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Mit Schmalspur und Mainstream gegen den Bildungsnotstand?

Oliver Brüchert1

Spätestens seit Veröffentlichung der PISA-Studie, der zufolge deutsche Schüler gegenüber den Gleichaltrigen in anderen Industrieländern enorme Defizite beim Textverständnis aufweisen, ist sie wieder in aller Munde: die Bildungskatastrophe. Der PISA-Schock bezieht sich jedoch nicht – was erst einmal nahe läge – darauf, welch miserable Schulen den Schülern zugemutet werden, vielmehr sorgt man sich um die miserablen Schüler und damit wieder einmal um die Wettbewerbsfähigkeit der Republik, die nicht zuletzt auf den Ressourcen Wissen und Wissenschaft basiert. An den Hochschulen ist dieses Lamento schon vertrauter. Wer hier noch von "Bildung" in einem umfassenden Sinne redet, von Kritik und Emanzipation, wird mitleidsvoll als rückständig belächelt. Statt ein umfassendes Verständnis einer "Hochschule in gesellschaftlicher Verantwortung" voranzutreiben, sind alle hochschulpolitischen Reformen der letzten Jahre von der Grundannahme getragen, dass die Leistung der Hochschulen vor allem darin bestehen solle, der Wirtschaft fachlich hochqualifizierte Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen und ökonomisch verwertbare Forschungsergebnisse zu produzieren. Wir sehen sehr wohl Reformbedarf an den Hochschulen. Deren bürokratischer Wasserkopf lähmt die wissenschaftlichen Aktivitäten, statt sie zu fördern. Die akademische Selbstverwaltung – in der die Professorenmehrheit das Vermächtnis der Ordinarienuniversität ohnehin fortschrieb – wird angesichts der neuen Führungsrolle von Präsidium und Dekanaten endgültig zur Farce. Die Forschung orientiert sich schon längst mehr am Drittmittelaufkommen und einem technologisch verkürzten Fortschrittsmodell statt an gesellschaftlichen Problemen und deren Lösung. (Es erbringt beispielsweise keinen Profit, die Ursachen des Rassismus zu erforschen. Entsprechende politische Begründungsversuche wie in der Rede vom "Ansehen des Wirtschaftsstandortes Deutschland" sind eher geschmacklos.) In der Lehre spielt wissenschaftliches Arbeiten kaum eine Rolle. Als zunehmend standardisierte Massenabfertigung verkommt sie vielerorts zur lästigen Pflicht.

Die Grenzen der Marktlogik

Die Bildungsexpansion der 60er und 70er Jahre war bloß möglich, weil sie wirtschaftlichen Interessen dienlich erschien (Stichwort: Sputnik-Schock). Unter der Ideologie des Neoliberalismus führt diese Marktlogik – die in der Bildungspolitik ohnehin nie widerspruchsfrei umsetzbar war – nicht (mehr) dazu, dass die Hochschulen durch relevante Steigerungen der Bildungsausgaben für den internationalen Wettbewerb fit gemacht werden. Bundespräsident Rau koppelte kürzlich in seiner bildungspolitischen Grundsatzrede die Forderung nach mehr Hochschulabsolventen immerhin noch an die Voraussetzung, dass die dafür benötigten Mittel bereitgestellt werden müssen. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Die Studentenzahlen haben sich im Zuge der Bildungsexpansion seit 1960 mehr als verdreifacht und seit Mitte der 90er Jahre auf hohem Niveau stabilisiert. Dem stand nur kurzfristig eine – wesentlich zaghaftere – Steigerung der Bildungsausgaben gegenüber.2 Das bedeutet für Fächer, die kaum einen Zugang zu den lukrativen Drittmitteln haben, dass sie günstigstenfalls mit der gleichen, meist mit einer schlechteren Ausstattung ein Mehrfaches in der Lehre leisten müssen. An Fachbereichen wie den Gesellschaftswissenschaften in Frankfurt ist die simple Wahrheit sehr spürbar: Die Universitäten werden "kaputtgespart". Dabei sind es nicht einmal die großen Beträge, die fehlen – im Vergleich zu den Naturwissenschaften sind Politologie und Soziologie geradezu lächerlich billig. Es fehlt vielmehr der politische Wille, diese Fächer auch nur halbwegs angemessen auszustatten.

