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Ein anderes Weltsozialforum ist möglich

Ulrich Brand und Christoph Görg

Für den französischen trotzkistischen Intellektuellen Daniel Bensaid war die Sache klar: Davos und Porto Alegre, das Weltwirtschaftsforum und das Weltsozialforum, verkörpern gegensätzliche Modelle der Vergesellschaftung. Hier das elitäre Netzwerk neoliberaler Chefstrategen, eine mehr und mehr zum Sicherheitsproblem werdende geschlossene Gesellschaft im schweizerischen Bergdorf, dort die bunte Mischung aus Basisbewegungen, AktivistInnen und Intellektuellen, eine Verbindung von Strategietreffen, Karneval, Jahrmarkt, Kirchentag, Sommeruni und Parteiversammlung. Der Erfolg des dritten WSF ist denn auch augenfällig. Nicht nur ist es größer und breiter geworden, konnte es die TeilnehmerInnenzahl im Vergleich zum Vorjahr verdoppeln und in seiner Zusammensetzung stärker als bisher gewerkschaftliche und kirchliche Kreise erreichen. Vor allem ist es in seiner Funktion als Symbol des weltweiten Unbehagens an und des globalen Widerstands gegen die Folgen neoliberaler Globalisierung weltweit anerkannt worden – selbst Herr Schwab, der Organisator des WEF, bestreitet nicht mehr die Notwendigkeit einer Suche nach Alternativen. Eine andere Welt ist möglich – was will man mehr?

Das Weltsozialforum 2003 bedeutete: Über 20.000 Delegierte, über 70.000 weitere TeilnehmerInnen, etwa 4.000 JournalistInnen, ca. 1.600 Veranstaltungen, gute bis ausgelassene Stimmung, Frust über die prekäre Organisation und ein unübersichtliches Programm, einige „große Namen“, viele kleine Begegnungen und immer wieder überraschende Erkenntnisse. Das Treffen fand statt in einer euphorischen Stimmung über den Wahlsieg der Arbeiterpartei PT in Brasilien, den die Menschen als ihren begreifen, in einer Atmosphäre wachsenden Widerstands gegen die neoliberal-militaristischen Projekte in Lateinamerika und den drohenden Krieg gegen den Irak. Zum Forum gehören auch die Tausenden von brasilianischen Jugendlichen, einer neuen hellwachen rebellischen Generation jenseits der alten Kämpfe und Feindschaften.

Die Kraft, die Energie und die Lust, die hinter der Suche nach Alternativen steckt, offenbarte sich schon auf der Auftaktdemo – ein Genuss für alle an langweilige Latschdemos gewöhnte Mitteleuropäer. Ganz im Gegenteil zur geläufigen Ansicht, hier seien Triebverzicht und miefige Moralisierung am Werke, wurde eine Botschaft unmittelbar sichtbar gemacht: Das andere Leben, das gibt es schon – es ist allein das Diktat der Märkte, Mächtigen und Regierungen, das die Luft zum Atmen nimmt. Es gibt zwar die Tendenz zur plakativen und populistischen Vereinfachung, die oft gefährlichen Feindbilder, der simple Antiimperialismus und der platte Antiamerikanismus, die im ganzen Trubel irritieren. Allerdings darf der unterschiedliche Erfahrungshintergrund nicht vergessen werden. Wer in Lateinamerika seit Jahrzehnten der offenen und versteckten Kriegsführung der USA gegen die Bevölkerung dieses Kontinents ausgesetzt ist, der mag den Skrupel von Mitteleuropäern nicht ganz nachvollziehen, deren eigener Wohlstandschauvinismus sich im Schatten des Terrors ihrer Schutzmacht ganz gut entfalten konnte.

