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Ist die EZLN out?

Die „andere Kampagne“ und die staatsorientierte Linke in Lateinamerika

Ulrich Brand

In Lateinamerika scheint das post-neoliberale Zeitalter angebrochen zu sein. In vielen Ländern finden bei Wahlen Linksverschiebungen statt. Die vielen neuen Regierungen haben eines gemeinsam: Sie bezeichnen sich als progressiv – und werden von anderen auch so bezeichnet – und sind nicht zuletzt wegen ihrer Kritik am Neoliberalismus ins Amt gewählt worden. Alle Regierungen gehen auf langjährige und intensive Kämpfe linker sozialer Bewegungen zurück, egal ob sie wie in Uruguay von vornherein um ein Parteienbündnis gruppiert waren, wie in Brasilien ihren Wahlsieg neben einer Partei auch autonomen Bewegungen zu verdanken haben oder sich wie in Argentinien nach abrupten Veränderungen – und erst in deren Folge über eine Partei – etablierten.

Das war vor zehn Jahren noch anders: Mitte der 1990er Jahre wussten auch in Lateinamerika linke Parteien und Gruppen angesichts von Neoliberalismus und Auslandsverschuldung dem von rechts ausgerufenen „Ende der Geschichte“ wenig entgegenzusetzen. Der bedeutendste intellektuelle Ausdruck dieser Haltung war das seinerzeit stark diskutierte Buch von Jorge Castañeda, einem international renommierten mexikanischen Politikwissenschaftler, Ex-Linken und späteren mexikanischen Außenminister (unter dem Neoliberalen Vicente Vox). Die Linke, so seine Empfehlung mit spitzen Pfeilen nach Kuba und Chiapas, müsse eine utopía desarmada (entwaffnete Utopie) entwickeln, d.h. den Waffen und der Gewalt abschwören. Sein Argument ging aber weiter: Die Linke müsse sich auf die Option von Parteienkonkurrenz, staatlichem Machterwerb und Realpolitik einlassen.

Natürlich haben Bücher nur begrenzten Einfluss auf historische Entwicklungen. Deutlich wird dennoch, dass sich der Vorschlag von Castañeda zum Teil durchgesetzt hat. Das Revival der lateinamerikanischen Linken ist durchaus der an Wahlen und Staat orientierten Linken zu verdanken. Der Unmut oder gar die Wut über die katastrophalen Auswirkungen des neoliberalen Kapitalismus suchten sich Formen der Artikulation und fanden sie in linken Partei- und Regierungsprojekten. Zum Teil hatte Castañeda aber auch unrecht. Denn die linken Parteien wurden in vielen Ländern nur deshalb so stark, weil es dynamische soziale Bewegungen gab und gibt, die sich nicht nur als Vorfeld von Parteien begreifen.

Heute gibt es, wie gesagt, allerorten politischen Aufbruch. Die mexikanischen Zapatistas scheinen in dieser Situation out. Sie, die bereits Mitte der 1990er Jahre angesichts der auch von vielen Linken geglaubten These vom „Ende der Geschichte“ widersprachen, stellen sich erneut gegen den politischen Trend. Aber dieses Mal gegen den linken Trend.

Die Zapatistas handeln aufgrund politischer Überzeugungen und eigener Erfahrungen: Es gab ihrerseits jahrelange Versuche, indigene Anliegen auch über den Staat Geltung zu verschaffen. Höhepunkt war die Reise der Kommandantur der Zapatistas nach Mexiko-Stadt zu Beginn des Jahres 2001. Das Abkommen von San Andrés von 1996, das indigene Rechte in der Verfassung zu verankern beabsichtigte, sollte endlich realisiert werden. Nachdem der Senat nur eine völlig entstellte Version verabschiedete, zogen sich die Zapatistas zurück und konzentrierten sich auf den Aufbau eigener politischer Strukturen in Chiapas. Bis vergangenen Sommer, als sie die „andere Kampagne“ (La Otra Campaña) ankündigten: Derzeit fährt der Delegado Zero (Delegierte Null in Gestalt des Subcomandante Marcos) durch Mexiko, ab August nach der Präsidentschaftswahl wird eine Delegation der Kommandantur der EZLN durch Mexico reisen und in einer noch unbestimmten dritten Phase wollen sie die Kämpfe in Lateinamerika kennen lernen. Dies findet, wie gesagt, in einem Klima erstarkender linker Politik statt.

