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Das Weltsozialforum als Raum!?

Die „strategischen Allianzen“ von Bewegungen und progressiven Regierungen könnten sich als Bumerang herausstellen

Ulrich Brand

Das Weltsozialforum findet in diesem Jahr polyzentrisch in drei Städten statt: Um den 20. Januar in Bamako in Mali, eine Woche später in Caracas in Venezuela und Ende März im pakistanischen Karachi. Am WSF in Caracas nahmen etwa 80.000 Menschen teil. 19.000 davon als Delegierte von etwa 2.500 Organisationen, dazu kamen über weitere 50.000 TeilnehmerInnen, fast 5.000 JournalistInnen und 3.000 HelferInnen. Das sechste Weltsozialforum zeigte wie schon die Treffen in Porto Alegre und Mumbai: Der Ort, insbesondere Venezuela und Caracas, prägen das jeweilige WSF. Der folgende Text handelt lediglich vom WSF in der lateinamerikanischen Metropole.

Hier wurden die meisten ausländischen TeilnehmerInnen mit einer spannenden Realität konfrontiert. Sich von den widersprüchlichen Prozessen der „bolivarianischen Revolution” (in Anlehnung an Simon Bolívar, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Unabhängigkeitskriege gegen Spanien anführte und für eine Einheit des Kontinents war) ein Bild machen zu können, war für die Unvoreingenommenen ein Gewinn. Das WSF in Caracas sollte den ins Stocken geratenen „bolivarianischen Prozess“, der offiziell im Februar 1999 mit dem Amtsantritt von Hugo Chávez Frías begann, stützen und den Isolierungsbemühungen – oder den von manchen vermuteten offenen Invasionsplänen – durch die USA etwas entgegensetzen. Soweit das legitime und anerkannte Interesse linker Kräfte in Venezuela und in Lateinamerika.

Durch einen drei Tage vor dem WSF stattfindenden Workshop „Gegen und jenseits des Neoliberalismus”, bei dem die Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Sozialwissenschaftliche Rat Lateinamerikas (CLACSO) vierzig Menschen aus unterschiedlichen Ländern und Bereichen zusammenbrachte, gab es einen guten thematischen Einstieg zu den komplexen Entwicklungen in Venezuela und in anderen Ländern. Faszinierend war bereits hier zu sehen, dass die Reflexion emanzipativer Bewegungen sehr viel fortgeschrittener ist als in Deutschland; was auch mit der Sache selbst zu tun hat.

Venezuela als Ort des Forums

Viele der populären Bewegungen sind anti-staatlich und pro-chavistisch. Die Veränderungen für die verarmte Bevölkerungshälfte in diesem reichen und vormals von einer zynischen Ober- und Mittelschicht regierten Land sind beträchtlich. Insbesondere in den Bereichen Wohnungsbau, Bildung, Ernährung und Gesundheit spüren viele Menschen konkret die „bolivarianische Revolution“. Es kommt in Venezuela zu Verstaatlichungen insbesondere im Lebensmittelsektor, Landtitel werden an KleinbäuerInnen vergeben. Ein spannender Aspekt wurde auf dem Workshop genannt: Dass nämlich bis vor wenigen Jahren viele Armenviertel mit Hunderttausenden von BewohnerInnen auf den Stadtplänen von Caracas als Grünflächen verzeichnet waren. Katastrophale Lebensverhältnisse überhaupt sichtbar zu machen, um sie zu verändern, war also eine erste Aufgaben der neuen Regierung.

Die Probleme und Widersprüche sind offensichtlich. Etwa das Verhältnis einer beanspruchten „partizipatorischen“ Demokratie, welche die Menschen und ihre Selbstbestimmung ins Zentrum stellt und einem vertikalen, angesichts der aktuellen Situation noch nicht einmal repräsentativen politischen System. Prozesse der Selbstorganisation laufen eher punktuell denn dauerhaft. Neben dem korrupten Staatsapparat werden Parallelstrukturen aufgebaut, die selbst nicht frei sind von neuen Formen von Korruption. Vieles bleibt in staatlich-fürsorglichen Ansätzen stecken.

