ Focus on the Global South, Walden Bello, in die Diskussion brachte. In Porto Alegre auf dem 2. Weltsozialforum im Jahr 2002 bekam ich selbst einen Eindruck davon, wie attraktiv dieser Begriff für viele zu sein scheint. Und zwar m.E. nicht, weil er klug inszeniert wurde, sondern offenbar die Erfahrungen vieler AktivistInnen trifft und ihnen eine (nicht als einzige) strategische Orientierung zu geben vermag.

Man könnte eine schiefe Analogie zum Buch „Empire“ von Michael Hardt und Antonio Negri oder „Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen“ von John Holloway herstellen, die offenbar auch den Wunsch nach Befreiung analytisch wie politisch produktiv aufnehmen und weitertreiben, also auch in einer bestimmten politischen Konjunktur etwas „treffen“ – wenn auch recht voluntaristisch. Die Differenz liegt darin, dass Bello zum einen genauer analysiert; das ist aber kein grundsätzliches Argument gegen „große Würfe“ wie von Hardt/Negri oder Holloway, denn Bello nimmt dafür wichtige Entwicklungen nicht in den Blick. Das Buch zeichnet sich dennoch dadurch aus, dass es – im Gegensatz zu Entwürfen wie „Empire“ oder Holloways radikale Machtkritik – die aktuellen institutionellen Formen globaler Herrschaft in den Blick nimmt sowie Analyse und Strategien zu verbinden versucht. Vor allem aber verklärt Bello kein der Multitude entsprechendes neues historisches Subjekt und bringt für reale Bewegungen, die Kämpfe innerhalb konkreter nationalstaatlicher verfasster Gesellschaften ernst nehmen, nicht das Prädikat des Reaktionären in Anschlag – so wie dies in „Empire“ der Fall ist.

Bello analysiert nicht „die Welt“, sondern konzentriert sich auf die herrschenden Institutionen wirtschaftlicher Global Governace, nämlich Weltbank (WB), Internationaler Währungsfonds (IWF) und Welthandelsorganisation (WTO). In der Einleitung der aktualisierten Ausgabe geht er auf die international zunehmend gewaltförmige Politik der US-Regierung unter G.W. Bush ein.

Zum einen identifiziert er eine Legitimationskrise des neoliberalen Projektes nach der Asienkrise 1997, der daran sich anschließenden Kritik aus dem Establishment an den neoliberalen Strukturanpassungen (J. Stiglitz, G. Soros), den Protesten seit Seattle 1999, der Kritik an transnationalen Konzernen und dem Zusammenbruch der New Economy 2001. Theoretisch begründet er die Krise damit, dass sich der globale Kapitalismus in der letzten Abschwungphase eines großen Kondratieff-Zyklus befinde, die New Economy der letzte kleine Aufschwung innerhalb des Zyklus gewesen sei. Im Kern gebe es eine enorme Überproduktionskrise. Die USA hätten aber auch ihre Legitimität der Nachkriegszeit verloren, die auf der Ausdehnung der liberalen Demokratie und einer multilateralen Global Governance basierte. Heute gebe es keine Vision mehr, sondern ein zunehmend mit Gewalt durchgesetztes neoliberales Projekt. Das „nette neutrale Wort“ Governance diene der Hegemonie des globalen Kapitalismus und der Vorherrschaft jener Staaten und ökonomischer Interessen, die vor allem davon profitierten.

Unter George W. Bush, gestützt vom militärisch-ökonomischen Komplex, und nach dem 11. September werden der Bruch von einem neoliberalen Multilateralismus hin zum US-amerikanischen Unilateralismus, zum „imperialen Management“ deutlich. Die USA würden multilaterale Politiken nur unterstützen, wenn sie der globalen Kapital nützten. Gleichwohl würde der Pentagon durchaus eigene Interessen verfolgen.