Die linken Projekte im Lateinamerika variieren selbstverständlich von Land zu Land. In Bolivien sind indigene Bewegungen zentral, in Chile die traumatische Erfahrung der Pinochet-Diktatur und die ernüchternden Erfahrungen mit einer neoliberalen Sozialdemokratie, in Venezuela spielen breite Basisbewegungen und ein teilweise progressives Militär eine bedeutende Rolle, in Brasilien stehen die Landlosenbewegung und die linken Kräfte der Arbeiterpartei einer enorm starken und weltmarktorientierten Agrarbourgeoisie gegenüber. In Uruguay ist gegenwärtig zu besichtigen, wie eine linke Regierung als Ausdruck jahrzehntelanger popularer Kämpfe im ersten Jahr ein neoliberales Wirtschaftsprogramm nach den Vorgaben von IWF und Weltbank umsetzt.

Es scheint – zugespitzt – drei gesellschaftspolitische Orientierungen für linke Kräfte in Lateinamerika zu geben, die natürlich in ihrer konkreten Ausgestaltung umkämpft und Teil von Situationseinschätzungen sind (und sich konkret überschneiden):

a) Die Fortführung der Weltmarktintegration mit der Hoffnung, darüber größere Verteilungsspielräume und – im Fall Brasiliens, zukünftig vielleicht Mexikos – mehr (welt-)politisches Gewicht zu bekommen. Zudem werden der externe Druck wie auch die innergesellschaftlichen Kräfteverhältnisse akzeptiert und damit stabilisiert.

b) Ein renovierter Staatskapitalismus (oder Staatssozialismus), wie er in Venezuela vorangetrieben wird und aufgrund der Einkünfte aus der mehrheitlich staatlichen Erdölindustrie auch möglich ist. Diese Position wird gestärkt durch einen Diskurs, der um Begriffe wie nationale Souveränität und Anti-Imperialismus herum organisiert ist. Sie trifft auf starken Widerhall in Teilen der Bewegung. Progressive Regierungen sollen sich gegen das Kapital stellen und staatliche wie gesellschaftliche Handlungsoptionen ausweiten.

c) Eine herrschaftskritische Position wird ebenfalls von vielen Bewegungen vertreten. Menschen, die sich in Bewegungen organisieren, erleben tagtäglich in ihren Kämpfen um Land, Bildung und Gesundheitsversorgung, gegen die Militarisierung, um die Berücksichtigung ihrer Interessen und Wertvorstellung, um die Anerkennung von Identitäten, dass nicht nur das neoliberale Marktmodell und die nur am Profit orientierten Unternehmen ein Problem sind. Nicht nur Imperialismus und Kapital, auch der Staat ist ein Problem. Der Staat wird konkret in Form klientelistischer lokaler und überregionaler Verwaltung, in Form von Militär und Polizei, in Form von ausgrenzenden und spaltenden diskursiven und institutionellen Praktiken.

In dieser Konstellation scheinen einige Aspekte wichtig, die in dem Hype um die progressiven Regierungen manchmal übersehen werden. Deutlich wurde das jüngst auf dem Weltsozialforum in Caracas.

Linke Regierungsübernahmen bedeuten erstens nicht, dass damit automatisch der Staat links oder progressiv wird. Der Staat ist ein viel komplexeres Verhältnis und muss in langwierigen gesellschaftlichen wie innerstaatlichen Kämpfen verändert werden. Dabei stellen sich wichtige Fragen wie jene nach der angestrebten Rolle des Staates im Verhältnis zu spezifischen gesellschaftlichen Bereichen oder nach der Rolle des Militärs. Dies ist insbesondere in einer Konstellation der Fall, in der zum einen die neoliberalen gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse den Staat tiefgreifend transformiert haben. Zum anderen sind periphere Staaten (und Regierungen) weiterhin starkem externen Druck – politischem und ökonomischem – ausgesetzt.