Spätestens seit dem Scheitern des von der rechten Opposition initiierten Referendums vom August 2004, durch das Chávez abgesetzt werden sollte, befinden sich viele unabhängige Kräfte in einem Dilemma. Sie wollen auf keinen Fall die konservative Opposition unterstützen, die beim gescheiterten Staatsstreich gegen Chávez im Jahr 2002 gezeigt hat, zu was sie in der Lage ist. Die Kräfte, denen die Entwicklungen zu staats- und Chávez-zentriert, von „oben“ angegangen bis militaristisch sind, sehen neben den materiellen Verbesserungen für viele verarmte Bevölkerungsteile jedoch die starke soziale Kontrolle bzw. spüren sie am eigenen Leib. Auch das Projekt der lateinamerikanischen Integration („Bolivarianische Alternative für die Amerikas“, ALBA, oder einprägsamer „Die Achse des Guten“ wie Chávez sein Projekt nennt) wird neben begrüßenswerten Dimensionen durchaus kritisch betrachtet, da es keine grundlegenden Alternativen zum bestehenden Wachstums- und Energieverbrauchsmodell darstellt. ALBA gewinnt etwa mit dem jüngst verkündeten Bau einer kontinentalen Gaspipeline Konturen. Dass das Modell der „anti-imperialistischen“ bolivarianischen Revolution Venezuelas auf Erdölexporten u.a. in die USA basiert, wurde kaum thematisiert. Eine Kritik an dieser Perspektive wurde bei der Auftaktdemo deutlich: „Eine Revolution wird nicht aus den Steuern von transnationalen Konzernen finanziert!“ Die Ablehnung der von der Regierung tolerierten Praxis, von transnationalen Bergbaukonzernen, Bodenschätze in indigenen Territorien abbauen zu lassen, war am Rande immer wieder zu hören. Das sollte keinen Anlass zum Naserümpfen geben, sondern bringt einen auf den Boden widersprüchlicher linker Politik in Lateinamerika zurück. Die zentrale Frage ist, ob und wie diese Widersprüche produktiv bearbeitet werden – Spielräume schaffend, Kräfteverhältnisse zugunsten der Subalternen verschiebend, Selbstorganisation zulassend, einen effektiven Staat konstruierend, ohne ihn zum Zentrum des Politischen zu machen, den starken Staat aus bestimmten Bereichen zurücknehmend.

De facto ist, so die Soziologin Margarita López-Maya von der Universität in Caracas und Mitorganisatorin des Forums, der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ in Venezuela ein renovierter Staatskapitalismus. Die Verfassung Venezuelas von 1999 ähnelt in vielen Bereichen jener von 1961, einer Verfassung aus den Hochzeiten von Entwicklungsstaat und Importsubstitution. Das ist natürlich wichtig, denn die Erfahrungen mit Privatisierungen in Lateinamerika sind größtenteils desaströs. Aber damit sind auch Grenzen bestimmt.

Es ist sicherlich übertrieben zu behaupten, dass die Regierung Venezuelas das Forum zu instrumentalisieren versuchte (obwohl diese Gefahr im Vorfeld allenthalben gesehen wurde). Aber eine klare Trennung wurde auch nicht aufrechterhalten – und zwar von beiden Seiten. Das fing an bei den Computern im Pressezentrum, deren Startseite nicht das WSF, sondern eine Regierungsadresse darstellte und ging bis zu einer immensen P.R.-Messe unterschiedlicher Ministerien neben dem zentralen Veranstaltungsort zu den Erfolgen der Regierung Venezuelas. Und es endete mit der Schlussveranstaltung (siehe unten). Ein „breites, partizipatives und demokratisches Forum“, so der Anspruch, war dieses nicht. Eine bislang unbeantwortete Frage ist, warum so wenig Menschen aus Venezuela an dem Forum teilnahmen und weshalb unabhängige linke Kräfte offenbar kaum an der Programmgestaltung beteiligt waren.