In weiteren Kapiteln analysiert Bello kenntnisreich die Marginalisierung des globalen Südens. In den 70ern gab es im Kontext der Debatten um eine Neue Weltwirtschaftsordnung, steigende Ölpreise, Zollpräferenzen und der Stabilisierung der Rohstoffpreise ein Aufbegehren progressiver südlicher Regierungen und Kräfte. Die rechte Antwort seit den 1980er Jahren war die Dämonisierung des Südens, ein neoliberales Management der Schuldenkrise, Veränderungen des UNO-Systems, hier insbesondere die Schwächung der UNCTAD – und die Einrichtung der WTO ab 1995, die neben der 1975 gebildeten Gruppe der 7 und WB/IWF zur zentralen neoliberalen Bastion wird. Allesamt genügen sie noch nicht einmal den mindesten formalen Anforderungen an eine Staaten-Demokratie, wie an dem berühmt gewordenen „Green Room“-Mechanismus gezeigt wird. „Konsens“ bedeutet in der WTO nämlich, dass sich ausgewählte Gruppen von 20 bis 30 Delegierten informell treffen, um Entscheidungen vorzubereiten. Bello nennt das informal power unter den formalen Bedingungen one-country-one-vote. Es wird nämlich nie abgestimmt „übrigens auch im Gatt-Abkommen seit 1959 nicht mehr!), sondern immer schon vorab Konsens über die Regeln hergestellt. Das wissenschaftliche und politische Zauberwort der „Kohärenz“, die – normativ hoch aufgeladen - zwischen den internationalen Institutionen herzustellen sei, stellt Bello in seinen historischen Kontext. Die WTO hat in ihrer Gründungserklärung eben diese Kohärenz angemahnt: und zwar zwischen WTO, WB und IWF und in Richtung Freihandel und Absicherung von Kapitalinteressen.

Die durch die Kritik indizierten Reformen ab 1998, welche die Legitimität erhöhen sollten, wie die Entschuldungsinitiative HIPC, die Armutsreduzierungsstrategien PRSP, so Bello, waren Rhetorik, mehr nicht.

In einem Kapitel zu den kursierenden Vorschlägen, wie die „heilige Dreieinigkeit“ reformiert werden könnte, skizziert er die derzeit im Mainstream kursierenden Vorschläge eines UN-Wirtschaftssicherheitsrates, in dem die Macht konzentriert sein sollte, die Ergebnisse der eher politisch rechten Enquete des US-Kongresses, die sog. Meltzer-Kommission oder von dem reformorientierten Multimilliardär George Soros.

Viele Vorschläge linksliberaler Provenienz von Stiglitz (zurückgetretener Chef-Ökonom der WB), Dani Rodrik (Harvard) u.a. gehen in Richtung von mehr Transparenz und Verantwortlichkeit der holy trinity, einer größeren Anteilnahme der Südländer, internationale wie nationale Kapitalverkehrskontrollen, Tobin-Steuer. Diese Position nennt er die „zurück zum alten Bretton Woods-System“-Schule, hier siedelt er auch die Perspektive eines globalen Keynesianismus an. Trotz aller Differenzen ist ihnen gemeinsam, dass sie nach mehr oder weniger dramatischen Beschreibungen der Ineffizienz von IWF und Weltbank diese eben nur effizienter machen wollen.

Bello weist die linksliberalen Reformvorschläge hin zu einem globalen Keynesianismus nicht zurück, zweifelt aber daran, ob Weltbank & Co. so verändert werden können, dass differente Entwicklungswege akzeptiert würden. Wären sie denn geeignet für eine grundlegend andere internationale politische Ökonomie? – Die Frage ist rhetorisch gemeint. Zudem hält er eine Rückkehr zum Vor-1980er-System regulierter nationaler Kapitalismen für wenig wünschenswert.

Umrisse einer Deglobalisierung

Sein Vorschlag der „Deglobalisierung“ speist sich insbesondere aus den Kämpfen gegen WTO, WB und IWF auf internationaler Ebene sowie aus den Erfahrungen insbesondere in jenen asiatischen Ländern, in denen durch den Finanzkollaps 1997 Hunderte von Millionen Menschen in die Armut getrieben wurden. Es handle sich heute um eine systemische Krise, der mit gutgemeinten institutionellen Reformen nicht beizukommen sei. Allerdings müsse in der aktuellen Legitimationskrise durch Visionen und kluge Strategien das Bestehende „dekonstruiert“ und etwas Neues rekonstruiert werden – und zwar, angesichts vieler Entwicklungen nach rechts, in emanzipativer Richtung.