Die großen Hoffnungen in Lateinamerika auf progressive Regierungen speisen sich natürlich aus den vielfach desaströsen Erfahrungen mit korrupten, wirtschaftsliberalen und repressiven staatlichen Politiken. Allerdings droht dabei zweitens ein Sachverhalt unterzugehen: Neoliberale Dominanz wird nicht nur über den Staat hergestellt, sondern über komplexe Kräftekonstellationen, die innergesellschaftliche wie internationale Kapitalgruppen, ausländische Regierungen und internationale politische Institutionen umfassen. Das neoliberale Projekt, also der tief verankerte „Glaube“ an den Markt und die dahinter stehenden Kräfte sowie an die Alternativlosigkeit zu subalterner Weltmarktintegration, ist zwar weniger integrativ als in metropolitanen Gesellschaften, bietet aber auch relevanten Teilen der Mittelschicht materielle Vorteile. Das neoliberale Projekt, dies zeigen die Erfahrungen mit linken Regierungen, kann nicht nur auf staatlicher Ebene zurückgedrängt werden bzw. wenn das die hauptsächliche Orientierung ist, droht progressive Politik schnell zu scheitern. Insbesondere die Veränderungen der Lohnarbeit und die damit einhergehende Verarmung, Ausgrenzung und Überausbeutung, die ja in vielen Fällen überhaupt zu erstarkenden sozialen Bewegungen und Revolten führten, sind ein sehr komplexer Prozess und nicht einfach staatlich umkehrbar.

Die Legitimations- und Funktionskrise des neoliberalen Gesellschaftsumbaus wird drittens in der Regel mit mehr Repression und gar offener Militarisierung beantwortet. Diese Entwicklung zu sehen und zu analysieren, ist schon deshalb wichtig, weil nicht von einem statischen Herrschaftsmodell ausgegangen werden sollte, dem nun von links das Wasser abgegraben wird. Von herrschender Seite wird auf die wachsenden linken Bewegungen mit Kooptation, Delegitimierung und auch offener Gewalt reagiert. Denkbar ist ebenso offene Gewaltanwendung gegen linke Regierungen wie jene in Venezuela.

Viertens: Antonio Negri und der in Brasilien lebende Italiener Guiseppe Cocco schreiben in einem demnächst erscheinenden Buch (GlobAL: biopoder y luchas en una América latina globalizada, Biomacht und Kämpfe in einem globalisierten Lateinamerika), dass das Besondere der Regierungen in Venezuela, Brasilien, Argentinien und Bolivien sei, dass sie nicht auf „nationale Projekte“ setzen, sondern auf die „Führung der Interdependenzen“ (gestión de la interdependencia) in einem globalisierten Lateinamerika. Konstituierendes Moment für die aktuellen „Regierungen der Interdependenz“ seien die sozialen Kämpfe. Ein entscheidende Projekt sei heute jenes der regionalen Integration, weshalb die progressiven Regierungen einander benötigen. Kern der aktuellen Konstellation sei die brasilianische Regierung.

So wichtig Süd-Süd-Kooperationen sind (und mal abgesehen davon, ob die Interpretation zutreffend ist, denn es geht durchaus um „nationale Projekte“): Die weltpolitische und weltwirtschaftliche Konstellation öffnet kaum Spielräume, sondern bleibt in Form niedriger Rohstoffpreise, Verschuldung und Strukturanpassungen sowie der zunehmenden Militarisierung der Gesellschaften durch oder mit Unterstützung der USA präsent. Die Globalisierung des Kapitalismus’ erhöht zudem die Bedeutung internationaler Politik, die zuvorderst neoliberal-imperial ausgerichtet ist. Interessanterweise wird die internationale Konstellation nicht sehr genau analysiert, sondern verschwindet häufig hinter Schlagwörtern.

Das Exportmodell erweist sich täglich und für Hunderte Millionen Menschen als prekär und wird sich insbesondere durch die Rolle Chinas in der Weltwirtschaft weiterhin kaum stabilisieren. Aber es ist nicht in dem Sinne gescheitert, dass nun umfassend Alternativen entwickelt werden. Die progressiven Regierungen setzen aktiv auf Weltmarktintegration – ob aus Überzeugung oder mangels Alternativen. Bei der letzten WTO-Konferenz in Hongkong wurde zudem deutlich, dass die brasilianische Regierung die Rolle des Juniorpartners in der Koalition der Weltmarktapologeten (zusammen mit der indischen Regierung) akzeptiert hat. Auf Unternehmens- und Regierungsseite dominieren die Interessen an einem auf Agrarexporten basierenden Wachstum – trotz der rhetorischen und teilweise auch sich realisierenden Süd-Süd-Integration.

