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Neoliberalismus und Protest Übersicht

 

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Die Rehabilitation von Protest und "strategischer Anti-Neoliberalismus"

Notwendig bleibt eine Radikalisierung der Staats- und Politikkritik

von Ulrich Brand

Seit "Seattle" scheint nichts mehr wie es war. Die neue Spezie der "Globalisierungsgegner" geistert durch die Medien und setzt die Apologeten der bestehenden Ordnung unter Rechtfertigungszwang. Kritik an der neoliberalen Globalisierung wird als legitim, Protestieren wieder als wichtig und lohnenswert erachtet. Die Mobilisierung gegen den G7-Gipfel in Genua scheint einen neuen Höhepunkt öffentlicher Aufmerksamkeit zu bilden. Viele der Jüngeren, die nach Genau fahren, wissen gar nicht (mehr), dass es in Köln auch einen G7-Gipfel gab mit außerordentlich schwachen Protesten – und das ist gerade mal zwei Jahre her. Keine allzu gewagte These lautet: Ein G7-, IWF/Weltbank- oder EU-Gipfel heute hierzulande würde Zehntausende mobilisieren.

Nun ist natürlich ein Blick verkürzt, der die Auseinandersetzungen rund um die WTO-Tagung in Seattle 1999 zum Auftakt anti-neoliberaler Proteste stilisiert oder gar damit eine globale Bewegung am Entstehen sieht. Zum einen gibt es seit Jahren selbst in den metropolitanen Ländern Bewegungen wie die Euromärsche (www.euromarches.org). Nicht zu vergessen sind darüber hinaus die dynamischen Gewerkschafts-, BäuerInnen- und Landlosenbewegungen in einigen peripheren Ländern wie Indien, Mexiko oder Brasilien. Zum anderen waren die erfolgreichen Proteste in Seattle einer spezifischen Konstellation geschuldet. Das WTO-Ministertreffen ist keinesfalls primär an den Protesten außerhalb der Konferenz gescheitert, sondern aufgrund tiefgehender Unstimmigkeiten zwischen der EU und den USA sowie des wachsenden Unmuts insbesondere vieler afrikanischer Länder, einer schlechten Kongressvorbereitung und der innenpolitischen (Vorwahlkampf-)Situation der USA. Trotz dieser Aufbruchstimmung ist der paradoxe Sachverhalt nicht zu vergessen, dass der Neoliberalismus zur selben Zeit dominanter denn je scheint.

"Seattle" ist damit ein erster internationaler Kristallisationspunkt sozialer Bewegungen nach Jahren politischer Lähmung. Waren während der 80er Jahre die Proteste der metropolitanen Solidaritätsbewegung gegen Weltbank und IWFnoch eher einer klassischen - und keineswegs falschen - Imperialismuskritik verbunden, so agieren die Initiativen heute gegen einen wirklich globalen Kapitalismus. Dabei ist der Begriff des "Neoliberalismus" so schillernd wie unbestimmt. Auch die "neue Sozialdemokratie" versteht sich explizit als anti-neoliberal.

Deutlich wurde in Seattle auch, dass immer mehr NGOs mit ihrer Fokussierung auf Expertise und das Appellieren an die aufgeklärten Eigeninteressen der Herrschenden derart nicht weiter kommen. Ihre Expertise wird in einem gesellschaftlichen Klima aufgenommen, in dem die Rezipienten - Regierungen, Unternehmen, Medien - es sich leisten können, die ihnen genehmen Aspekte heraus zu picken und gleich noch die Legitimation dazu: Denn wenn die "Zivilgesellschaft" mitredet, dann scheint es ja in Ordnung zu gehen. Substantielle Veränderungen folgen allerdings kaum.