Es gehe dabei um ein dismantling von IWF, WB und WTO, was phantasieanregend mit auseinandernehmen, zerlegen, demontieren ins Deutsche übersetzt werden kann. Dabei müssten Strategien sich den aktuellen Konjunkturen versichern. Die Dynamik der immer weiteren Durchsetzung von Freihandel und Marktprinzip müsse gebrochen werden. Bello verwendet die unter AktivistInnen bekannt gewordene Fahrrad-Metapher von C. Fred Bergsten: Freihandel und WTO müssten immer weiter getrieben werden, denn wenn sie sich nicht vorwärts bewegten, fielen sie um.

Das Neue nun denkt Bello nicht „von oben“, sondern aus den spezifischen sozialen Kontexten heraus. Die „doppelte Bewegung der Deglobalisierung“ müsse plurale Wirtschaftsverhältnisse zulassen und diese international absichern. Es müsse Raum entstehen für eigenständige, kulturell eingebettete Praktiken. Es gehe nicht um naive Autarkievorstellungen, sondern um eine Reorientierung materieller Produktion auf lokale Märkte. Dies impliziert Veränderungen von Kreditbeziehungen, Land- und Einkommensverteilung, Abwendung vom Wachstumsdogma, eine Demokratisierung der Wirtschaftsbeziehungen und anderes mehr. Die „Wiedereinbettung“ wirtschaftlicher Verhältnisse in soziale, die eben nicht nur international gedacht wird, führe auch zu einem anderen Verständnis von Effizienz – die sich fundamental von der herrschenden mikroökonomischen unterscheide.

Deglobalisierung ist eher eine Perspektive, die je spezifisch gefüllt werden muss. Und sie muss in harten Kämpfen gegen andere Interessen verbreitert, durchgesetzt und abgesichert werden. Das bestehende zentralisierte System solle nicht durch ein anderes ersetzt werden, so Bello auch mit Blick auf einen „linken Gigantismus“. Natürlich benötigt eine globalisierte Welt internationale Institutionen. Diese sollten aber vielfältig und flexibel sein, einzelne für verschiedenste Fragen zuständig sein sowie in einem Verhältnis von checks and balances zueinander stehen. Deshalb müsse nicht alles neu gemacht werden, sondern einige Institutionen könnten in diese Richtung verändert werden, wie etwa lokale Wirtschaftsblöcke zwischen südlichen Ländern.

Das Buch wurde erstmals vor der 5. Ministerkonferenz in Cancún veröffentlicht. Bello entwirft daher spannende und sehr konkrete strategische Überlegungen, wie die Konferenz zum Scheitern gebracht werden könnte. Es gehe darum, eine Ausweitung der Verhandlungen genauso zu verhindern wie eine Mandats- und Machterweiterung der WTO (die progressiven Südregierungen waren für eine Umsetzung der erreichten Verhandlungen – insbesondere Umsetzungen in den nördlichen Ländern selbst, die sich nämlich an viele Abmachungen gar nicht hielten). Es sollte ein Keil zwischen USA und EU getrieben, Regierungen von Entwicklungsländern kompetent beraten, nationale Bewegungen sowie internationale Proteste gestärkt werden. Das vermeintliche „Konsensprinzip“ der WTO könne so zur Achillesferse werden. Die Strategie ging, zumindest in Cancún, bekanntlich auf. War Seattle 1999 für die WTO ein Desaster, von der sie sich 2001 auf der 4. Ministerkonferenz in der Wüste Katars zu erholen schien, so zeigte Cancún noch deutlicher, dass die WTO ein Instrument der herrschenden Kräfte und gründlich delegitimiert ist.

Die Potenziale des Begriffs

Die mit Deglobalisierung verbundenen analytischen und strategischen Perspektiven haben einige Schwächen, was teilweise mit den populärwissenschaftlichen Intentionen erklärt werden kann, teilweise aber sicherlich der Überzeugung Bello´s entspricht.