Regierungen – Parteien – Bewegungen

Wenn die begrenzten Handlungsspielräume der linken Regierungen – gepaart mit der Orientierung an Machterhalt – aus den genannten und anderen Gründen gesehen werden, dann hat das eine wichtige Konsequenz: Bewegungen und linke Partei- und Staatsprojekte sollten nicht vorschnell „strategische Allianzen“ eingehen wie etwa beim Weltsozialforum in Caracas gefordert. Natürlich ist es im konkreten Fall wichtig, dass es zu Kooperationen zwischen Bewegungen und staatlichen Akteuren kommt. Und geradezu politisch spürbar sind die zu erwartenden negativen Konsequenzen wenn ein Projekt wie jenes in Venezuela nicht intensiviert, sondern – etwa über einen Putsch oder weil es erlahmt – zerschlagen wird. Gleichwohl bleibt eine unaufhebbare Differenz zwischen sich organisierenden Menschen und dem immer auch herrschaftsförmigen Staat.

Die konkreten Kämpfe und Bewegungen richten sich häufig an spezifischen Themen aus: Bildungs- oder Gesundheitsfragen, an feministischen oder sozial-ökologischen Anliegen, sie fokussieren die Landfrage oder Möglichkeiten alternativer Kommunikation. Sie haben nicht nur notwendig unterschiedliche Inhalte, sondern auch verschiedene Organisationsformen und zeitliche Rhythmen, räumliche Reichweiten und Strategien. Sie verhalten sich – und das scheint mir entscheidend – sehr unterschiedlich in Bezug auf den Staat und seine lokalen wie nationalen Apparate. Manche wie die Zapatistas brechen radikal und schaffen eigenständige gesellschaftliche Strukturen.

Das Problem ist dabei nicht die Vielfalt der Perspektiven und Ansätze, denn genau sie macht ja die gegenwärtige Dynamik aus, dass Präsidenten zum Teufel gejagt werden, Privatisierungen verhindert und so vieles andere. Es ist sinnlos, einen Maßstab für „Radikalität“ von außen an die vielfältigen Ansätze heranzutragen. Bewegungen können sich – wenn sie einen transformatorischen Anspruch verfolgen – als emanzipatorische Praxis nur ihrer Grenzen bewusst werden und sie zu verschieben versuchen.

Inwieweit sie im Zusammengehen und bei allen Fehlern und Schwächen Gesellschaft grundlegend transformieren können, das muss sich zeigen. Radikalität und Emanzipation zeigt sich, in Lernprozessen, der Überwindung von außen gesetzter Hindernisse und dem Versuch in konkreten Aktionen auch eigene Grenzen zu überwinden. Das ist der Sinn des zapatistischen preguntando caminamos (fragend gehen wir voran). Und das ist in den vielfach militarisierten Kontexten schwierig genug.

Das Problem liegt m.E. woanders: Nämlich in der sich einschleichenden Dominanz staats- und parteizentrierter Strategien, obwohl immer wieder die Pluralität betont wird.

Staat und Parteien jedoch haben immer schon eine Antwort auf die Frage des Wie von Politik und damit vielfach auch des Was. Als von Wirtschaft und Gesellschaft separierte, für diese und das Allgemeine zuständige, professionalisierte, außerhalb handelnde Menschen und Bewegungen tendenziell zu Objekten machende Instanz. Die dahinter stehende Vorstellung ist die, dass sich soziale Verhältnisse von oben und stellvertretend transformieren lassen.