Schließlich: Die Spanisch verstehenden ausländischen TeilnehmerInnen bekamen auch ein Bild von dem politisch gespaltenen Land in Gestalt einer denunziatorischen Berichterstattung in den oppositionellen Medien: Die Regierung Venezuelas würde die Reise der „Ideologietouristen“ bezahlen, im Jugendcamp würden sich wohlhabende Erste-Welt-Jugendliche für einen US-Dollar eine Woche lang ein schönes Leben machen.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Das WSF benötigt die Unterstützung der jeweiligen lokalen Regierungen am Veranstaltungsort – und besser noch der nationalen. In Porto Alegre und im dortigen Bundesstaat Rio Grande do Sul stellte während der ersten drei WSF die brasilianische Arbeiterpartei (PT) die Regierung. Als dies 2005 nicht mehr der Fall war, waren die finanziellen und organisatorischen Probleme enorm. Insofern ist die Beteiligung der venezuelanischen Regierung nicht per se problematisch und die neun Millionen Dollar finanzielle Unterstützung willkommen (zum Vergleich: Die Regierung Malis unterstützte das WSF in Bamako mit etwa 20.000 Euro). Trotzdem drohte das Forum an vielen Stellen, z.B. in der Außenwahrnehmung wie auch in wichtigen politischen Orientierungen vereinnahmt zu werden. Im Gegensatz zu früheren WSF waren dieses Jahr Regierungsmitglieder nicht in formal ausgelagerten special events vertreten, sondern direkt auf den Veranstaltungen des Forums, was den in der Charta des WSF formulierten Prinzipien widerspricht. Ein „alternatives Forum“, auf dem vor allem Filme gezeigt und einige wenige Veranstaltungen organisiert wurden, blieb völlig unbeachtet.

Produktive Dynamiken

Das Weltsozialforum in Caracas war in vielerlei Hinsicht, wie auch seine Vorgänger, Ausdruck sich verdichtender „glokaler“ sozialer Bewegungen. In den zahlreichen Workshops und Strategietreffen wurde deutlich, dass in den letzten Jahren Vertrauen und Erfahrungswissen entstanden sind. Das Forum sichert, auch über die thematischen und kontinentalen, landwesweiten und lokalen Veranstaltungen, einen kontinuierlichen Erfahrungsaustausch, politische Debatten und die Koordination von Kämpfen. Es entsteht ein Wissen um die jüngsten Entwicklungen wie den „Krieg gegen den Terror“, die allgemeinen und spezifischen Dynamiken neoliberaler Globalisierung oder die unglaublich schnelle Verbreitung von gentechnisch verändertem Saatgut in Lateinamerika (allen voran Brasilien und Argentinien). Die in Porto Alegre noch spürbare gute Stimmung wurde allerdings durch die dezentralen Örtlichkeiten (ohne eigene Transportverbindungen) und eine starke Präsenz des Militärs eingeschränkt. Das Forum war an manchen Veranstaltungsorten – insbesondere ein Militärflughafen mit Zelten für Zehntausende von TeilnehmerInnen – zudem deutlich überdimensioniert.

Der enorme kollektive Lernprozess, insbesondere in Lateinamerika, ist für TeilnehmerInnen spürbar, wenngleich von außen wenig offensichtlich: Praxen von Dialog und Anerkennung, die nicht-vertikale Form der Organisierung, die Ablehnung der Kontrolle durch bestimmte Strömungen stellen eine neue Politikform dar. Die Dynamik der lateinamerikanischen Bewegungen wird in den verschiedensten Formen konkret. Auf dem WSF werden die vielfältigen anti-neoliberalen und anti-imperialen Widerstände und Alternativen nicht nur repräsentiert, sondern sie verbinden sich miteinander. Der Austausch blieb häufig jedoch sprachlich „eingehegt“, d.h. in Caracas weitgehend auf Spanisch und Portugiesisch beschränkt.

Das bedeutet nicht, dass es keine Hierarchien gäbe. Die gibt es zuhauf und sie sind vielfach informell und undurchsichtig. Daher wird die Demokratisierung des WSF eine Aufgabe der kommenden Jahre sein. Nähmen diese Entwicklungen überhand, dann würden bestimmte Strömungen nicht mehr teilnehmen. Ob das von den dominanten Kräften in Kauf genommen wird bzw. sich bestimmte Positionen als dominante gegen die Zustimmung relevanter anderer durchzusetzen vermögen, das ist eine der wichtigsten Fragen des WSF.