Zum einen steht er in einer „tiersmondistischen“ Tradition, in der die Entwicklungsländer als Gesellschaften und Regierungen weitgehend einheitlich verstanden und vom Norden ausgebeutet werden. Der Nord-Süd-Konflikt scheint aus dieser Perspektive die Welt zu dominieren. Es ist zwar mal von „Eliten“ die Rede, aber die Frage, ob es über den von außen induzierten Neoliberalismus hinaus andere, eben innergesellschaftliche Durchsetzungsmodi gibt, wird nicht gestellt. Auch die immensen Interessensdifferenzen zwischen südlichen Regierungen – in Cancún deutlich sichtbar – übergeht er. Das suggeriert einen „Durchgriff“ der internationalen neoliberalen Organisationen wie der USA auf den globalen Süden. „Washington“ wird zum Weltakteur.

Bello kritisiert knapp und luzide die Reformvorschläge eines globalen Keynesianismus (vgl. dazu auch Sauer 2004). Gleichzeitig führt er aber nicht aus, dass diese nicht nur aus dem linksliberalen Establishment kommen, sondern auch aus – den vor allem nördlichen - Teilen der globalen sozialen Bewegungen.

Susan George, die Vizepräsidentin von Attac-Frankreich, hat nach dem 11. September 2001 den Begriff des „planetarischen Vertrages“ in die globalisierungskritische Diskussion gebracht. Angesichts von Umweltzerstörung, sozialer Spaltung, Krise der Demokratie und ökonomischer Rezession müsse endlich etwas geschehen, fordert sie (http://www.tni.org/george). Das Hauptproblem dabei sei angesichts diskreditierter Weltbank und IWF ein „institutioneller Leerraum“, der gefüllt werden müsse. Mit ihrer Metapher des „Vertrages“ greift George nicht nur auf klassische liberale Gesellschaftsmodelle zurück, sondern auch auf die Vorschläge des internationalen sozialdemokratischen Netzwerks Gruppe von Lissabon, die in ihrem Bericht „Grenzen des Wettbewerbs“ (1997) vier „Verträge“ zu Gerechtigkeit, globaler Steuerung, Toleranz und interkulturellem Dialog sowie zu nachhaltiger Entwicklung skizziert hat.

Ihre politische Stoßrichtung liegt in der gegenseitigen Machtkontrolle durch internationale Institutionen und die Zivilgesellschaft. Durch solche „checks & balances“ sollen die Neoliberalen zurückgedrängt und eine „globalisierte keynesianische Strategie“ ermöglicht werden. Dafür sollen Milliardensummen zugunsten der durch die Globalisierung Benachteiligten umverteilt werden. George geht es vor allem um eine bessere Regulierung des globalen Kapitalismus. Politische Veränderung denkt sie ‘von oben’ und in bestehenden Bahnen. Das Problem ist jedoch: Wer schließt eigentlich die von ihr geforderten Verträge? Warum sollten sich transnationale Unternehmen und nördliche Regierungen am globalen Runden Tisch dabei auf Zugeständnisse einlassen? In Susan Georges planetarischem Vertrag dominiert ein globaler Keynesianismus, der nicht die herrschenden Formen der Reichtumsproduktion, sondern die internationale und innergesellschaftliche Umverteilung von Reichtum ins Zentrum stellt. Auch dieser Position arbeitet das Konzept der Deglobalisierung, allerdings implizit, entgegen.

„Deglobalisierung“ ist kein theoretisches Buch. Gleichwohl wird hier deutlich, wie dringend kritisch-staatstheoretische Überlegungen für die internationale Politik fruchtbar gemacht werden müssten. Bello kritisiert in einem Teil die US-Regierung und ihre Hinwendung zum Unilateralismus. IWF, Weltbank und WTO scheinen ein reines Instrument zu sein („Der IWF ist das Anhängsel des US-Finanzministeriums.“), die US-Regierung wiederum vertritt die Interessen des transnationalen Kapitals. Die US-Regierung scheint nach Belieben zu dominieren, jene in EU und Japan werden eher für ihre abweichenden Positionen positiv hervorgehoben. Andererseits konzentriert er sich in seiner Analyse eben nicht auf diese Verbindungen, sondern fokussiert die Politiken der internationalen Institutionen.