Erfahrungen und Differenzen als Grundlage

Obwohl auf den großen Podien immer wieder eher abgestandene Analysen zu hören sind (die auch ihren Sinn der Bildungsveranstaltung nicht erfüllen), so dominierte doch die Diskussion und Reflexion von konkreten Erfahrungen. Von Porto Alegre geht insgesamt Aufforderung aus, den unterschiedlichen Erfahrungshintergrund der sozialen Kämpfe zu berücksichtigen und sich trotzdem in den anderen Kämpfen wiedererkennen zu können, wie dies Ana Esther Ceceña aus Mexiko formulierte. Und doch gilt: Vielfalt darf nicht einfach unkritisch beschworen, als Multitude mystifiziert oder gar instrumentell eingesetzt werden. Es bedarf vielmehr der kritischen Auseinandersetzung innerhalb der Bewegungen, damit Vielfalt tatsächlich produktiv gemacht werden kann.

Zwei Punkte waren in der ganzen Vielfalt Konsens: „Nao Guerra, Nao Alca!“ – kein Krieg, kein ALCA (span. und portug. Abk. für die amerikanische Freihandelszone, die derzeit verhandelt und bis 2005 in Kraft treten soll). Die Ablehnung des Krieges im Irak war sicherlich das übergreifende Thema des WSF. Und immer wieder musste man erstaunt zur Kenntnis nehmen, wie breit der Widerstand in den verschiedenen Regionen der Welt ist – von New York bis Südafrika –, und wie wenig man davon bislang in den deutschen Medien erfahren hat. Gerade in Nordamerika, in den USA und Kanada finden fast wöchentlich Großdemonstrationen gegen die Kriegspolitik der Bush-Regierung statt. Demgegenüber konzentriert sich die Medienberichterstattung hierzulande weiterhin auf die Schachzüge der Regierungspolitik und deren Propaganda, wo doch das Legitimationsdefizit nicht nur der US-Administration längst offenkundig ist. Mindestens ebenso einhellig wie das Nein zum Krieg und die Kritik an den Winkelzügen seiner Begründung war die Ablehnung der amerikanischen Freihandelszone. Gerade von der Durchsetzung dieses neoliberalen Projektes befürchten die sozialen Bewegungen Lateinamerikas eine erhebliche Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen.

Dominiert wird das Forum von den Gruppen der AktivistInnen aus NGOs und sozialen Bewegungen. Dabei liegt der Schwerpunkt gerade von VertreterInnen außerhalb von Lateinamerika auf zahlungsfähigen NGOs – schließlich ist eine Reise nach Porto Alegre nicht gerade billig –, und in diesem Kontext kann man schon von einer NGO-Lastigkeit des Forums sprechen. Während einige vor allem die Gelegenheit zu informellen Treffen, oft auch außerhalb des eigentlichen Programms nutzen, sind es besonders die Workshops, in denen die Erfahrungen der sozialen Bewegungen aus den verschiedenen Regionen der Welt zur Sprache kommen, die die eigentliche Stärke des Forums ausmachen.