Das Forum war, wie bereits im vergangenen Jahr, entlang verschiedener thematischer Achsen organisiert: Die Frage von Macht, Politik und Emanzipation; imperiale Strategien und Widerstand; Ressourcenkonflikte und Alternativen dazu; Diversität und Identität; Arbeit, Ausbeutung und Reproduktion des Lebens sowie Kommunikation, Kultur und Bildung. Seit 2002 gibt es die „transversalen Achsen“ Gender und Diversität, die sich aber nicht wirklich in den Veranstaltungen finden. Zentrale Themen, soweit sich diese jenseits subjektiver Eindrücke aus den fast 2.000 Veranstaltungen und unüberschaubar vielen kulturellen Events herausdestillieren lassen, waren der Krieg im Irak und die Militarisierung in Lateinamerika, Freihandel, Privatisierungen vor allem von Wasser sowie Kämpfe um Land. Auf das immer wieder diskutierte Verhältnis von Staat, Parteien und Bewegungen gehe ich noch ein. Großes Aufsehen erregte die Teilnahme der US-Soldatenmutter Cindy Sheehan, die eine sofortige Beendigung des Krieges im Irak fordert. Einen höheren Stellenwert als bei den WSF in Porto Alegre nahmen die Kämpfe indigener Völker ein, die im Weltsozialforum (das gleichzeitig das zweite amerikanische war) einen wichtigen Raum des Austauschs gefunden haben. Übergeordnetes Feindbild war die derzeitige Regierung der USA.

Ein auf früheren WSF wenig verwendeter Begriff hatte in diesem Jahr große Bedeutung: Sozialismus. Der Begriff, oft als Worthülse verwendet, aber teilweise auch jüngste Erfahrungen aufnehmend, scheint wieder attraktiv zu werden. Aus europäischer Sicht war interessant, dass eigene Workshops eher von parteinahen Stiftungen und Nichtregierungsorganisationen organisiert wurden. Mitglieder von Attac waren zwar als TeilnehmerInnen in Caracas vertreten, kaum aber als Veranstalter im Programm. Vielleicht hat das neben den stark an Lateinamerika ausgerichteten Inhalten damit zu tun, dass die allgemeinen Bildungsaspekte – ein Grundanliegen von Attac – eine abnehmende Rolle spielen im Vergleich zu den spezifischeren Themen.

An der Methodologie wird weiterhin gearbeitet: In vielen Arbeitsgruppen wurde das Schema Vortrag-Diskussion nicht durchbrochen. Die kleinen konzentrierten Workshops zu verschiedensten Themen sind jedoch weiterhin das Interessanteste. Der konkrete Erfahrungsaustausch zu spezifischen Fragen und Strategien gelingt meinem Endruck nach ganz gut. Ambivalent bleibt die Rolle der Promis. Häufig müssen sie ohnehin vor Abschluss der Veranstaltung zur nächsten eilen. Wenig produktiv bleiben wie bei den vorherigen Treffen die großen Podien. Das blieb meist formelartig und langweilig. Die gute Idee, in Abendveranstaltungen mit bekannten und informierten Leuten den vielen Themen des WSF einen konzeptionellen Rahmen zu geben, wurde nicht umgesetzt. Selten tauchen neue Gedanken auf, Kontroversen werden systematisch vermieden. Vieles blieb völlig widersprüchlich nebeneinander stehen. Und gerade in Caracas wurde deutlich, wie wichtig gute Kontroversen wären. Die Stars der globalisierungskritischen Szene wiederholen ihre Messages. Man hat den Eindruck, dass einige Veranstaltungen auf dem 6. WSF eher routiniert und häufig wenig geplant „durchgezogen“ wurden.