Hier liegt ein Kern vieler Proteste, nämlich zunächst einmal den Unmut über die dominanten Entwicklungen zu äußern, ohne gleich einen "konstruktiven Vorschlag" parat zu haben. Führte ein wütendes "es reicht!" vor einigen Jahren noch zu mildem Lächeln der Expertokraten, so ist das heute anders. Protest, so scheint es, erfährt in einigen Bereichen eine Rehabilitation – insbesondere die Form des Massenprotests.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Protest und soziale Bewegung im linken Spektrum sind im Vergleich zu den oft als ExpertInnen und Co-Eliten agierenden NGOs immer noch recht schwach. Linke nicht-parteiförmige Politik wird hauptsächlich weiter von den Verbänden artikuliert. Und dennoch ist ein Blick auf die jüngsten Ereignisse lohnend.

Seit dem "Battle of Seattle" erhält erstens ein Spektrum hohe Aufmerksamkeit, das als internationale Protestbewegung bezeichnet werden könnte. Um bestimmte Ereignisse herum wie den WTO-Konferenzen, den jüngsten EU-Gipfel in Göteborg oder das World Economic Forum artikuliert sie sich nicht nur mit Demonstrationen sondern auch durch dezentrale Protestformen. Inhaltlich zeichnet sich dieses Spektrum durch eine anti-institutionalistische und politisch konfrontative Haltung aus. Die internationalen neoliberalen Institutionen wie WTO, IWF und Weltbank werden als Hauptgegner identifiziert. Die Form besteht darin, sich in Netzwerken zu organisieren und zivilen Ungehorsam auszuüben. Ein Teil dieser internationalen Bewegung ist beispielsweise das 1997 gegründete Netzwerk Peoples´ Global Action, das sich als Ausdruck einer vielfältigen und radikalen globalen Protestbewegung versteht (www.agp.org). Mitglied sind Bewegungen, Organisationen und Individuen in Nord und Süd. Es wird insbesondere auf die zunehmenden Kämpfe in peripheren Ländern verwiesen, die Anstöße in den Metropolen bringen sollen.

Rolf Paasch sieht in der Frankfurter Rundschau (14.9.2000) dabei "versprengte Jugendliche" am Werk, deren einzige Verbindung das Internet sei. Wenngleich im Duktus überheblich, so trifft Paasch einen zentralen Aspekt: Die Globalisierungsgegnerschaft der Protestierenden "geht einher mit einer erstaunlichen Theorieabstinenz, die nicht zuletzt Ausdruck eines Misstrauens gegen die Generation der theoretisierenden Eltern ist." Kapitalismuskritik sei für sie anachronistisch. Auch aus dem bewegungsnahen Spektrum sind solche Töne zu hören. So wird die allzu emphatische Einschätzung der neuen globalen Bewegung als "Verklärung" kritisiert. Es werde verkannt, "wie organisatorisch höchst heterogen, wie diffus und teilweise konträr" die politischen Absichten der in Seattle protestierenden Gruppen gewesen sei (van der Veen 2000 in Blätter des iz3w, Oktober 2000).

So wichtig der Blick auf die Theorielosigkeit der Protestierenden ist, so wenig mag der Vorschlag überzeugen, dass mehr Arbeit am Begriff den Ausweg weise. "Statt dem protesttouristischen event-hopping zu frönen, ... wäre es an der Zeit, sich mühseligeren Diskussionen darüber zu stellen, was unter ‚Globalisierung' zu verstehen ist und wie einer vernünftigen Kritik daran Gehör zu verschaffen ist." (R. van der Veen) In dieser Aussage bleibt jedoch unklar, was mit einer "vernünftigen Kritik" gemeint ist. Wenn damit lediglich Debatten um die richtige Interpretation der gegenwärtigen Globalisierungsprozesse gemeint ist, dann ist das sicherlich zu wenig. Erst die Sachen theoretisch-kritisch klar haben und dann theoretisch angeleitet zu handeln, negiert alle historischen Erfahrungen sozialer Bewegungen.