Der Vorwurf der NGO-Lastigkeit sollte auch nicht pauschal gegen das Forum gewendet werden. Bei genauerer Betrachtung in einem Workshop zum Verhältnis von Staat, NGOs und sozialen Bewegungen wurde schnell deutlich, dass es sehr unterschiedliche NGOs gibt und ein schlichter Gegensatz zwischen NGOs und sozialen Bewegungen der Sache nicht gerecht wird. In vielen Ländern, in denen die FührerInnen sozialer Bewegungen bedroht oder in den Machtapparat kooptiert wurden, sind es manchmal gerade kritische NGOs, die eine unverzichtbare Rolle für die Organisation der Basisarbeit übernehmen. Dies machten VertreterInnen aus Argentinien, aus der Amazonas-Region Brasiliens und aus Paraguay deutlich. Allerdings zeigen Beispiele aus Argentinien sowie Erfahrungen aus Uruguay, dass die Arbeit von NGOs durchaus mit neoliberaler Politik kompatibel ist und einen Rückzug des Staates zu begleiten und zu substituieren vermag. In einem Punkt waren sich aber AktivistInnen aus allen lateinamerikanischen Ländern, von Mexiko bis Chile, mit den wenigen VertreterInnen aus Europa und Afrika schnell einig: Die Autonomie und Selbstorganisation sozialer Bewegungen und ihre Unabhängigkeit von Staat und Parteipolitik ist eine zentrale Vorraussetzung dafür, dass verkrustete Strukturen aufgebrochen werden und neue, emanzipative Impulse freigesetzt werden. Auch die Landlosenbewegung in Brasilien, der MST, hat schon jetzt deutlich gemacht, dass sie bei aller Sympathie für die neue Regierung ihre Unabhängigkeit bewahren und ihre Strategie nicht der Machterhaltung der PT unterordnen wird. Welche Gefahren ansonsten bei einer Unterordnung unter Partiestrategien entstehen, stellt ein Vertreter der Landlosenbewegung aus Südafrika heraus. Indem er explizit Lula mit dem ebenfalls charismatischen Nelson Mandela verglich, artikulierte er die Enttäuschung in die Politik seines Nachfolgers mit der Bemerkung, sie hätten vor acht Jahren die falsche Wahl getroffen. Er beendete daher seinen Erfahrungsbericht mit dem heroischen Ausruf: „La lotta continua!“ – der Kampf geht weiter.

Überhaupt konnte man an der Frage der Landverteilung und den Erfahrungen mit Agrarreformen einige Probleme ländlicher sozialer Bewegungen gut beobachten. So zentral die Frage des Landbesitzes und der ungleichen Verteilung von Land in so unterschiedlichen Ländern wie Brasilien, Kolumbien, Indien oder Südafrika auch jeweils ist – und so eng diese Frage mit der nach einer Alternative zur industrialisierten Landwirtschaft und damit zur neoliberalen Politik im allgemeinen verbunden ist –, so muss dieser Kampf doch unter den jeweiligen lokalen und nationalen Bedingungen ausgefochten werden. Dabei wurde auch deutlich, wie sehr die hierzulande oft erhobene Forderung, man möge doch konkrete und konstruktive Alternativen nennen, am tatsächlichen Problem vorbeigeht. Denn wie gerade das Beispiel MST (aber auch andere Erfahrungen) zeigt: Die Alternativen sind vorhanden und werden schon umgesetzt – die Frage ist, ob sie sich entwickeln können oder ob sie unterdrückt werden. Schon länger ist der MST über den Stand hinaus, allein eine Umverteilung des extrem ungleich verteilten Landes zu fordern. Dabei zielt diese Forderung schon für sich genommen auf eine der wesentlichen Ursachen für die spezifischen Macht- und Herrschaftsverhältnisse Brasiliens. In den letzten 15–20 Jahren wurden durchaus erstaunliche Erfolge auf den ehemals besetzten und nun verteilten Ländereien erzielt. Die Frage ist nur, ob dies Nischen in einer ansonsten rein produktivitäts- und exportorientierten Landwirtschaft bleiben, oder ob die Produktion und die gesamte Agrarpolitik auf Nahrungsmittelsicherheit für die einheimische Bevölkerung umgestellt werden kann. Dabei schaut der MST nicht auf den Staat, sondern es werden schon jetzt regionale Vermarktungsstrukturen und ökologische Anbaumethoden ausprobiert und entwickelt. Und diese Ansätze dürften auch entscheidend dafür sein, ob die Regierung Lula ihr Null-Hunger-Programm auch nur ansatzweise umsetzen kann. Umgekehrt liegt die Gefahr darin, dass solche durchaus vorhandenen Alternativen nun vom amerikanischen Freihandelsabkommen platt gemacht werden, dass u.a. die Zielsetzung hat, den südamerikanischen Markt den Nahrungsmittelgiganten aus dem Norden zu öffnen. Dass in dem eigentlich gentechnikfreien Brasilien schon gentechnisch modifiziertes Saatgut eingeschmuggelt wird, darf als ein Indiz für die Schwierigkeiten einer Gestaltung der Landwirtschaftspolitik verstanden werden.

