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Globale Alternativen?

Am vergangenen Wochenende ging das 14. Weltsozialforum zu Ende

Ulrich Brand

Angesichts der weiterhin dynamischen Globalisierung des Kapitalismus bedarf es Orte, um Kritik an seinen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Verwüstungen zu formulieren, Erfahrungen über Widerstand auszutauschen sowie darum Alternativen zu entwickeln. Genau das war vor fast 20 Jahren das Ziel der Initiator*innen des Weltsozialforums (WSF). Das Motto hieß, wie auch beim sich zeitgleich entwickelnden Netzwerk Attac, „Eine andere Welt ist möglich!“

Das ist umso wichtiger, da „Globalisierungskritik“ heute effektiv von rechts formuliert wird. Insbesondere von US-Präsident Trump, wenn er gegen Freihandel wettert und Schutzzölle für die eigene Industrie errichtet. Trump will das eigene Kapital „im nationalen Interesse“ bedienen, lässt innergesellschaftliche und internationale Machtverhältnisse unangetastet, zerstört die natürlichen Lebensgrundlagen und lässt verfolgen, abschieben, verrecken und bombardieren, was nicht auf die America First!-Agenda passt. Die Ängste und negativen Erfahrungen mit der kapitalistischen Globalisierung werden aktuell politisch eher mit sozialer Spaltung, Feindlichkeit gegenüber „anderen“ und einer Unterordnung sozial-ökologischer Fragen unter das vermeintlich Wichtige (Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung) beantwortet.

Die Ursprünge der Globalisierungskritik sind andere, nämlich klar herrschaftskritisch, auf Gleichheit, Freiheit und gute Lebensbedingungen für alle und gegen die ökologischen Verwüstungen im Namen von Wachstum und Profit gerichtet. Und sie hatte einen Ort: Eben das Weltsozialforum.

Vergangenen Samstag ging im brasilianischen Salvador de Bahia das 14. WSF zu Ende. Der Ort war wichtig: Salvador ist das Zentrum des „schwarzen Brasilien“, hat starke soziale Bewegungen – neben afro-amerikanischen etwa die der Landlosen und die, die ein „Recht auf Stadt“ fordert – und ist eine der letzten Hochburgen der Arbeiterpartei (PT).

Ein kurzer Blick zurück: Im Jahr 2001 fand das erste WSF im brasilianischen Porto Alegre statt, noch mit überschaubarer Zahl der Teilnehmenden, doch ab 2002 nahm die Zahl der Teilnehmenden und die globale Aufmerksamkeit von Jahr zu Jahr zu. Aber mehr noch: Das WSF war in der Lage, neben dem inhaltlich-strategischen Austausch auch einen symbolischen Kontrapunkt zum Weltwirtschaftsforum in Davos zu setzen. Es fand jeweils unmittelbar vor dem Stelldichein der globalen Wirtschafts- und Politelite statt.

Doch die historische Bedeutung des WSF entstand weniger aus diesem Kontrapunkt – von den Medien natürlich sehr goutiert –, sondern von der außergewöhnlichen politischen Konjunktur in Lateinamerika. Nach „9/11“ begann der seinerzeitige US-Präsident George W. Bush einen „Krieg gegen den Terror“, in Europa neoliberalisierten die sozialdemokratischen Regierungen und viele wurden in diesen Jahren abgewählt, Putin und Erdogan kamen an die Macht – die politische Situation weltweit entwickelte sich also bereits nach rechts. Gar nicht so in vielen Ländern Lateinamerikas, in denen nach dem Wahlsieg von Hugo Chávez in Venezuela Ende 1998 in einem Land nach dem anderen linke oder links-liberale Regierungen gewählt wurden (ohne Ausnahmen wie Mexiko oder Kolumbien zu vergessen, wo rechte Politik und Gewalt dominierten). Bei allen Unterschieden zwischen den Ländern war klar, dass diese „post-neoliberalen“ Regierungen starken sozialen Mobilisierungen zu verdanken waren.

Zwei Beispiele: Obwohl Politiker*innen nicht offiziell auf dem WSF auftreten durften, war das WSF 2003 in Porto Alegre kurz nach dem Wahlsieg von Lula da Silva (auf einer Bühne außerhalb des Forums-Geländes) eine große Party. Oder: Die Beendigung der Verhandlungen um ein gesamtamerikanisches Freihandelsabkommen im Jahr 2005 zwischen den Regierungen der USA, Kanada und den lateinamerikanischen Ländern war dieser Dynamik zwischen Bewegungen und Regierungen geschuldet.