Eine Gefahr der Proteste besteht darin, dass sie in gewisser Weise zum routinierten Begleitprogramm internationaler Konferenzen werden. Und schließlich drohen die "großen" internationalen Proteste mit entsprechender medialer Aufmerksamkeit – entgegen ihrer Absicht – andere Kämpfe zu entwerten. Gerade in peripheren Ländern gibt es vielfältige Ansätze, die die herrschenden Verhältnisse viel konkreter und nachhaltiger in Frage stellen, international jedoch kaum wahrgenommen werden. Dies hat natürlich zuvorderst mit der Struktur der Öffentlichkeit und Medienberichterstattung zu tun, sollte aber von den Aktivisten nicht unterschätzt werden.

Ein zweiter Typus kann als Versuch bezeichnet werden, intellektuelle Kritik und soziale Bewegungen wieder stärker aufeinander zu beziehen. Das prominenteste Beispiel ist die in Frankreich aktive Gruppe von SozialwissenschaftlerInnen um den Soziologen Pierre Bourdieu Raisons d´agir ("Gründe zu handeln"). Ausgangspunkt ist folgende Einschätzung: "Die Tatsache, dass den Intellektuellen, die sich 1995 mit den sozialen Bewegungen solidarisiert hatten, eine wirkungsvolle Organisation fehlte, hat dann eine kollektive Reflexion über das Selbstverständnis der Sozialwissenschaften und ihren politischen Handlungsbezug in Gang gebracht." (zu den Zielen und anderem vgl. www.raisons.org) Die Gruppe hat mit vielfältigen Publikationen begonnen und zwischenzeitlich ein beachtliches organisatorisches Netz entwickelt.

Das Ziel von Raisons d´agir ist es, die entstehenden Bewegungen gegen den Neoliberalismus zu vernetzen und damit zu stärken. Eine "kritische Gegenmacht" müsse grundlegende Interessen wieder artikulieren können. Der Beitrag der "kollektiven Intellektuellen" soll darin bestehen, über Information, Analyse und Reflexionsmöglichkeit als Teil einer breiteren Bewegung der neoliberalen Hegemonie etwas entgegen zu setzen.

Inhaltlich vertritt die Gruppe eine eher links-keynesianische Position, denn es geht ihr zuvorderst um eine gerechtere Verteilung des erwirtschafteten Reichtums. Der Staat wird als integraler Bestandteil neoliberaler Politik gesehen, doch bei einer entsprechenden Verschiebung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse kann dieser (wieder) auf eine am Allgemeinwohl orientierte Politik verpflichtet werden.

Die Position, welche einerseits die aktuelle staatliche Politik kritisiert und gleichzeitig in veränderter staatlicher Politik die Möglichkeit sieht, den Neoliberalismus zurückzudrängen, unterscheidet sich als Typus von dem klaren Anti-Etatismus der internationalen Protestbewegung. Beim zweiten Typ geraten distributive Aspekte ins Zentrum. Die Art der Erwirtschaftung, nämlich die kapitalistische Produktion als umfassendes soziales und internationales Herrschaftsverhältnis, wird nicht weiter hinterfragt. Auch die Art der Staatskritik ist mehr an den aktuellen Inhalten denn an der grundlegenden Herrschaftsförmigkeit des Staates ausgerichtet. Schließlich wird "Europa" eine Art potenzieller Avantgarde-Position zugeschrieben, wenn sich nur die Ausrichtung der Politik ändern würde.

Wenn oben behauptet wurde, dass ein Kern der Proteste in ihrer fehlenden aufgenötigten Konstruktivität liegt, dann gilt das nicht für eine derzeit recht dynamisch Initiative, die sich dadurch auszeichnet, dass sie einen sehr konkreten Vorschlag unterbreitet. Sie kann exemplarisch als dritter Typus bezeichnet werden. In einem Artikel in Le Monde Diplomatique (Dezember 1997) schlug Ignacio Ramonet vor, eine Vereinigung zur Besteuerung der Finanztransaktionen zur Unterstützung der BürgerInnen (französisch abgekürzt "attac", www.attac.org) zu gründen. Wissenschaftlich greift die Initiative auf einen Vorschlag des Ökonomen James Tobin aus den 70er Jahren zurück, der mit einer geringen Besteuerung internationaler Währungstransaktionen der Finanzspekulation – d.h. insbesondere der immerwährenden und flexiblen Suche nach geringsten Zinsdifferenzen – Einhalt gebieten soll. Dies traf auf große Resonanz und zur Gründung vielfältiger lokaler und überregionaler Initiativen. Wie in vielen anderen Ländern hat sich in diesem Kontext auch in Deutschland im Verlauf des Jahres 2000 ein Netzwerk zur demokratischen Kontrolle der Finanzmärkte gebildet, das bislang eher eine Initiative einiger NGOs ist. (www.attac-netzwerk.de)