Die Inhalte des WSF waren für niemanden überschaubar. Es ging gegen die Privatisierung von Wasser und genetischen Ressourcen, um die Zukunft der Bildung, um feministische Perspektiven auf die Verankerung von neoliberaler Hegemonie im Alltag, um das angesprochene und in Brasilien brennend interessierende Verhältnis von Staat, Parteien und Bewegungen, das Recht auf Wohnraum, die Militarisierung vieler Lebensbereiche und und und .... Neben dem drohenden Krieg und der Amerikanischen Freihandelszone, die in den Veranstaltungen und auf den Demos thematisiert wurden, war der Auftritt des seit 1. Januar amtierenden Präsidenten Lula da Silva eines der großen Ereignisse (jener des Präsidenten Venezuelas, Hugo Chávez, war übrigens vor Ort weit weniger beachtet, sondern eher durch die Medien hochgespielt). Lulas Auftritt vor 80–100.000 Menschen geriet sicherlich zum massenwirksamen Höhepunkt des WSF. Dabei ist die Bedeutung wahrlich nicht zu unterschätzen. Entscheidend ist nicht nur, dass mit Lula zum ersten Mal in der Geschichte Brasiliens ein Vertreter der unteren Bevölkerungsschichten, ein Mann aus den Armengebieten Sao Paulos Präsident des größten Landes Lateinamerikas geworden ist, was in diesem ungleich stärker durch Klassen- und Statusprivilegien zerrissenen Land schon eine wichtige Signalwirkung hat. Noch wichtiger ist allerdings, dass er als Vertreter der sozialen Bewegungen diesen Sieg errungen hat. Denn Lula gehörte zu denen, die noch unter der Militärdiktatur in den späten 1970er Jahren mit dem Aufbau einer Stahlarbeitergewerkschaft einen entscheidenden Anteil an der Demokratisierung Brasiliens hatte. Und seine Partei, die Arbeiterpartei (PT), ist auch heute noch auf engste mit den sozialen Bewegungen verbunden. Lulas Wahlsieg wird also mit Recht auch als ein Sieg der sozialen Bewegungen interpretiert – und genau da artikulieren sich auch die großen Erwartungen und beginnen die Probleme. Denn einerseits wird von ihm eine deutliche Absage an ALCA und zumindest die Durchführung eines Referendums erwartet, eine Erwartung, die er aufgrund der internationalen Verpflichtungen seines Landes nicht von heute auf morgen erfüllen kann. Noch umstrittener war seine Bereitschaft, nach Davos zu fahren. Obwohl sein Ziel, die Anliegen seines Landes dort zur Sprache zu bringen, nachvollziehbar sind, waren die Sprechchöre: „Lula, bleib hier!“ bei seinem Auftritt unüberhörbar. Sein Vorhaben, eine Brücke zwischen den beiden Foren zu etablieren, macht dann vollends die Gefahr einer Instrumentalisierung des WSF deutlich. Dazu hat niemand Lula beauftragt – und die Mehrheit in Porto Alegre dürfte als den besten und sogar einzig möglichen Beitrag des WEF zur Lösung der Weltprobleme dessen Auflösung ansehen.