Konturen des Post-Neoliberalismus (in Lateinamerika)

Immer sichtbarer werden die Erfolge der vielfältigen anti-neoliberalen Kämpfe. Eine „post-neoliberale Agenda“ wird nicht nur postuliert, sondern sie findet in den verschiedenen Kämpfen ganz konkret statt. Ein Dilemma emanzipativer Bewegungen liegt in vielen Ländern auf der Hand: Die fehlende Vermittlung von Bewegungen in das politisch-institutionelle System, also auch zu Parteien. Staatliche Politiken zu verändern, so ein weitgehender Konsens, ist wichtig. Und die nicht-neoliberalen und tendenziell linken Regierungen in Venezuela, Brasilien, Argentinien, Uruguay, Bolivien und bald Chile sowie eventuell noch in diesem Jahr in Peru und Mexiko sind – bei allen Differenzen und Enttäuschungen insbesondere in Brasilien und Uruguay – Ausdruck des Scheiterns neoliberaler Politik wie auch der Politisierung dieses Scheiterns und des Insistierens auf Alternativen. Die Politisierung neoliberaler Politik führt dazu, dass transnationale Unternehmen in manchen Bereichen wie etwa der privaten Ölförderung oder Elektrizitäts- und Wasserversorgung unter Druck geraten. Was darauf jedoch politisch-strategisch folgt, ist offen. Der einflussreiche brasilianische Intellektuelle Emir Sader gab den Ton an: Alternativen würden heute sichtbar von den progressiven Regierungen formuliert und nicht vom WSF. Immer wieder fiel der Begriff einer „Folklorisierung des WSF“, d.h. der Entwicklung zum einflusslosen Happening.

Auf einem Weltsozialforum als Treffen sozialer Bewegungen und Organisationen wird nicht einer naiven Staatsillusion auf den Leim gegangen. Der wichtigste politische Eindruck ist vielmehr, dass sich die – meines Erachtens notwendige – Spannung zwischen Bewegungen und progressiven Regierungen abzubauen scheint. Was ich im vergangenen Jahr als irritierenden Eindruck geschildert habe, wurde dieses Jahr zumindest in Lateinamerika deutlich. Es bildet sich eine Art „anti-neoliberales Projekt“ heraus, das sich an den progressiven Regierungen orientiert. Nationale Souveränität, Emphase gegenüber der Patria (Heimatland) und Anti-Imperialismus sind die – nationalen – Orientierungen, in denen sich viele Aktive wiederfinden. „Für Würde und Souveränität. Patria oder Tod“ – so lautet ein Motto von Hugo Chávez, hinter dem sich viele offenbar wieder finden. Ergänzt wird dies um das oben erwähnte Projekt einer lateinamerikanischen Integration. Es wird teilweise bereits von einem „südamerikanischen Konsens“ gegen den berühmt-berüchtigten neoliberalen „Washington Konsens“ gesprochen. Teil der politisch-strategischen Veränderungen ist auch die Bedeutung, die Kuba in diesem Prozess gegeben wird. Von dort werden Ärzte in andere Länder geschickt und ein Journalist hob hervor, dass sich das Land aufgrund des Embargos zum gefragten „low-tech-Meister“ etwa in bildungs- und gesundheitspolitischen Fragen entwickelt hat. Theoretischer Ausdruck der aktuellen Entwicklungen ist die wieder stärker rezipierte und in Diskussionen angewendete, teilweise reformulierte Dependenztheorie.

Das Problem liegt darin, dass in der am Staat orientierten „post-neoliberalen Agenda“, die wichtig genug ist, andere Erfahrungen ausgeblendet werden. So waren etwa die Anregungen der mexikanischen Zapatistas hinsichtlich eines anderen Politikverständnisses kaum präsent. In einem einzigen Workshop wurde das Verhältnis der Erfahrungen in Chiapas bzw. Mexiko und Venezuela diskutiert. Und dabei ging es sofort richtig zur Sache. Auf der einen Seite stellten John Holloway und Raul Ornelas aus Mexiko die vorsichtigen, suchenden, mit Rückschlägen behafteten Entwicklungen in Mexiko dar. Von Anfang an ging es um die Veränderung von konkreten Lebensverhältnissen, eine Politik gegenüber dem Staat ist gescheitert. Die im Januar gestartete „andere Kampagne“, in deren Rahmen der Subcomandante Marcos als „Delegierter Nr. Null“ sich in ganz Mexiko mit sozialen Bewegungen trifft, stellt einen Kontrapunkt zum Wahlkampf in Mexiko dar wie auch zur Euphorie bezüglich der linken Regierungen in Lateinamerika. Die staatliche Logik, so die Erfahrung der Zapatistas, bleibt unterwerfend und ausschließend. Die Spielregeln der Gesellschaft selbst müssen geändert werden. Das werde mit den Juntas del Buen Gobierno (etwa: Leitungsstab guter Regierung) versucht, in denen jeder für eine Zeitlang gehorchend regieren soll. Regieren kann nicht das Geschäft von spezialisierten PolitikerInnen sein. Ist Venezuela, so Holloway, eine spezifische Hoffnung und Perspektive gesellschaftlicher Veränderung, die andere Hoffnungen und Perspektiven abwertet? Staat und Regierung müssten, das zeigen etwa die Entwicklungen in Chiapas, unterschieden werden.