Um beim Beispiel zu bleiben: Gemessen an der offiziellen (also ohnehin sehr oberflächlichen) Kapazitätsberechnung weist dieser Fachbereich im Wintersemester 2001/2002 eine Überlast von mehr als 200% auf. Alle Bemühungen, über ein "Notprogramm" zusätzliche Dozenturen, Vertretungsprofessuren und Lehraufträge einzurichten (es geht um Beträge im unteren fünfstelligen Bereich), blieben erfolglos, stattdessen wurde der Sachmitteletat des Fachbereichs für das Jahr 2002 weiter gekürzt. Dabei hat das Land Hessen entgegen dem erwähnten bundesweiten Trend seinen Bildungsetat in den letzten Jahren aufgestockt und will diesen Kurs in einem "Hochschulpakt" bis 2005 fortsetzen. Den Universitäten stehen jährlich zusätzliche Mittel in zweistelliger Millionenhöhe zur Verfügung. Soweit dieses Geld nicht in der Verwaltung selbst verbraucht wird – dort führt man gerade ein "Internes neues Steuerungsmodell" (INES), verbunden mit der Buchhaltungssoftware SAP, ein und propagiert dessen Vorzüge durch ein farbiges Mitteilungsblatt –, wird es meist in teure Neubauten gesteckt. Z.B am Niederurseler Hang, dem neuen Standort der Naturwissenschaften. Der Neubau für die Physik soll 70 Mio. € kosten und bis 2004 fertig sein, während die Gesellschaftswissenschaften in einem "brandgefährlichen" AfE-Turm3 seit über einem Jahr darauf warten, dass die Uni-Leitung sich zu einer Entscheidung durchringt, wie dieses Provisorium beendet werden soll. (Nebenbei bemerkt steht der Ausbau des Universitäts-Klinikums mit 250 Mio. € zu Buche.) Offensichtlich hat die allseits beschworene Marktlogik hier ihre Grenzen. Den Naturwissenschaften wie auch der Informatik fehlen zwar die Studenten, sie werden dennoch hochgepäppelt. Dies geht auf Kosten der massiv nachgefragten und entsprechend überlaufenen Fächer. Im Vergleich zu den genannten Summen erscheinen die Beträge, die benötigt würden, um Forschung und Lehre in den Geistes- und Sozialwissenschaften zu halbwegs tolerablen Bedingungen zu ermöglichen, geradezu als "Peanuts".

Es handelt sich jedoch keinesfalls nur um ein internes Verteilungsproblem. Das Hessische Hochschulgesetz (HHG) räumt den Hochschulen zwar "Autonomie" in der Mittelverwaltung ein. Die Weichen, wofür diese Mittel verwendet werden sollen, wurden jedoch früher bereits gestellt. Die Schraube wird durch "Leistungsvereinbarungen" weiter angezogen: Forschung wird nur honoriert, wenn damit zusätzliche "Drittmittel" eingeworben werden können.4 Auch als das Land die Mittel noch zuwies, wurde in die gleichen Bereiche investiert, während die weniger imageträchtigen und "rentablen" Fächer von Kürzungen betroffen waren. Die Mittelvergabe orientiert sich ohnehin an der herkömmlichen Verteilung. Trotz der Aufstockung des Bildungshaushaltes reichen die Mittel keinesfalls, um alle angemessen auszustatten. Gleichzeitig erhöht sich der Verwaltungsaufwand. Durch die Anforderung, die eigenen "Ziele" und "Leistungen" ständig auszuweisen und jeglichen Mittelbedarf aufwendig zu begründen, werden zusätzliche Kapazitäten gebunden, die wiederum in der Forschung und Lehre fehlen. Unter den gegebenen Umständen stellt sich "Autonomie" als die Exekution von Sparzwängen heraus, die nun nicht mehr die Politik zu vertreten hat, sondern die Universitäten selber. Der "Hochschulpakt" ist ohnehin an "Zielvereinbarungen" gekoppelt, die den Hochschulen wenig Spielraum zur Verwendung der Mittel lassen.