In diesem Konflikt artikuliert sich aber ein Grundsatzproblem des WSF: Wer spricht für wen? Wer hat die Kontrolle über die Veranstaltung? Für die Mehrheit der TeilnehmerInnen war die Organisationsstruktur undurchsichtig, Dabei scheinen sich Unterschiede zwischen höchst verschiedenen Gruppen zu verfestigen. Am Anfang steht die kleine Gruppe der Entscheidungsträger, die, organisiert im Internationalen Rat, die Weichen für den Fortgang des WSF stellen. Diesem Gremium gehören inzwischen rund 100 VertreterInnen von Organisationen aus der ganzen Welt an, wobei hinter einigen kampfkräftige Bewegungen, hinter anderen niemand außer etwas Geld steht. Vor allem die Entscheidung, wo das nächste WSF stattfindet, war sehr umstritten, und konnte nur unter massiven Druck von VertreterInnen aus Asien und Afrika zu einem Kompromiss gewendet werden. Während die VertreterInnen aus Lateinamerika weiterhin an Porto Alegre festhalten wollten, was die Gefahr einer Entwicklung hin zu einem Lateinamerika-Forums mit Gästen aus dem Rest der Welt mit sich gebracht hätte, einigte man sich darauf, das nächste Forum in Indien zu veranstalten, jedoch das Jahr darauf wieder in Porto Alegre. Dennoch, und das ist politisch wahrscheinlich am wichtigsten, dominiert der Rat nicht das Forum. Er stellt einen Raum bereit, strukturiert ihn teilweise, doch er wird von den TeilnehmerInnen nach ihren Bedürfnissen gefüllt. Bereits beim ersten WSF im Jahr 2001 wurde klar. Die Initiatoren um den französischen Attac-Präsidenten Bernard Cassen wollten ein „Anti-Davos“ mit dem Schwerpunkt auf weltwirtschaftliche Fragen. Doch es wurde – und ist bis heute – ein Treffen, auf dem die teilnehmenden Bewegungen und NGOs ihre eigenen Fragen einbringen.

Ein anderes Weltsozialforum ist möglich: Gefahren und Grenzen des Erfolgs

In dem Erfolg der wachsenden TeilnehmerInnenzahl und großen öffentlichen Aufmerksamkeit stecken diverse Gefahren. Die symbolische Anerkennung des WSF als Ausdruck des weltweiten Unbehagens und der Bündelung des globalen Protests wird zum Problem. „Man“ muss dabei gewesen sein, denn hier treffen sich die weltweiten Kämpfe. Die symbolische Überladung führt dazu, die öffentliche Ausstrahlung des Treffens zu stark zu betonen und den konkreten Erfahrungsaustausch und die Vernetzungen sozialer Bewegungen an den Rand zu drängen. Dies wurde beim dritten Treffen besonders deutlich. Angesichts der hohen Beteiligung, mit denen die OrganisatorInnen nicht mehr umgehen konnten (Höhepunkt dieser Überforderung war ein Programm, das einen Tag zu spät kam und an Unübersichtlichkeit nicht zu überbieten war), wurden die großen Events mit Noam Chomsky, Arundhati Roy oder Eduardo Galeano vor Zehntausenden von Leuten zu einer Art Rettung. Hier ging es um Stimmung, Identitätsbildung und gute Analysen berühmter Persönlichkeiten. Ähnliches galt für die sog. Testimonies, in denen prominente Menschen ihre Geschichte erzählten. Wir wollen den Sinn und die Attraktivität solcher Events nicht infrage stellen. Bemerkenswert ist jedoch, dass in diesem Jahr die sog. Konferenzen, auf denen vor mehreren Hundert oder Tausend Leuten stellvertretend Strategien diskutiert werden, weniger gut besicht wurden und vielfach inhaltlich nicht spannend waren. Aufgrund der Finanzprobleme des Forums (die Arbeiterpartei verlor im Herbst die Wahlen im Bundesstaat Rio Grande do Sul, weswegen von dort Geld fehlte) konnten sich eher die bekannten NGO-Aktivisten die Reise leisten, das Forum jedoch VertreterInnen aus Bewegungen weniger als geplant einladen.

Die Massivität, mit der trotzdem solche Podiumsdiskussionen angekündigt wurden, wendete sich gegen eine methodische Stärke des ersten und zweiten WSF, nämlich den selbstorganisierten Workshops jeden Nachmittag ihren Raum zu lassen und sie nicht in Konkurrenz mit den Großveranstaltungen zu setzen. Das diese Struktur im Jahr 2003 aufgelöst wurde, führte nicht nur zu einer erheblichen Unübersichtlichkeit, sondern auch zur Unruhe in den Veranstaltungen. Auch während der Workshops hatten viele das Gefühl, bekannte Namen und ihre Analysen in einer parallel laufenden Großveranstaltung zu verpassen.