Auf der anderen Seite argumentierte der ehemalige stellvertretende Planungsminister Roland Denis, dass es im Fall Venezuela zuerst um die drängenden Bedürfnisse der Armen geht und dafür sowohl der Staat, das Militär wie auch gegebenenfalls vertikale Organisationsprozesse wichtig sind. Element des WSF war auch bei dieser Diskussion, dass es in einer hitzigen Debatte weniger um „Wahrheit“ geht, sondern um die Verständigung sehr unterschiedlicher Sichtweisen.

Deutlich wurde die Stärkung einer staatsorientierten politisch-strategischen Perspektive insbesondere bei der Schlussveranstaltung. Das „Treffen der Versammlungen der sozialen Bewegungen“ fand zwischen achtzig Eingeladenen und Präsident Chávez in einem Militärzentrum statt und wurde live vom neuen Sender Televisión del Sur, kurz: Telesur übertragen.1 In Kurzbeiträgen von VertreterInnen sozialer Bewegungen wurden Bitten an den „lieben Herrn Präsidenten“ formuliert. So soll dieser etwa die anstehenden WTO-Verhandlungen blockieren, um die Ergebnisse der Ministerkonferenz von Hongkong festzuzurren (vorgetragen von Walden Bello). Anschließend sprach zwei Stunden lang Chávez „als einer von euch“, aber eben doch als Präsident. Er begründete die Notwendigkeit einer am Wohle des Volkes orientierten Armee und die von ihm sehr intensiv betriebene Süd-Süd-Kooperation. Kritisch zu betrachten sind jedoch weniger die Inhalte als vielmehr die Symbolik. Der aus Sicht vieler derzeit progressivste Präsident der Welt doziert vor den globalen sozialen Bewegungen und umarmt sie. Sein expliziter Vorschlag lautet, dass die Bewegungen eine „strategische Allianz“ mit den progressiven Regierungen eingehen sollten.

Das WSF selbst verabschiedete eine Resolution, in der unter anderem dazu aufgerufen wird, für die Beendigung des Krieges im Irak und gegen die zunehmende Militarisierung an vielen Orten dieser Welt am 18. März zu mobilisieren. Auch die Umsetzung der WTO-Beschlüsse von Hongkong sollen verhindert werden – dazu sind Regierungen nötig und es wird interessant sein, wie die Regierung von Venezuela in den kommenden Wochen agieren wird.

Wie weiter?

Dieser Schlussakt wird hoffentlich für heftige Diskussionen sorgen. Das WSF ist kein „Machtfaktor“, wie sich einige der Macher das vorstellen. Sie schlagen vor, das Forum zu einem Akteur zu machen, der auf die drängenden Fragen Antworten findet. Samir Amin und Bernard Cassen vertreten diese Position. Worin die Antwort besteht, ahnt man: in stärkerer Kooperation mit progressiven Regierungen. Bereits am vierten Tag des Forums wurde der Präsident Venezuelas von sozialen Bewegungen eingeladen – Tausende kamen und auf dem Podium saßen neben Chávez vierzehn Promis. Europa war durch Bernard Cassen und Ignacio Ramonet vertreten. Aber außer dem brasilianischen Befreiungstheologen Leonardo Boff sprach niemand im Namen des WSF; den Großteil der Zeit beanspruchte der venezuelanische Präsident. Die Ikonen des WSF als Dekoration für die Ikone progressiver Regierungen? Die Symbolik ging hier bereits gründlich schief.

