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Gut gemeint?

Der sogenannte „Fall Edathy“: Ein Sargnagel für den Rechtsstaat

Oliver Brüchert

Was gibt es noch zu sagen zu einer Affäre, zu der schon viel zu viel und somit fast alles gesagt ist? Die öffentliche Empörung kreist vor allem um die Fragen, wer wann was gewusst hat und ob Herr Edathy gewarnt wurde, dass gegen ihn ermittelt werden könnte. Es geht um Vorwürfe von Geheimnisverrat und Strafvereitelung sowie um die fragwürdige Öffentlichkeitsarbeit von Ermittlungsbehörden im Zusammenhang mit prominenten Tatverdächtigen. Und es geht – wieder einmal – um verschärfte Strafgesetze nachdem offenbar wurde, dass der Kauf und Verkauf von Nacktbildern von Kindern hierzulande nicht strafbar ist sofern die Bilder selbst nicht pornographischer Natur sind.

Wesentlich seltener sind die Stimmen, die darauf hinweisen, dass bereits die Einleitung der Ermittlungen Fragen aufwirft, die auf eine grundlegende Erosion des Rechtsstaates hindeuten, wenn auf der Grundlage bloßer Spekulation (wer Nacktbilder von Kindern bestellt, bestellt auch Kinderpornos) Ermittlungen eingeleitet werden und Richter auf dieser Grundlage Durchsuchungsbeschlüsse genehmigen. Darunter einige F.D.P.-Politiker, die sich in ihrer neuen Rolle als außerparlamentarische Opposition darauf besinnen, dass „liberal“ einmal für etwas anderes stand als für Unternehmenslobbyismus und Steuersenkungspolitik und zumindest auf die nach wie vor geltende strafrechtliche Unschuldsvermutung hinweisen. Heribert Prantl findet in der Süddeutschen Zeitung deutlichere Worte: „Eine unzulässige Durchsuchung, von der man weiß, dass sie die Integrität eines Menschen dauerhaft vernichtet, verstößt gegen das Übermaßverbot, gegen jede Verhältnismäßigkeit, verletzt also die Integrität des Rechtsstaats. (...) Das ist Missbrauch des Strafrechts.“

So gesehen gibt es bis dato keinen „Fall Edathy“ weil außer Spekulationen kein strafrechtlich relevanter Vorwurf bekannt ist. Noch sehr viel gravierender wäre allerdings der Schaden für den Rechtsstaat, wenn im Zuge der Ermittlungen doch noch strafrechtlich relevantes Material zutage träte. Das würde der Praxis verdachtsunabhängiger Kontrollen und Ermittlungen weit über die bereits vorhandenen Gesetze zur Terrorismusbekämpfung hinaus zusätzliche Legitimation und rechtsstaatliche Weihen verschaffen. Die Folge wäre nicht nur eine neue Welle von Strafrechtsverschärfungen, wie sie jetzt schon vielfach gefordert werden, sondern auch eine weitere Ausdehnung des Überwachungsstaates, der ohnehin schon tief in die Persönlichkeitsrechte und Privatsphäre Unbeschuldigter vorgedrungen ist. Von der NSA-Affäre wird so oder so nicht mehr im kollektiven Gedächtnis haften bleiben als die Empörung darüber, dass es „die Amerikaner“ waren, die „uns“ ausspioniert haben statt die eigenen Geheimdienste, denen wir freimütig alle notwendigen Rechte einräumen. Im vorliegenden Fall funktionierte der Austausch zwischen den Behörden anscheinend wieder reibungslos – abgesehen von der Tatsache, dass nun alles an die Öffentlichkeit gezerrt wird. Es spioniert sich eben ungestörter im Geheimen.