Doch auch diese Diskussionen, die man als den eigentlichen Gebrauchswert eines WSF bezeichnen könnte, sind nicht vor einer Gefahr gefeit: Gerade die öffentliche Anerkennung und die symbolische Bedeutung, die das WSF inzwischen erfahren hat, bringen die Gefahr mit sich, dass es als Ort sozialer Kämpfe zu sehr aufgeladen, dass die symbolische Bündelung der Kämpfe mit diesen selbst verwechselt werden und Porto Alegre als der Ort einer globaler Bewegung projektiv überhöht wird. Dabei finden die globalen Konflikte gerade nicht in Porto Alegre, sondern vor Ort in lokalen Zusammenhängen statt (was im Prinzip auch allen Beteiligten klar ist). Auf dem WSF können sie nur vernetzt und wechselseitig verstärkt werden. Entscheidend ist aber, ob tatsächlich die Hegemonie neoliberalen Denkens im Alltag gebrochen werden kann – und davon ist besonders im industrialisierten Norden, in Deutschland, Europa und den USA, wenig zu sehen.

Eine zweite Spannung neben jener zwischen sinnvollem Großevent und der gefährlichen symbolischen Zentralisierung von Kämpfen bleibt die Rolle der Intellektuellen. Kann man dies noch als Wunsch nachvollziehen, prominente Persönlichkeiten im Rahmen des Forums mal persönlich „zu sehen“ (und mehr ist es meist dann auch nicht), so ist die Qualität der Beiträge höchst unterschiedlich. Manche sind als Begründer alternativer Paradigmen gegen die Mythen des Neoliberalismus und der Militarisierung unverzichtbar. Andererseits wurde deutlich, dass die Kritik an der Globalisierung und am Krieg inzwischen weit verbreitet, aber kaum etwas Neues in den letzten Jahren hinzugekommen ist und viele Analysen flach und plakativ wirkten. Davon zu unterscheiden sind allerdings Veranstaltungen, die eher den Charakter von Bildungsveranstaltungen haben und einer großen Zahl von Neulingen, vor allem aus Lateinamerika, die Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit wichtigen Themen geben. Schließlich ist Porto Alegre aber auch ein Jahrmarkt der Eitelkeiten, auf dem die Stars „gemacht“ werden und Profilierungssucht manchmal über den Erkenntnisgewinn siegt.

Eine dritte Spannung des Weltsozialforums ist der Widerspruch zwischen dem starken Bedürfnis nach Herausbildung einer gemeinsamen Identität und den sich entwickelnden Streitkulturen. Es ist ein mühsamer Prozess, durch die bestehenden Differenzen hindurch und ohne sie zu unterdrücken, Alternativen und gemeinsame Strategien zu entwickeln. Aber es ist der einzig mögliche Weg zu einer produktiven Weiterentwicklung.

Und schließlich wird das Verhältnis zu Parteien nicht abschließend zu klären sein. Im Gegensatz zum Europäischen Sozialforum in Florenz, das stark von der Rifundazione Comunista dominiert wurde, spielen Parteien jenseits der symbolischen Ebene des Lula-Auftritts keine große Rolle (das widerspricht nicht dem großen Diskussionsbedarf, wie denn von Bewegungsseite mit Parteien umgegangen werden kann). Und dennoch: Wie gehen in Zukunft, so die sich permanent stellende Frage, die wichtiger werdenden Sozialforen mit den eventuellen Dominanzgelüsten politischer Parteien um?

Sozialforen als Lernprozesse

Das Weltsozialforum wie seine regionalen „Ableger“ sind politisch-organisatorische Lernprozesse. Das zweite Europäische Sozialforum findet im Herbst in Paris statt, das Weltsozialforum wird 2004 nach Indien gehen. Dazu gibt es bereits unzählige lokale, regionale und nationale Foren und Treffen. Entscheidend ist die Rückwirkung dieser Foren und Treffen auf die Praxis des Widerstands: In Bewegungen, Gewerkschaften, Schulen und Universitäten, Medien und Unternehmen.