Deshalb könnte sich das „chavistische Weltsozialforum“ in Caracas als Bumerang herausstellen. WSF-Mitbegründer Cándido Grzybowski von der brasilianischen NGO IBASE pocht auf Differenz zu den Regierungen. Gleichzeitig scheint es ein Wissen darüber zu geben, dass ohne Offenheit und Streit, aber auch Konsens und produktive Ideen das WSF schnell entschieden geschwächt werden könnte.

Das Forum ist von großer Βedeutung für viele Bewegungen und hat sich als Kontrapunkt der Bewegungen zum Weltwirtschaftsgipfel in Davos etabliert. Es durch Staatsnähe stärken zu wollen, wird es schwächen, denn zu viele Kräfte finden sich nicht dabei wieder. Spannend bleibt, dass – entgegen der öffentlichen Wahrnehmung – viele diese Umarmung gar nicht mit sich machen lassen. Die internationale Repräsentation des Forums entspricht so gar nicht der Vielfalt. Die meisten Anwesenden kommen aus Praxiszusammenhängen, die je spezifisch mit staatlichen Akteuren umgehen müssen. Da mögen sich in Bolivien oder Venezuela Spielräume öffnen, in Kolumbien aber nicht und die Erfahrungen in Brasilien, Argentinien und Uruguay sind, gelinde gesagt, ambivalent. Es bleibt trotz der misslungenen Staatsnähe dennoch viel Raum der Verdichtung und Reflexion von Erfahrung, der Strategiebildung, der Rückwirkung in vielfältige Kontexte. Dass dabei Bewegungen in Richtung Staat kanalisiert und tendenziell kontrolliert werden, kann nicht das Anliegen des WSF sein und würde auch gar nicht gelingen. Das spezifische Verhältnis von Staat, Parteien und Bewegungen wird auf hohem Niveau und erfahrungsbasiert reflektiert. Und das sollte so bleiben. Dennoch strahlt die dominant werdende Orientierung am Staat und die damit verbundene Abwertung jener Kämpfe um die Veränderung anderer gesellschaftlicher Verhältnisse aus.

Entsprechend gibt es unter den Machern des WSF, versammelt im sogenannten Internationalen Rat (in dem etwa 160 Organisationen vertreten sind), heftige Auseinandersetzungen um die zukünftige Entwicklung. Die einen wollen es als politischen Akteur mit klaren Positionen etablieren, es soll sich einmischen und Orientierung stiften. Das ist bei Positionen wie gegen Krieg und Militarisierung, gegen die WTO oder gegen Privatisierung auch nicht umstritten. Andere sehen jedoch eine Gefahr darin, dass ein Forum, das sich zu vielen Sachverhalten äußert, das Konsensprinzip verlassen würde und damit auf mittlere Sicht seine Attraktivität verlieren könnte. Warum sollte sich die starke indigene Bewegung Boliviens vom Chefredakteur der Le Monde Diplomatique ihre Orientierungen vorgeben lassen? Weshalb soll es nur um die „großen Strategien“ gehen, die dann von progressiven Regierungen verfolgt werden sollen? Was bringt, allgemeiner gefragt, die einseitige Ausrichtung an Realpolitik und Pragmatismus? Ist wirklich bei allen Fragen die USA der Hauptgegner? Wo bleiben grundlegende Kritik und die Option auf Alternativen, bei denen nicht immer schon der Staat mit im Boot ist? Oder der Empfehlung von Chávez für das WSF folgen, sich stärker einzumischen angesichts der Alternative „Sozialismus oder Tod“?