Auch bei der Frage der Regulierung der Finanzmärkte wird ein Dilemma deutlich: Dass nämlich Vorschläge dann besonders wahrgenommen werden, wenn sie von relevanten Fraktionen der herrschenden Seite als sinnvoll angesehen werden. So kommen Forderungen zur Finanzmarktregulierung nach den Krisenerfahrungen in Südostasien, Russland oder Mexiko auch von manchen Regierungen, Parteien oder sogar liberalen Ökonomen. Über staatliche Politiken sollen die Finanzmärkte teilweise gezügelt und so der Krisengefahr begegnet werden.

Dahinter steht jedoch ein reduzierter – oder zumindest taktischer – Krisenbegriff. Die Kritik an den neoliberalen Strukturanpassungen, die südlichen Ländern von nördlichen Regierungen und internationalen Finanzinstitutionen verordnet wurden, stießen in den 90er Jahren kaum noch auf Resonanz, wenngleich die neoliberalen Politiken in peripheren Ländern erwiesenermaßen für die meisten Menschen ein einziges Katastrophenprogramm sind. Von "Krise" ist jedoch erst verstärkt die Rede, seit die Krisenanfälligkeit des internationalen Finanzsystem selbst offenkundig wird – womit eben dominante Interessen potenziell betroffen sind. Dieses Argument ist nun keines gegen die diversen Initiativen zur Regulierung der Finanzmärkte, sehr wohl aber eines dafür, sich Klarheit zu verschaffen, wie in welche gesellschaftlichen Debatten eingegriffen werden soll.

M.E. können drei Gemeinsamkeiten innerhalb des linken anti-neoliberalen Spektrums ausgemacht werden: Zum einen verstehen sich die Initiativen, zumindest vom Anspruch her, jenseits der Realpolitik, die mit dem Argument der Machbarkeit jegliche Kritik und Alternative vom Tisch zu wischen versucht. Die Initiativen haben zweitens dahingehend ein konfliktorisches Politikverständnis, dass sie einen oder mehrere Gegner identifizieren, gegen den Gegenmacht aufgebaut werden müsse. So vereinfachend Begriffe wie "gegen Kapitalismus", "gegen Neoliberalismus", "gegen die Herrschaft der Finanzmärkte" o.ä. sind – so sehr konstituieren sie etwas, was jede Bewegung benötigt: einen Gegner. Daher sehe ich es zunächst als Vorteil, unter der Formel "gegen Neoliberalismus" verschiedene Spektren zu vereinen und vor allem handlungsfähig zu machen. Die Formel selbst ist ambivalent, denn zum einen ermöglicht sie erst wieder die Auseinandersetzung über radikale Praxen. Dies ist angesichts der jahrelangen Lähmung linker Positionen nicht zu unterschätzen. Andererseits droht der Begriff des Neoliberalismus zum Alleskleber zu werden, der Differenzen und notwendige Diskussionen zu kleistert. Wichtig wird daher in Zukunft sein, ausgehend von solchen Formeln genauer zu evaluieren, wo die Widersprüche und sozialen Spaltungslinien heute verlaufen. Man sollte sich die Tatsache eines "strategischen Anti-Neoliberalismus" verdeutlichen, der eben bestimmte Kritikpositionen hörbar und legitim macht.