Worin bestehen aber nun die Entwicklungsdynamiken und Konfliktlinien? The people/international civil society gegen die corporate-driven globalization, die eigentlich guten, aber unter Druck stehenden Süd-Regierungen gegen die im Norden, Letztere nur Büttel des Kapitals? Bello bleibt unklar, denn Hauptgegner müssten doch Konzerne und US-Regierung sein. Hier kommt man analytisch – samt strategischer Implikationen - nur weiter, wenn Staaten und internationale Institutionen komplexer begriffen werden. Bello gibt viele Beispiele wie etwa die Abwertung der UNCTAD, die strategischen Überlegungen vor Cancún. Internationale Beziehungen als komplexe Hegemonial- und Kräfteverhältnisse in den Blick zu nehmen würde die Analyse „realistischer“ machen. Internationale Institutionen sind eben nicht nur Instrumente herrschender Staaten, sondern erlangen durchaus eine „relative Autonomie“.

Ein Blick über vereinheitlichende Konfliktlinien hinaus müsste Fragen der Hegemonie im Sinne Gramscis thematisieren. Denn das analytische wie politisch-strategische Problem heute für Alternativen hierzulande liegt doch darin, dass das globale neoliberale Projekt, insbesondere die konkrete Integration der metropolitanen Gesellschaften in Weltmarkt und -politik, kaum infrage gestellt wird. Selbst die jüngsten und natürlich völlig legitimen Proteste gegen Sozialabbau problematisieren kaum die Form der deutschen/westeuropäischen Gesellschaft in den Weltmarkt und die Rolle internationaler neoliberal-neoimperialer Politik.

M.E. kann weltweit weiterhin von einer „fragmentierten Hegemonie“ gesprochen werden. Im Nord-Süd-Verhältnis besteht eine solche in entscheidenden Fragen nicht, im Nord-Nord-Verhältnis aber sehr wohl. Die konsensualen Stabilitätsreserven hierzulande, gepaart mit Zwang, sind nicht zu unterschätzen. Das hängt eben auch mit den fehlenden oder nicht zur Kenntnis genommenen Alternativen zusammen. Und genau hier liegt wiederum der Wert der Analyse von Walden Bello. Den Blick zu öffnen auf die internationale Verfasstheit des Kapitalismus – das ist so banal wie politisch-strategisch vertrackt in einer immer noch ziemlich reichen Gesellschaft, in der auch die Subalternen auf eine noch besser funktionierende Weltmarktintegration und politische Beherrschung anderer Teile der Welt hoffen.

Dennoch: Neben der Zuspitzung, Verständlichkeit und empiriegesättigten Argumentation besticht das Buch insbesondere durch seinen „südlichen Blick“. Der Analyse folgt insgesamt konsequent, dass es auch um eine Abschaffung oder zumindest radikale Schwächung der drei Institutionen geht.

Bellos gleichnamiges Buch erscheint demnächst auf Deutsch bei VSA. Neben der eigenständigen Flugschrift „Sand im Getriebe“ (www.attac.de/rundbriefe/) publiziert der Verlag zweifellos das interessanteste deutschsprachige Programm zu den globalen sozialen Bewegungen. Das Buch könnte Einfluss auf die strategische Debatte haben, wie die Bewegungen sich zu den neoliberalen internationalen Wirtschaftsinstitutionen verhalten: Deren Reform oder deren dezidierte Schwächung und Abschaffung zu fordern. Bello argumentiert für Letzteres, weiß aber um die Notwendigkeit von Taktiken und Bündnissen. Bedeutsam scheint mir sein Vorschlag hinsichtlich eines allgemeinen Perspektivenwechsels in der Diskussion um Alternativen. Es geht ihm eben nicht um ein globales Umverteilungsprogramm und „gute“ zentralisierte internationale Institutionen, sondern um den pluralen Aufbau und die Absicherung von Alternativen, die je spezifisch die Imperative kapitalistischer Verwertung und damit verbundener Macht- und Herrschaftsverhältnisse infrage stellen. Hier, so Bello, beginnt erst die eigentliche Arbeit.

Literatur:

Bello, Walden, 2004: Deglobalization. Ideas for a new world economy. London u.a. (erstmals 2002)

Sauer, Thomas, 2004: Globaler Keynesianismus versus Deglobalisierung? Makroökonomische und normative Grundlagen alternativer Weltwirtschaftsordnungen. In: Adelheid Biesecker, Martin Büscher, Thomas Sauer, Eckhard Stratmann-Mertens (Hg.): Alternative Weltwirtschaftsordnung. Perspektiven nach Cancún. Hamburg

© links-netz Oktober 2004