Zum Beispiel: Hochschulentwicklungsplan

Durch das neue HHG wird die Verwaltung innerhalb der Hochschulen insgesamt mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet. Ihr kommt eine zentrale Rolle bei der Hochschulplanung und der Entwicklung von Zielvorstellungen zu. Jüngstes Beispiel ist der "Hochschulentwicklungsplan" für die Universität Frankfurt. Ausgangspunkt war ein "Perspektivenpapier", das von einer durch den Präsidenten ins Leben gerufenen und durch die Unternehmensberatung McKinsey geleiteten Arbeitsgruppe entwickelt wurde. Darin wird die Universität konsequent behandelt, als wäre sie ein Wirtschaftsunternehmen. Herausgekehrt wird die Bedeutung der Universität als Standortfaktor, ihre Verzahnung mit der Wirtschaft im Rhein-Main-Gebiet und ihre "globale" Orientierung. Die Rede ist von "Qualitätssicherung" – worunter vorrangig ökonomisch verwertbare "Spitzenleistungen" in der Forschung verstanden werden –, "Praxisorientierung", "Internationalisierung" und "Zielvereinbarungen", ohne dass diese Begriffe an irgendeiner Stelle inhaltlich gefüllt würden. Vorgeschlagen wird unter anderem eine an der räumlichen Aufteilung der Universität über vier"Standorte" orientierte Einrichtung von Fakultäten: Naturwissenschaften (Niederursel), Rechts- und Wirtschaftswissenschaften (Bockenheim), Gesellschafts- und Kulturwissenschaften (Westend) und Medizin (Klinikum).

Der "Entwicklungsplan" nimmt die Grundlogik dieser "Vision" auf. In die vorgegebene Struktur sollen sich die Fachbereiche dann mit ihren Forschungsschwerpunkten und Kooperationen hineindefinieren. Da es um "Entwicklung" geht, wurden in der Mehrzahl "geplante" und "beabsichtigte" Schwerpunkte benannt – als würde es nicht bereits zahlreiche interdisziplinäre Kooperationen und Projekte geben. Weil die – kürzlich noch in aufwendig erarbeiteten "Strukturplänen" dokumentierten – vorhanden Strukturen schon aufgrund der engen zahlenmäßigen Begrenzung der möglichen Schwerpunkte ohnehin keinen Platz fanden, waren die Fachbereiche gezwungen, sich anhand der fertigen Schablonen neu zu erfinden. Ein inhaltliches Profil, das über schicke Eigenwerbung hinausreicht, lässt sich auf diesem Wege jedenfalls nicht entwickeln.

Vielmehr reißt die räumliche und funktionale Trennung und die Neuordnung in Schwerpunkte (bei der es natürlich auch um Zugriff auf Mittel und Ausstattung geht) vorhandene Kooperationsstrukturen auseinander. Wer künftig in seiner Forschung durch die Universität unterstützt werden will, tut gut daran, sich in einen der vorgegebenen Schwerpunkte hineinzudefinieren. Projekte, die nicht in diese Struktur passen, weil sie zum Beispiel weniger marktgängige Themenfelder betreffen, werden immer schwieriger zu realisieren sein. Da die Universität zudem eine Erhöhung der Eigenfinanzierung der Fachbereiche aus "Drittmitteln" fordert, mit deren Hilfe die Institute und Arbeitsschwerpunkte auch ihre sonstige Ausstattung "verbessern" sollen, ist für die weniger angepassten Arbeitsbereiche künftig nicht einmal diese Grundausstattung gesichert. Die Marktlogik, an der sich die Universität in der Außendarstellung orientiert (Drittmittelforschung, Leistungsorientierung, Standortwettbewerb usw.), wird nach innen übertragen als verschärfte Konkurrenz der Fachbereiche und Forschergruppen untereinander.