Die Frage, welches Licht die Affäre auf das Rechtsstaatsverständnis des politischen Führungspersonals wirft, wurde zwar ausgiebig behandelt und hat zum Rücktritt von Landwirtschaftsminister Friedrich geführt. Weitgehend unwidersprochen blieb dabei jedoch die abenteuerliche Volte mit der Herr Friedrich sein Verhalten im Nachhinein rechtfertigt: er habe es gut gemeint, weil er den Koalitionspartner in spe davor schützen wollte, Herrn Edathy mit einer herausragenden Position zu versehen. Dafür erhielt er viel Zuspruch nicht nur aus den Reihen der SPD. Ein Rufmord an einem Politiker, der dem früheren Innenminister und den Geheimdiensten als Vorsitzender des NSU-Untersuchungsausschusses nicht nur Freude bereitet haben dürfte, als edle Tat oder ehrenhafte Pflicht gegenüber der SPD-Spitze? Noch fragwürdiger wird dieses Vorgehen, indem Herr Friedrich um den Vorwurf der Strafvereitelung auszuräumen betont, dass er, als er die Genossen von möglichen Ermittlungen in Kenntnis setzte, zugleich darauf hingewiesen habe, dass es sich nicht um strafrechtlich relevante Vorwürfe handele. Die SPD bedankt sich, bedauert öffentlich den Rücktritt von Minister Friedrich und zeigt sich heilfroh, dass sie früh genug gewarnt wurde, um Herrn Edathy bei der Verteilung der Spitzenämter im Zuge der Regierungsbildung außen vor zu lassen. Dabei wären die Sozialdemokraten doch gut aus dem Schneider gewesen, wenn Herr Friedrich sie gar nicht erst in Kenntnis gesetzt hätte, dass da etwas kommen könnte. Erst dadurch, dass er sie zu Mitwissern gemacht hat, mussten sie Herrn Edathy fallen lassen, weil sie sonst bei möglichen künftigen Enthüllungen nicht mehr hätten behaupten können, sie hätten nichts gewusst – jedenfalls nicht ohne Gefahr zu laufen, dass Herr Friedrich das als Lüge enttarnt. Der vermeintliche Freundschaftsdienst war unabhängig von seiner strafrechtlichen Bewertung äußerst zweifelhafter Natur.

Blöd ist nur, dass die Naturgesetze des Tratsches auch im politischen Berlin gelten: Jeder erzählt es unter dem Mantel absoluter Verschwiegenheit nur an ein oder zwei Menschen weiter und schon wissen alle bescheid. Das offenbart neben der naheliegenden Vermutung, dass Herr Edathy gewarnt worden sein könnte, einen grundlegenden Mechanismus der repräsentativen Demokratie unter kulturindustriellen Bedingungen: Sofern es sich nicht um Steuerhinterziehung oder Schwarzgelder handelt, genügt ein gut platziertes Gerücht über private Verfehlungen (unabhängig von der Frage der strafrechtlichen Relevanz), um eine politische Karriere zu zerstören. Ein Kodex der offensichtlich über Parteigrenzen hinweg gilt. Die vermeintliche Moral steht höher als das Recht. Dieses Selbstverständnis der herrschenden politischen Klasse kommt auch darin zum Ausdruck, dass Herr Oppermann – unabhängig vom genauen Inhalt des Gesprächs – meint, es sei geradezu seine Aufgabe, sich beim BKA persönlich darüber zu informieren, was denn dran sei an den Gerüchten. Die Reaktionen zeigen, dass derlei Anrufe als selbstverständliches Tagesgeschäft betrachtet werden. Gewaltenteilung adé! Unterstützt wird so ein Selbstverständnis schließlich auch von Ermittlungsbehörden, die selbst immer stärker in die Öffentlichkeit drängen und Informationen nicht nur an die Politiker durchstecken, sondern auch an die Presse.

Dieser Mechanismus funktioniert besonders gut, wenn die tangierten moralischen Überzeugungen auf ungeteilte öffentliche Zustimmung treffen, was bei Kinderpornographie fraglos der Fall ist. Niemand schwingt sich dazu auf, dergleichen rechtfertigen zu wollen. Allenfalls wird davor gewarnt, dass der verbreitete Ruf nach schärferen Strafgesetzen zu rechtlichen Grauzonen führen könne, in denen unbescholtene Eltern ihre Kinder nicht mehr nackt fotografieren oder am Strand herumlaufen lassen können. Vereinzelt wird auch darauf hingewiesen, dass ein hysterischer Umgang mit diesem Thema dazu angetan sei, die durchaus positiven Errungenschaften der sexuellen Befreiung ebenfalls zunichte zu machen und zu Prüderie und Doppelmoral auf dem Niveau der 50er Jahre zurückzukehren. Silke Burmester warnt im Spiegel Online vor einem drohenden „Verlust des Grundvertrauens“ und von „Körperlichkeit“ im Umgang mit Kindern, wendet sich aber zugleich scharf gegen die „Täter (...), die übers Netz Kinderfickermaterial bestellen“. Denen sei jedoch nicht mit härteren Strafen beizukommen, sondern indem man ihnen helfe, „mit ihrer Neigung zu leben, ohne zum Täter zu werden.“ Es ist mehr als unwahrscheinlich, dass diese Sicht auf die Dinge sich durchsetzt angesichts eines gesellschaftlichen Klimas, in dem die Aufklärung über verschiedene sexuelle Neigungen im Schulunterricht zum Anlass einer großangelegten homophoben Kampagne wird, in dem jegliche Forderung nach Straffreiheit mit Befürwortung wenn nicht gar Förderung der betreffenden Handlungen gleichgesetzt wird und in dem die Assoziationskette „sexuelle Befreiung = Pädophilie = Kindesmissbrauch“ anhand der Empörung über jahrzehntealte Äußerungen von Grünen-PolitikerInnen kürzlich noch einmal gefestigt wurde.