Drittens greifen die verschiedenen Initiativen Widersprüche auf, die im Prozess der neoliberalen Globalisierung immer deutlicher werden: An der Tatsache, dass das neoliberale Versprechen von Glück ("jeder ist seines/ihres Glückes...") und Gerechtigkeit (die angeblich über den Prozess des trickle down erreicht werden soll) immer offenkundiger Katastrophen aller Art produziert, dass ein diffuses Unwohlsein angesichts der immer stärkeren Kommodifizierung des Lebens (Bildung/Wissen, Körper/Nahrung, etc.) zunimmt, dass die Kontrolle über das eigene Leben zunehmend vermeintlichen Markt- und Standorterfordernissen ausgeliefert wird. Hier kann die Kritik an der zunehmenden Mono-Kultur sowie die Forderungen nach Vielfalt und Demokratie politisierend wirken. Die WTO steht dann eher als Symbol für eine auf internationaler Ebene viel unverblümtere Politik des Kapitals als auf nationaler Ebene.

Eine solche Analyse von Widersprüchen ist natürlich nicht Voraussetzung von Protestbewegungen, gar noch zeitlich am Anfang stehend, sondern integraler Bestandteil. Hier läge eine wichtige Funktion kritischer intellektueller Praxen, denn der Erfolg der neoliberalen Kräfte liegt nicht zuletzt darin, radikale Kritik desavouiert oder aber viele Intellektuelle zu Pseudo-KritikerInnen gemacht zu haben bzw. darin, dass diese sich selbst dazu machten.

Das Dilemma, in dem sich jede radikale – was immer und notwendig heißt: heterogene – Bewegung befindet, besteht darin, Handlungsfähigkeit herzustellen und diese permanent auf ihre Radikalität zu prüfen. Deshalb ist es wichtig, Reflexionen über verschiedene Praxen zu organisieren, sie miteinander resonant zu machen. Natürlich fließen in die Art der Initiativen politische Selbstverständnisse ein. Diese Annahmen herauszustellen und offen zu diskutieren, um sie auf ihre Bündnisfähigkeit hin zu überprüfen, scheint mir derzeit ein zentraler Punkt. Die Selbstwahrnehmung, hier die guten radikalen Bewegungen, dort die sich korrumpierenden NGOs oder umgekehrt: hier der konstruktiven Initiativen und dort der verbohrten Radikalen hilft nicht weiter.

Um aber keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Dies ist kein Plädoyer für ein munteres Zusammengehen aller "anti-neoliberaler" Ansätze, sehr wohl jedoch für eine Bezugnahme aufeinander.

Das dominante oder gar hegemoniale Politikverständnis ist heute, dass "die Politik" mit dem Staat gleichgesetzt wird. Die links-keynesianischen Ansätze reproduzieren nun tendenziell dieses Politikverständnis. Sie negieren zwar nicht, dass es um Machtfragen geht, doch sie laufen Gefahr, das Bild von Politik als checks and balances zu reproduzieren. Heute, so die Diagnose, hätten neoliberale Kräfte zu viel Einfluss auf staatliche Politiken, die eben zurückgedrängt werden müssten.

Dem völlig entgegengesetzt ist das politische Selbstverständnis der, mir fällt kein besserer Begriff ein, radikalen GlobalisierungsgegnerInnen. Um Fragen staatlicher Politik scheren sie sich nicht besonders. Ein großer Teil der AktivistInnen scheint sich als radikales "Außen" zu verstehen. An Losungen wie "Capitalism kills people. Kill capitalism!" wird deutlich, dass Kapitalismus als geschlossenes System verstanden wird, das es von "außen" anzugreifen gilt. Entsprechend vehement werden institutionelle Formen von Politik abgelehnt und auf staatliche Beeinflussung orientierte NGOs per se zum Gegner, da auf der anderen Seite stehend.

In dieser Gegenüberstellung kommen zwei reduzierte Staatsverständnisse zum Tragen. Die einen sehen Staat als unter Druck zu setzende Regulierungsinstanz gegen die negativen Auswirkungen der Globalisierung. Es wird an das Selbstbild des bürgerlichen Staates, nämlich Allgemeininteressen zu vertreten, appelliert. Die anderen sehen Staat als zentralen Teil des ganzen (Schweine-)Systems und damit als grundsätzlich abzulehnen.