Zum Beispiel: Juniorprofessuren und Dienstrechtsreform

Gemäß der (gerade in Kraft tretenden) jüngsten Reform des Hochschulrahmengesetzes (HRG) tritt an die Stelle der Habilitation künftig die Juniorprofessur als Regelvoraussetzung zur Erlangung einer ordentlichen Professur. Auf den ersten Blick sieht das nach einer deutlichen Aufwertung der Position und der autonomen Arbeitsmöglichkeiten für junge Wissenschaftler aus: Juniorprofessoren sollen sechs Jahre auf gut ausgestatteten Stellen selbständig forschen und lehren dürfen und werden der Statusgruppe der Professoren zugeordnet. Diese Begünstigung ist jedoch mit Anforderungen verknüpft, die die vermeintliche Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses eher als besonders effiziente Ausnutzung akademischer Arbeitskraft erscheinen lässt: Die geforderte Lehrtätigkeit entspricht in den ersten drei Jahren der Hälfte dessen, was ein "ordentlicher" Professor leisten muss, danach wird gar ein volles Deputat verlangt (einige Bundesländer wollen gar von Anfang an das volle Deputat fordern). Darüber hinaus haben sich auch die Juniorprofessoren Ausstattung und Forschungsmittel durch "Drittmittel" selbst zu beschaffen. Nach drei Jahren erfolgt eine Evaluation ihrer Forschungs- und Lehrtätigkeit, von der die Fortsetzung der Juniorprofessur abhängt. Ob für den unerfahrenen Jungwissenschaftler neben Lehr- und Verwaltungstätigkeit, zwischen Forschungsanträgen und Studentenbetreuung noch Zeit für ernsthafte Forschung bleibt, darf bezweifelt werden. Dagegen erscheinen die bisherigen Nachwuchsstellen mit in der Regel zwei Wochenstunden Lehrtätigkeit pro Semester (wozu eigene Lehrveranstaltungen, aber auch die Mitarbeit an Veranstaltungen der Professorin/des Professors zählen können) und reichlich Raum für die eigene Qualifikationsarbeit geradezu als Hort der Autonomie. Unbestreitbar führt die Tatsache, dass diese Stellen üblicherweise einem Lehrstuhl zugeordnet sind, in manchen Fällen zu nicht unproblematischen Ausbeutungs- und Abhängigkeitsverhältnissen. Sie jedoch durchgängig als reine Knechtschaftsverhältnisse darzustellen – wie es in der öffentlichen Diskussion derzeit fast ausnahmslos geschieht –, stellt die Realitäten schlichtweg auf den Kopf. Die meisten Mitarbeiter – zumal in den Geistes- und Sozialwissenschaften – können ohne übermäßigen Zeitdruck selbstbestimmt zu den von ihnen gewählten Themen arbeiten. Sie können neben der formalen Qualifikation Erfahrungen sammeln, indem sie Vorträge halten und Aufsätze publizieren, ohne dabei stets nur auf die Evaluation zu schielen. Sie können in Forschungsprojekten am Lehrstuhl mitarbeiten, ohne bereits die ganze Last der Forschungsorganisation selber tragen zu müssen. Die Einrichtung von Juniorprofessuren steht schon deshalb in unmittelbarer Konkurrenz zum herkömmlichen Modell, da weder der Bund noch die Länder vorhaben, dafür zusätzliche Stellen zu schaffen. Geht der Ausbau der Juniorprofessuren so rasch voran wie vorgesehen, müssen dafür die meisten vorhandenen Mitarbeiterstellen umgewidmet werden.