Die Foren waren immer von den lokalen politischen Gegebenheiten geprägt. Beim ersten WSF außerhalb Brasiliens, 2004 in Mumbai, war die ausgrenzende Kastenstruktur und die Rolle der Dalit („Unberührbare“) darin ein dominantes Thema. Im brasilianischen Belem standen 2009 die Abholzung des Amazonasgebiets und der Widerstand dagegen im Zentrum. In Dakar (Senegal) waren 2011 der großflächige Landkauf (land-grabbing) durch internationale Investoren – oft genug vermittelt mit lokalen Interessengruppen –, die militärische Präsenz Frankreichs und die (neo-)kolonialistische Rolle Europas in der Region wichtig. Das Treffen in Tunis 2013 war eine Referenz an den Arabischen Frühling ab 2011, Fragen der Migration und das Verhältnis Afrika-Europa spielten eine große Rolle.

Doch das WSF verband diese konkreten Kämpfe – neben der Tatsache, dass natürlich die meisten Teilnehmenden jeweils aus der Region kamen – mit den globalen Strukturen und Machtverhältnissen Es war nie eine globale Bewegung, was ja schon physisch gar nicht geht (obwohl in vielen Jahren über 100.000 Menschen teilnahmen), sondern sollte die unterschiedlichen Kämpfe und Erfahrungen repräsentieren. Ich habe das WSF oft als „Kristallisationspunkt“ vielfältiger Kämpfe und Themenverstanden, obwohl es in Bezug auf die internationalen Teilnehmenden immer ungleich, europa- und NGO-lastig war.

Spätestens seit dem WSF 2009 wurde sichtbar, was sich in den Jahren zuvor andeutete und bis heute wichtig ist: Es geht weniger um große Erklärungen der „Versammlung der sozialen Bewegungen“, sondern um die transnationale Arbeit in konkreten Konfliktfeldern wie Finanzmärkte, Freihandel, Bergbau, Feminismus, Anti-Rassismus, Wasser und andere (in Belem waren es über 20 thematische Arbeitsgruppen).

Gruppen, die zu Flucht und Migration arbeiten, zu Klimagerechtigkeit, land-grabbing, Ressourcenpolitik, Regulierung der Finanzmärkte, Landwirtschaft, Kampagnen gegen Freihandel, linke Gewerkschaften, kommen hier und anderswo zusammen. Das WSF konnte nur so lange der Ort sein, diese Themenfelder und Verbindungen zu anderen zu schaffen, solange es als Ganzes interessant war.

In den letzten fünf Jahren geriet das WSF in eine Krise. Es wird vielfach kritisiert, dass sich eine eigene Machtstruktur im Internationalen Rat des WSF herausgebildet hat, der zu zeitgemäßen Innovationen nicht in der Lage ist. Es wurden auch problematische Entscheidungen getroffen, wie etwa das 13. WSF im Jahr 2016 im kanadischen Montreal stattfinden zu lassen – erstmals in einer Stadt des globalen Nordens und dazu recht teuer. Und in der Tat war das damalige WSF mehr mit Visa-Problemen für Aktivist*innen aus dem globalen Süden als mit der Entwicklung politischer Perspektiven beschäftigt.

Die belgische Wissenschaftlerin und Aktivistin Francine Mestrum formulierte vor einigen Jahren. „Die `alte Linke´ – damit meinte sie die am Staat als Instrument der Veränderung orientierte (ub) – ist immer noch eines der Rückgrate des Sozialforumsprozesses, aber sie ist – wenn nach innen gerichtet – zugleich eine der größten Hindernisse für die Überwindung ihrer Defizite.“

Doch die Krise des WSF ist, wie Tadzio Müller richtig argumentiert, Ausdruck der aktuellen Unvereinbarkeit von zwei linken Positionen. Einerseits ist das eine produktivistische, sozial-ökologische Fragen gering schätzende, an Umverteilung und am Staat orientierte Linke für einen „progressiven Kapitalismus“ und andererseits eine Linke, die das zerstörerische Wirtschaftsmodell, die Weltmarktabhängigkeiten und die Fixierung auf den Staat infrage stellt und sich stärker an selbstorganisierten Alternativen orientiert.