M.E. ist es heute notwendig, die Staats- und Politikkritik zu radikalisieren und zu internationalisieren, um den aktuellen Veränderungen Rechnung zu tragen. Die Radikalisierung besteht darin, die Engführung von Politik und Staat aufzulösen. Dies ist eine wichtige Erfahrung der neuen sozialen Bewegungen, die mit Slogans wie "das Private ist politisch" eine Dezentrierung anstrebten. Auch der Bereich privatkapitalistischer Produktion wurde früher viel eher als Teil umfassender gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse verstanden. In Zeiten der Realpolitik wird ein solches Politikverständnis entwertet und an den Rand gedrängt. Selbst die hoch im Kurs stehende "Zivilgesellschaft" wird vor allem daran gemessen, was sie zur Legitimität sowie zur Steuerungs- und Problemlösungsfähigkeit staatlicher Politik beizutragen hat.

Demgegenüber wäre es hilfreich, Staat und internationale politische Institutionen wie WTO, IWF oder Weltbank als materielle Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse verstehen, um einen Begriff des Staatstheoretikers Nicos Poulantzas zu verwenden. Damit kann der Ambivalenz Rechnung getragen werden, dass es sich beim Staat um eine herrschaftsförmige Einrichtung handelt, die zuvorderst den Erhalt der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung sichert. Staat ist aber immer die materielle "Verdichtung", d.h. in mit Ressourcen ausgestatteten Apparaturen, von Kämpfen, die gesamtgesellschaftlich ausgetragen werden. Insofern ist staatliche Politik eingebettet in gesellschaftliche hegemoniale Auseinandersetzungen und die Verschiebung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse. Historisch ist ja das Beispiel greifbar, dass Neoliberalismus eben kein rein staatliches Projekt ist, sondern eines der grundlegenden Gesellschaftsveränderung. Es ginge dann darum, politisch nicht nur an neoliberalen Institutionen anzusetzen, sondern auch am neoliberalen "Alltagsverstand" (Gramsci).

Das bedeutet gerade nicht, einem staatsfixierten Politikverständnis Vorschub zu leisten, sondern im Gegenteil die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse in den Blick zu nehmen. Dann erfahren die aktuellen (internationalen, europäischen oder wo auch immer artikulierten) Proteste eine Relativierung und gleichzeitig eine Radikalisierung. Relativiert werden sie, weil sie nur ein Teil umfassender Veränderungen sind, die nicht zuletzt auf grundlegend veränderte Alltagspraxen zielen und gerade nicht (nur) die "Machtfrage" stellen. Damit werden sie aber auch radikaler.

Die praktische und theoretische Staats- und Politikkritik muss sich aber auch internationalisieren. Am Beispiel der neoliberalen internationalen Institutionen WTO, IWF und Weltbank kann dies verdeutlicht werden. Es ist sicherlich unsinnig, Weltbank und WTO zu neoliberalen Teufeln zu stilisieren. Das Problem ist die im Sinne ihrer Protagonisten relativ erfolgreiche neoliberale Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse. Letztere verdichten sich jedoch, wie gesagt, in den internationalen quasi-staatlichen Apparaten, über deren Politiken werden sie vorangetrieben. Erstens und vor allem sind IWF, Weltbank und WTO weiterhin Ausdruck eines neoliberalen Gesellschaftsumbaus – was insbesondere bedeutet: die Unterordnung sozialen Handelns unter den Imperativ internationaler Wettbewerbsfähigkeit und die Nicht-Infragestellung kapitalistischer Eigentums- und Produktionsverhältnisse. Das internationale Institutionensystem ist kein "Instrument" der herrschenden Länder oder Büttel des Kapitals. In ihm verdichten sich jedoch weltweite bürgerlich-kapitalistische und imperialistische Kräfteverhältnisse und Ergebnisse sozialer Auseinandersetzungen. Diese sind wiederum, formuliert als "nationales Interesse", Ausdruck nationaler Kämpfe und Kräfteverhältnisse.