Neben der unsinnigen Vorstellung, dass Wissenschaftler mit Anfang 30 auf dem Höhepunkt ihrer Kreativität und Leistungsfähigkeit sind (selbst wenn es manchen gelingen mag, sich bis dahin über Spezialkenntnisse auf einem eng umrissenen Fachgebiet hinaus zu qualifizieren, gibt es keinen Grund zur Annahme, danach ginge es nur noch abwärts), wird Beschleunigung allgemein für begrüßenswert gehalten. Mit Mitte 20 soll man sein Studium abgeschlossen haben, dann möglichst in drei Jahren promovieren, um sich bald darauf auf eine Juniorprofessur zu bewerben oder außerhalb der Wissenschaft sein Glück zu versuchen. Dass Bildung und Wissenschaft, insbesondere die Kompetenz, an einer Hochschule zu lehren, auch etwas mit Erfahrung zu tun hat, für die man Zeit und Freiräume benötigt, scheint in der herrschenden Bildungspolitik niemandem mehr einzufallen. Gefordert wird ohnehin eine Orientierung am Mainstream, an den "Spitzenleistungen der jeweiligen Fachdisziplin", wie es in der hessischen Rahmenzielvereinbarung so schön heißt. Die erforderlichen geradlinigen Lebensläufe werden zudem trotz der Berücksichtigung von Erziehungszeiten einen sozialen Selektionseffekt haben, der insbesondere dem Ziel (es ist wohl eher ein Lippenbekenntnis) der Frauenförderung in der Wissenschaft diametral entgegensteht.

Die soziale Lage von Nachwuchswissenschaftlern wird durch eine weitere, auf den ersten Blick unscheinbare, Neuregelung noch verschärft: Laut dem neuen § 57 HRG sollen künftig Wissenschaftler an Universitäten und staatlich geförderten Forschungseinrichtungen nicht mehr länger als insgesamt zwölf Jahre auf befristeten Stellen beschäftigt werden dürfen, sechs Jahre vor und sechs Jahre nach der Promotion. Angerechnet werden auch Stipendien und Promotionszeiten ohne Beschäftigung. Wie Ulrich Herbert – immerhin Mitglied des Wissenschaftsrates, also eines Gremiums, das zentral an der derzeitigen "Hochschulreform" mitgewirkt und diese in wesentlichen Teilen geprägt hat – in der Süddeutschen Zeitung vom 9. Januar 2002 treffend beschreibt, wird hier eine "Massenentlassung als Reform verkauft".5 Häufig "überleben" junge Wissenschaftler nur durch die Aneinanderreihung selbst beantragter und durchgeführter Forschungsprojekte, für deren Dauer sie dann jeweils befristet an einer Universität oder einem Forschungsinstitut angestellt werden. Es handelt sich um hochqualifizierte Wissenschaftler, die wegen der vielen (gleichermaßen qualifizierten) Bewerber für wenige neu zu besetzende Professuren und der wenigen unbefristeten Stellen jenseits einer Professur oft einen großen Teil ihrer Berufstätigkeit auf solchen Projektstellen zubringen mussten. Das ist nach dem neuen Gesetz nicht mehr möglich. Eine ganze Generation von Wissenschaftlern wird in die Arbeitslosigkeit entlassen, während man parallel, rechtzeitig zur bevorstehenden "Emeritierungswelle" (in wenigen Jahren erreichen viele der in den 1970er Jahren berufenen Professoren das Pensionierungsalter), über Juniorprofessuren die Lücke schließt.6