Nichts wäre hinderlicher, wenn nach der Teilnahme am Weltsozialforum lediglich ein Gefühl des „klasse, ich war dabei“ entstünde, ohne die Methoden der Vorbereitung und Durchführung weiter zu entwickeln und unterschiedliche Ansprüche zu klären. Einige Gefahren haben wir aus unserer Sicht bereits genannt. Ein weiteres Beispiel ist die methodische Spannung zwischen Bildungs- und Identitätsveranstaltung einerseits sowie Erfahrungsaustausch Diskussion von Strategien auf der anderen Seite. Dies ist nicht auflösbar, aber es sollte bewusster damit umgegangen werden.

Auf der symbolischen Ebene dürfte es entscheidend sein, die konfrontative Haltung zum Weltwirtschaftsforum in Davos wie auch zu anderen Treffen und Institutionen der Mächtigen nicht aufzugeben. Allerorten sind Stimmen zu vernehmen, die auf die gemeinsamen Anliegen der weltweiten Eliten und sozialen Bewegungen – Kampf gegen Hunger, für eine bessere Welt etc. – hinweisen. Doch damit würde der kurze Sommer der globalen Bewegungen wieder mal zu Grabe getragen. Viel wichtiger ist es für die emanzipativen Bewegungen, in der konfrontativen Haltung ihre Kritik zu schärfen, die dann in konkreten Auseinandersetzungen gegen Privatisierung, für besser Lebensbedingungen, gegen die Durchsetzung mächtiger Interessen eingebracht werden kann. Gleichwohl ist hier ein weiteres Problem angesprochen, nämlich die jeweils konkrete Vermittlung der Kämpfe in spezifische Auseinandersetzungen und Institutionen wie Gewerkschaften oder staatliche Apparate.

Trotz unserer kritischen Bemerkungen: Der Verzicht auf globale Vernetzungen wie auch der öffentliche Hype um das WSF wird weder zurückzunehmen sein, noch scheint es sinnvoll, darauf verzichten zu wollen. Allerdings scheint eine Entzerrung angebracht. Ein WSF alle zwei Jahre in den verschiedenen Erdteilen könnte für die Vielfalt der Bewegungen und ihr gemeinsames Anliegen hilfreicher sein. In der jetzigen Form ist es zu Lateinamerika-lastig, zwar mit gutem Grund, denn dort sind die sozialen Bewegungen vielfach weiter entwickelt. Gerade deshalb wäre ein WSF nicht nur in Indien, sondern auch auf dem afrikanischen Kontinent vielleicht ein wichtiger Stimulus für die dortigen Auseinandersetzungen. Wichtig ist aber vor allem, dass der Gebrauchswert, der Erfahrungsaustausch sozialer Bewegungen und der Versuch einer Vernetzung tatsächlich weiterhin im Mittelpunkt steht, und dass man nicht im Bestreben, immer machtvollere Manifestationen des globalen Widerstands zu organisieren, diesen Gebrauchswert noch mehr an den Rand drängt.

Bei aller Euphorie, die einem manchmal in Porto Alegre überfallen konnte, wurde auch deutlich: ein langer Atem ist nach wie vor notwendig. Weder ist ein Zusammenbruch des kapitalistischen Weltsystems in Sicht – und seine entschlossene militärische Verteidigung gibt uns schon einen Vorgeschmack darauf, mit welchen Opfern eine Zuspitzung der globalen Krisen und die Verteidigung der amerikanischen und der europäischen Lebensweise wohl verbunden sein dürften. Ein Weg gegen den Rückfall in die Barbarei kann nur aus der Selbstorganisation sozialer Bewegungen erwachsen – und in dieser Hinsicht sind Deutschland und Europa die wahren Entwicklungsländer.

© links-netz Februar 2003