In dem erwähnten Buch stellen Negri und Cocco die Frage, wie die neuen Regierungen auf einer zentralen, nämlich der staatlichen Ebene die vielfältigen Erfahrungen der Bewegungen berücksichtigen und zu einer Radikalisierung der Demokratie beitragen. Sie schlagen einen „neuen Pakt“ vor – nach dem Ende staatlicher Mediation zwischen Arbeit und Kapital -, der als Form der Organisation der Produktion funktionieren müsste. Die zentrale Aufgabe liege heute darin, das Gemeinsame (lo común) zu schaffen, das nicht mehr der souveräne Nationalstaat sein wird. Und hier sehen Negri und Cocco die Aufgabe der neuen Regierungen, nämlich eine Institutionalität jenseits des Staates abzusichern, die sich in den Kämpfen herausbildet. Das ist eine interessante, vielleicht etwas naive, weil sich für den Staat wenig interessierende Perspektive. Sie mündet dann jedoch in den Anspruch, die neuen Regierungen und die Bewegungen sollten offene und horizontale Beziehungen pflegen. Dies mag in manchen Fällen möglich sein, doch in vielen ist es nicht der Fall. Vor allem wird eine Unterscheidung zwischen (schlechtem) Staat und (guten) progressiven Regierungen eingeführt, die keinen Sinn ergibt. Negri und Cocco loben Lula, Kirchner und Chávez und übergehen die vielfältigen Spannungen zwischen Regierungen und Bewegungen, um das Projekt einer lateinamerikanischen Integration nicht zu gefährden.

Genau das wurde beim letzten Weltsozialforum deutlich. Die enorm unterschiedlichen Ansätze, Themen, konkreten und zumeist sehr lokalen Erfahrungen, Kräftekonstellationen, Strategien, Aktionsformen wurden zwar sichtbar – aber viele Diskussionen endeten damit, eine Veränderung staatlicher Politik zu fordern. wie das nun staatliche Politik wird. Diese Tendenz ist zum einen nach den desaströsen Erfahrungen des Neoliberalismus verständlich. Wenn linke Parteien und Regierungen Räume öffnen, soziale Bewegungen und die Selbsttätigkeit von Menschen zumindest nicht behindern, auf der institutionellen Ebene weitere Freihandelsabkommen und die Militarisierung stoppen, dann ist viel gewonnen. Über den Staat können Bewegungen Legitimität erhalten (oder sie kann ihnen entzogen werden mit möglichen repressiven Folgen). Besonders in Venezuela wird deutlich, wie wichtig der Staat ist, um erkämpfte Rechte abzusichern und gegebenenfalls mit Ressourcen zu versehen.

Doch der Staat und die progressiven Regierungen wollen mehr. Sie wollen die „Ausgeschlossenen“ repräsentieren. Und wenn sich deren Forderungen und Notwendigkeiten gegen staatliche Politiken und damit verbundene herrschende Kräftekonstellationen stellen, dann ist nicht mehr viel mit Offenheit und strategischen Allianzen, sondern es stehen – derzeit in Uruguay in nicht geahnter Weise zu beobachten – Denunziation und Spaltung an. Es bleibt ein strukturelles Übergewicht von Staat und Linksparteien.

Dass die Subalternen und Ausgeschlossenen sich vielfach als Subjekte konstituieren, selbst Wissen produzieren, sich immer weniger auf staatliche Praktiken einlassen (eines der beeindruckendsten Beispiele ist das Bildungssystem der MST mit 1.800 Schulen und 200.000 SchülerInnen) – das sorgt zumindest für Irritation.

Vor diesem Hintergrund haben die Zapatistas am 1. Januar 2006 die „andere Kampagne“ gestartet. Ihre konkrete Erfahrung mit dem Staat und der geforderten Anerkennung der Indigenen Mexikos sind gescheitert, sie erwarten nichts mehr von institutioneller Politik. Diese Position ist, das sollte klar sein, nicht die einzige. Den Staat als institutionelles und diskursives Terrain einfach beiseite zu schieben, ist in vielen anderen Kontexten und Kämpfen naiv. Die Option paralleler Regierungsstrukturen, aber auch des Bildungs- und Gesundheitssystems in Chiapas mag nicht immer sinnvoll sein.

La otra sollte zudem nicht überschätzt werden: Zu sehr bezieht sie sich auf den Wahlkampf und setzt in der Figur von Marcos auf (Gegen-)Personalisierung. Das Spannende der zapatistischen Kampagne aber liegt darin, dass sie den Kontakt suchen mit anderen Bewegungen und dem „anderen Mexiko“, den Verachteten, Gedemütigten, extrem Ausgebeuteten, rassistisch Ausgegrenzten. Dort, wo der Delegado Zero auftaucht, geraten ansonsten vergessene Verhältnisse, alltägliche Ungerechtigkeiten und Probleme, Straflosigkeit für die Gewalt der Herrschenden, teilweise jahrzehntelange konkrete Kämpfe – einiges dreht sich um Fragen alternativer Ökonomie – einen Moment in eine breitere Öffentlichkeit (für Spanischlesende: die Berichte auf http://clajadep.lahaine.org sind lesenswert).