Entsprechend fehlt dem WSF eine eigene Perspektive, wie in der gegenwärtigen politischen Situation über kaum noch so zu nennende Reformpolitik einerseits und Widerstände andererseits hinaus gehende Macht- und Transformationsperspektiven entwickelt werden können. Das war das frühere WSF. Es lebte von der – im Nachhinein bitter enttäuschten – Perspektive, dass globale soziale Bewegungen insbesondere in Lateinamerika eben doch eine andere Welt möglich machen. In Belem traten 2009 – natürlich offiziell „am Rande des Forums“ – die amtierenden Präsidenten Brasiliens, Boliviens, Ecuadors, Venezuelas und Paraguays auf (in Paraguay war der linke Priester Lugo Präsident, der später parlamentarisch weggeputscht wurde). Das sorgte für globale Aufmerksamkeit.

Es gab durchaus Versuche, neue Ansätze zu entwickeln. Im Jahr 2013 etwa sollten mit den „Karthographien der Zukunft“ exemplarisch Alternativen entwickelt werden – etwa zum in vielen Ländern dominanten Wirtschaftsmodell des Ressourcenextraktivismus, zu existierenden Technologien wie Facebook oder jenen der industrialisierten Landwirtschaft wie auch zum Verständnis des Öffentlichen oder zum vorherrschenden liberalen und zunehmend autoritären Demokratiemodell. Deutlich wurde dabei auch, wie schwierig es ist, in einen Austausch über mögliche Zukunftsszenarien und ihre Realisierung einzutreten – und damit traditionelle Politikverständnisse zu überwinden, denen zufolge starke Bewegungen am Ende immer dazu führen, linke Regierungen zu installieren und zu unterstützen, die sich dann der Sache auf der „großen Ebene“ annehmen.

Auch die 2011 von Samir Amin initiierte „Süd-Süd-Vernetzung“ kam nicht so richtig voran. Zu stark scheint der Sachverhalt, dass es eben nicht „den Süden“ gibt, auch wenn für früher wichtige Vordenker des Antiimperialismus wie Amin das immer noch der Fall zu sein scheint. Doch diese Verhältnisse sind oft genug subimperial imprägniert, denn die Regierungen Brasiliens, Chinas, Indiens oder Südafrikas beanspruchen eine Führungsrolle für ihre Region oder „den“ Süden.

Die inhaltlich-strategischen Probleme äußerten sich auch derart: Die Treffen waren immer ein Bezugspunkt internationaler Aktivist*innen (wozu eben auch NGOs mit Bewegungsbezug gehören), die in ihren Ländern und Regionen auch für Aufmerksamkeit sorgten. In Salvador reichte es dieses Mal zu einem vielbeachteten Event mit Lula da Silva und dem linken Ex-Präsidenten Uruguays, Pepe Mujica. „Brot für die Welt“ war eine der letzten größeren NGOs, die das WSF finanziell unterstützen. Es waren auch Stiftungen wie die Rosa Luxemburg Stiftung oder Friedrich Ebert Stiftung präsent, aber die beklagten eher die maue internationale Teilnahme.

Damit wurde das WSF nicht nur Teil innenpolitischer Auseinandersetzungen – das war es immer –, sondern dafür kritisiert, von der PT instrumentalisiert zu werden. Die Regierung des Bundesstaates Bahia hat das WSF maßgeblich finanziell ermöglicht, im Oktober finden in Brasilien Präsidentschaftswahlen statt und die Kandidatur Lulas (der die Wahl ziemlich sicher gewinnen würde) wird von den Rechten mit aller Kraft zu verhindern versucht.

Grundsätzlich bleibt die Idee eines WSF wichtig. Die vielen lokalen und regionalen Widerstände agieren ja oft gegen transnationale Akteure in Verbindung mit staatlicher Politik. Konkret könnte es in Brasilien in eineinhalb Jahren ein „thematisches WSF“ geben, das garantiert mehr Aufmerksamkeit haben wird als das diesjährige WSF. Die Regierung Brasiliens bewirbt sich um die Ausrichtung der 25. Klimakonferenz im Herbst 2019. Das könnte einen Kristallisationspunkt für die brasilianischen, lateinamerikanischen und globalen sozialen Bewegungen darstellen, um die desaströse Umwelt- und Wirtschaftspolitik zu kritisieren. Vielleicht ist das ein Modus, das Anliegen des WSF weiterzutragen.

Ulrich Brand, Universität Wien, nahm zwischen 2003 und 2013 an acht Weltsozialforen teil.

Dieser Text erschien in Kurzform auf mosaik-blog.at.

© links-netz März 2018