Gestärkt wird durch die Affäre wieder einmal der Glaube daran, dass moralische Normen am besten mit strafrechtlichen Mitteln zu verteidigen seien – und zwar unabhängig davon, ob die geforderten Verschärfungen tatsächlich umgesetzt werden. Neben dem Einwand, dass es dem Rechtsstaat nicht gut bekommt, wenn das Strafrecht zu einem Moralrecht wird, wie es Heribert Prantl in dem oben erwähnten Beitrag noch einmal herausarbeitet, gerät zunehmend in Vergessenheit, dass schärfere Gesetze und härtere Strafen auch gar nicht in der Lage sind, moralische Probleme zu lösen. Man muss nicht die trotz rigider Strafmoral überfüllten Gefängnisse in den USA bemühen, um zu verdeutlichen, dass unerwünschte Handlungen durch eine Expansion des strafrechtsindustriellen Komplexes nicht in den Griff zu bekommen sind. Nirgends auf der Welt gibt es eine empirische Evidenz dafür, dass durch härtere Strafen die entsprechenden Delikte zurückgehen. Häufig ist der umgekehrte Effekt zu beobachten, was freilich auch auf eine intensivere Verfolgung zurückgeführt werden kann. Gut nachgewiesen ist hingegen der Zusammenhang zwischen Moralkampagnen und Strafrecht: Immer, wenn es darum geht gesellschaftliche Normen zu etablieren und zu verändern, treten MoralunternehmerInnen auf, die den Verfall derselben beklagen um ein rigideres Durchgreifen zu fordern (Vgl. Cremer-Schäfer/Steinert 1998).

Auch die aktuelle Affäre hat nicht wenige MoralunternehmerInnen auf den Plan gerufen, die fordern man solle vor allem die Kinder nicht vergessen, die Opfer, um deren Schutz es zuallererst gehen müsse. Schon die Gegenfrage, ob den Opfern mit einer Strafrechtsverschärfung geholfen wäre, gerät schnell in den Ruch einer Rechtfertigung des Missbrauchs. Dabei könnte gerade der „Fall Edathy“ darauf aufmerksam machen, dass Probleme nicht dadurch gelöst werden, dass man sie tabuisiert und die Betroffenen in die Illegalität treibt. Je schärfer die Prohibition, desto größer werden die Gewinnspannen auf dem Schwarzmarkt und desto rücksichtsloser gehen die Geschäftemacher vor. Die Einsicht, dass man mit Hilfe statt Strafe nicht zuletzt für die potentiellen Opfer sehr viel mehr erreichen kann, wird einmal mehr übergangen.

Was bleibt ist eine große Koalition, die bereits früh offenbart hat, dass sie ihre Interessen über den Rechtsstaat stellt, eine Justiz und Strafverfolgungsbehörden, die sich – wieder einmal – fragen lassen müssen, wie sie es selbst mit den Grundsätzen halten, die sie schützen sollen, und eine öffentliche Moraldebatte, die schnell auf den wohlfeilen Ruf nach härteren Strafen eingeschwenkt ist. Die sogenannte „Affäre Edathy“ ist ein weiterer Sargnagel für den Rechtsstaat.

Literatur:

Helga Cremer-Schäfer und Heinz Steinert (1998): Straflust und Repression. Zur Kritik der populistischen Kriminologie. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster.

© links-netz Februar 2014