Zweitens: Internationale Institutionen erlangen gleichzeitig eine gewisse Festigkeit, das heißt, Weltbank oder IWF sind selbst Akteure. Nicht umsonst haben diese beiden Apparate in den 70er Jahren einen tiefgreifenden Funktionswandel durchgemacht und sich nach einigen Orientierungsschwierigkeiten im Rahmen der "neoliberalen Konterrevolution" (E. Altvater) zu neoliberalen Apparaten gewandelt (im Unterschied zur Bestimmung bei ihrer Gründung Mitte der 40er Jahre).

Drittens: Gerade auf internationaler Ebene erleben wir heute eine "Refeudalisierung der Politik", d.h. demokratische Entscheidungsprozesse fehlen fast vollständig. Das euphorische Gerede um Netzwerke ist unsinnig, solange nicht beachtet wird, dass die Internationalisierung politischer Prozesse weitgehend ohne Transparenz stattfindet. Das ist aber keine wie auch immer geartete und zu behebende "Dysfunktionalität", sondern hat System. IWF, Weltbank und insbesondere die WTO mit ihrem Streitschlichtungsmechanismus sind ja deshalb so mächtig, weil sie sich kaum legitimieren müssen. Damit soll freilich nicht der Kampf um Transparenz und Öffentlichkeit denunziert werden – er ist sehr wichtig. Zu bedenken ist jedoch, dass er nicht nur unter neoliberalen Bedingungen, sondern auch im Kontext immer stärkerer Entdemokratisierung stattfindet.

Eine Reformperspektive droht viertens – strategisch oder aus Überzeugung – dem Glauben aufzusitzen, die aufgeklärten Eliten von einem notwendigen Politikwechsel überzeugen zu können. Dahinter steht eine derzeit sehr wirkungsmächtige Annahme, nämlich dass "die" Politik den ökonomischen Globalisierungsprozess einzubetten habe. Damit stellt sich aber die Frage, welche Rolle Politik in den jüngsten Veränderungen spielt. Sie hat, als Teil gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse, den neoliberalen Prozess aktiv mit vorangetrieben. "Die" Politik auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene steht ja gerade nicht gegen "die" Ökonomie und gesamtgesellschaftliche neoliberale Orientierungen, sondern sie sichert neoliberale Interessen institutionell und ideologisch ab. Daher ist es eine grobe Verkürzung, von politisch-staatlichen Akteuren nun anti-neoliberale Politik zu erwarten.

Eine Paradoxie der aktuellen Gesellschaftstransformationen besteht darin, dass sie die Grenzen staatlicher Politik aufzeigt. Das sollte für linke Positionen kein Anlass zur Häme sein, denn damit werden zuvorderst grundlegende Rechte der subalternen Klassen abgebaut. Dennoch öffnen sich auch Räume für eine linke Kritik daran. Macht- und Herrschaftsverhältnisse müssen aus emanzipativer Perspektive umfassender in Frage gestellt werden, wobei der bürgerlich-kapitalistische Staat zentraler Akteur und Terrain der Aufrechterhaltung von Macht und Herrschaft ist und eben nicht als Bollwerk gegen den Neoliberalismus (miss-)verstanden werden kann. Dies aufzunehmen und voranzutreiben, ist eines der Essentials linker Politik.

Ein damit eng verbundenes, und auch da tut sich derzeit einiges, ist die Infragestellung der dominanten Interpretationen der "Globalisierung". Demzufolge ist Globalisierung nämlich ein unhintergehbare Tatsache und es geht heute darum, sie zu gestalten (will sagen: Wettbewerbsfähigkeit herstellen) oder ihre negativen Konsequenzen zu minimieren. Insofern ist der Begriff der "GlobalisierungsgegnerInnen" weitaus besser als jener der "Anti-Neoliberalen". Denn das trennt derzeit eine linksliberale von einer radikaleren Perspektive.

© links-netz Juli 2001