Damit stellt sich unter anderem die Frage nach der Repräsentation des Forums. Im vergangenen Jahr gab es für eine Schlusserklärung über 350 inhaltliche Vorschläge. Dies veranlasste 19 Intellektuelle, ein „Manifest von Porto Alegre“ mit einigen wenigen Punkten zu verfassen. Dieses Manifest war dann in der Öffentlichkeit das „Ergebnis“ des WSF 2005. Dieses Jahr wurde die Schlusserklärung des gesamten Forums von der „Versammlung der sozialen Bewegungen“ auf weniger Punkte konzentriert.

Den Titel dieses Beitrages habe ich deswegen mit einem Frage- und Ausrufezeichen versehen, weil darauf insistiert werden sollte, dass das WSF und die vielen anderen Sozialforen keine einfachen Events sind. Es handelt sich um komplexe Räume des Austauschs. Das Weltsozialforum benötigt, wie auch die Pendants auf kontinentaler, landesweiter und lokaler Ebene, die ständige Vergewisserung in einem offenen Prozess. Es geht darum, was damit angestrebt wird, welche Formen angemessen sind, wie ein gewisses Maß an Handlungsfähigkeit ohne Zentralisierung hergestellt wird, inwiefern politische Effektivität ohne Verlust an Autonomie der das Forum tragenden Bewegungen und Organisationen erreicht wird. Ungelöst, so Edgardo Lander vom Vorbereitungskomitee in Caracas, bleibt auch die Frage, wie gerade jene marginalisierten und sich wehrenden Sektoren am WSF teilnehmen können, die als letzte über die materiellen Ressourcen für eine Teilnahme verfügen. Was ansteht, so die Forderung vieler angesichts einer starken Hierarchisierung, ist die Demokratisierung des Forums.

Das Weltsozialforum 2007 findet Ende Januar wieder an einem einzigen Ort, nämlich in Nairobi statt. Ob es dann dauerhaft nach Porto Alegre kommt, weiter wandern wird, zweijährlich stattfindet und/oder abwechselnd polyzentrisch und zentralisiert, das wird derzeit diskutiert. Eine Erfahrung ist, dass das direkt vor Caracas in Bamako stattfindende WSF so gut wie keine Rolle gespielt hat. Für mich irritierende Äußerungen wie jene von Atilio Boron, Direktor von CLACSO, dass „der entscheidende Kampf gegen den Neoliberalismus“ in Lateinamerika geführt werden wird, deuten auf die Option Porto Alegre hin.

In Nairobi wird der Hype um das Verhältnis zu progressiven Regierungen abklingen. Allerdings sollte die Wirkungsmacht dieser für einige alternativlosen „Option“, eben das „strategische Bündnis“ mit eben solchen Regierungen, für die globalisierungskritischen Bewegungen nicht unterschätzt werden. Wenn eine Aufgabe der Sozialforen darin liegt, politische Debatten voranzutreiben, dann könnte man das Treffen in Caracas positiv deuten als eines, das jede Menge Stoff für diese Diskussionen liefert, die jedoch nun weiter entwickelt müssen.

Die Frage bleibt: Wie werden grundlegende und emanzipatorische gesellschaftliche Veränderungen unter Bedingungen der herrschaftsförmigen Internationalisierung von Politik, Ökonomie und Kultur erreicht? Das WSF hat sich zu einem Raum entwickelt, um über diese Frage zu reflektieren und sie anzugehen. Es motiviert ungemein, von all den Kämpfen in der Welt unter den unterschiedlichsten Bedingungen zu erfahren. Es bilden sich konkrete Zusammenhänge heraus. Dafür ist das WSF, die dort stattfindende Verdichtung wie auch seine Rückwirkung auf so viele Bereiche, unverzichtbar.

Anmerkungen

  1. Telesur ist seit Juni 2005 eine Art, von den Regierungen Venezuelas (die 70Prozent der Kosten trägt), Argentiniens, Brasiliens, Uruguays und Kubas promoviertes, Gegenprojekt zu CNN. Interessanterweise wurde Telesur auch deshalb so schnell bekannt, da es von Beginn an scharf von der US-Regierung kritisiert wurde. Ende 2006 will der Sender zehn Millionen ZuschauerInnen haben. Zudem gewinnen eine lateinamerikanische Presseagentur (ALAI) und Community-Radios an Bedeutung.Zurück zur Textstelle
© links-netz Februar 2006