Warum machen die Zapatistas das in einer historischen Konstellation, in der erstmals in der mexikanischen Geschichte mit Manuel López-Obrador ein links-liberaler Präsident gewählt werden könnte? Weil das „andere Mexiko“ im Spiel politischer Repräsentation lediglich in Gestalt der Ausgeschlossenen, als Objekt vorkommt, das es mit staatlichen Politiken von Wachstumsförderung und damit erhoffter Arbeitsplatzschaffung oder über Sozialpolitik zu integrieren gilt. Eines soll aber aus Sicht etablierter Politik nicht geschehen: Dass die Ausgeschlossenen zu politischen und gesellschaftlichen Subjekten jenseits von WählerInnen werden. Politik bleibt die Sache der Profis von Parteien und Staat, Unternehmerverbänden, NGOs und anderen Lobbygruppen. Die Kritik der Zapatistas an der linksliberalen PRD lautet, dass auch diese nicht versucht, das Spiel von Parteienkonkurrenz und politischen Eliten infrage zu stellen.

Die Zapatistas wollen ein politischer und sozialer Referenzpunkt jenseits der Parteien sein und den vielen sozialen Bewegungen Sichtbarkeit geben. Sie kritisieren damit die Formen von Politik, auch linker Politik, die sich zuvorderst am Staat ausrichtet. Sie stehen konkret in Chiapas für andere Formen, Politik zu machen: Alle sollen in der Lage sein, für einen begrenzten Zeitraum zu regieren. Und sie insistieren darauf: Bewegungen benötigen dafür eine gewisse Autonomie, zuvorderst von ihnen kommen politische Innovationen gegen zentralisierte und nur auf Repräsentation zielende Formen von Politik.

Paradox bleibt, dass die aktuellen progressiven Regierungen eben wegen der linken Bewegungen, deren Mobilisierungen und konkreten Vorschlägen gegen staatlich-institutionelle Politik überhaupt an die Staatsmacht kamen. Diese Erfahrung gilt es wach zu halten. Und dafür stehen die Zapatistas derzeit – übrigens mit vielen anderen Bewegungen in Lateinamerika.

La otra provoziert also in Mexiko und darüber hinaus – vielleicht gegen ihre erklärte Absicht, aber in ihrem Effekt -, das Verhältnis von emazipativen Bewegungen, linken Parteien und Staat genauer zu durchdenken. Sie stellt die Frage, wie nicht nur die Karten anders gemischt und ausgeteilt, sondern die Regeln verändert werden können. Die aktuell entscheidende Frage an die linken Regierungen ist, ob sie willens und in der Lage sind, mit dem dominanten politisch-ökonomischen Projekt zu brechen. Und dafür müssen eben die Spielregeln dramatisch geändert werden.

Vielleicht müsste ein anderer Begriff im Sinne der Zapatistas eingeführt werden, nämlich jener eines respondiendo caminamos („antwortend gehen wir voran“; das ist nicht anmaßend gemeint und ich weiß nicht, ob irgendwo solch ein Begriff verwendet wird). Einen solchen Begriff könnte man füllen mit der immer deutlicher werdenden Suche nach Alternativen bzw. mit den vielen existierenden Ansätzen gerade in ihrer Vielfalt – und in ihrer Offenheit.

Das konkrete Verhältnis zu den verschiednen Parteilinken und staatsorientierten Bewegungen in Lateinamerika kann ich nicht einschätzen. Die Position der Zapatistas in Mexiko selbst lassen eher auf ein Nicht-Verhältnis schließen. Bei vielen Bewegungen sind sie jedoch weiterhin ein zentraler Referenzpunkt. Insofern sind die Zapatitas nicht out und sie bleiben – zusammen mit den konkreten negativen Erfahrungen wie etwa in Brasilien oder Uruguay, wo die Erwartungen vieler Linker an die „eigenen“ Regierungen besonders hoch waren – der beißende Stachel für eine Perspektive, für die emanzipative Gesellschaftstransformation mehr ist als eine Angelegenheit von Staat und Parteien.

Für Hinweise danke ich Dario Azzellini und Stefan Thimmel.

© links-netz Mai 2006