Doch nicht nur auf die Berufsperspektive der betroffenen Wissenschaftler, die spätestens nach zwölf Jahren vor der Situation "Alles oder Nichts" stehen, wirkt sich diese Regelung verschärfend aus. Es fällt wichtiges Personal in Forschung und Lehre weg. Gerade in den Geistes- und Sozialwissenschaften wurde diese Arbeit zu einem großen Teil durch Wissenschaftler geleistet, die von dem neuen Gesetz aus den Universitäten und Forschungseinrichtungen hinauskatapultiert werden. Doch die Frage, wie diese Lehre und Forschung künftig gewährleistet werden soll, wagt schon niemand mehr zu stellen. Unter dem Vorwand der Abschaffung unsozialer Beschäftigungsverhältnisse und perspektivlos in die Länge gezogener "Qualifikationsphasen" wird in Wahrheit Wissenschaft als Beruf jenseits der Professur abgeschafft. Promovierte sind qualifiziert, selbständig wissenschaftlich zu arbeiten. Sie leisten einen großen Teil der realen Forschungsarbeit. Doch statt für ihre soziale Absicherung zu sorgen, statt mehr junge Akademiker in die Forschung und Lehre einzubinden, wird ihnen diese Perspektive gründlich vermiest. Damit beraubt sich die Gesellschaft einer wesentlichen und notwendigen Instanz ihrer kritischen Selbstreflexion und der damit – zumindest potentiell – verbundenen Möglichkeiten, sie zu verändern.

Zum Beispiel: Zulassungsbeschränkungen

Eine absurde Situation ergibt sich besonders für das Lehramtsstudium. Einerseits wirbt das hessische Bildungsministerium für den Lehrerberuf, da in wenigen Jahren ein Lehrermangel bevorstehe. Gleichzeitig führen viele Universitäten angesichts der wachsenden Studentenzahlen einen Numerus Clausus ausgerechnet für das Lehramtsstudium ein. Die Situation an Universitäten wie in Frankfurt, wo es bisher keine Zulassungsbeschränkung gab, ist in der Tat mit den vorhandenen Kapazitäten nicht mehr – bzw. nur noch zu Lasten aller Studierenden – zu bewältigen. Überfüllte Veranstaltungen, fehlende Praktikumsplätze und Mangel an Betreuern gehören schon zum Alltag. Vorschläge wie der von der Vizepräsidentin der Frankfurter Universität Britta Rang geäußerte, die Studenten mögen sich doch Studienplätze teilen, heben als Realsatire hervor, wie untragbar die Situation bereits geworden ist.

Zulassungsbeschränkungen sind allerdings keine Lösung. Sie führen nicht nur das proklamierte Ziel einer offenen Hochschule, erst Recht einer "Bildungsoffensive" ad absurdum. Sie sind in ihrer Wirkung unsozial und richten sich zwangsläufig nach fragwürdigen Kriterien. Auch die Befürworter von Zulassungsbeschränkungen betonen stets, dass sie dieses Instrument im Prinzip ablehnen, sich aber nicht anders zu helfen wüssten. Die politisch und administrativ hergestellte Notlage wird als Sachzwang akzeptiert und gegenüber den vermeintlich Schwächsten im System – den Studierenden – exekutiert. Eine nachhaltige Verbesserung der Situation in der Lehre lässt sich so ohnehin nicht erreichen. Da jene, die an der Universität oder beim Studienfach ihrer Wahl am Numerus Clausus scheitern, sich meistens (teils zur Überbrückung der Wartezeit, teils dauerhaft) an einer anderen Hochschule oder in einem anderen Fach einschreiben, stellt sich ein Dominoeffekt ein, der vielerorts die Überlast überhaupt erst entstehen lässt.

Fazit

Den geschilderten "Reformen" ist ein instrumentalistisch reduzierter Bildungsbegriff gemeinsam, demzufolge es allein um die beschleunigte Ausbildung "hochqualifizierter" Arbeitskräfte geht. Freiräume für Erfahrung, Kreativität und Reflexivität werden abgeschafft zugunsten von Anpassung und Schmalspur. Die Universitäten werden zu kompatiblen Dienstleistungseinrichtungen umgestaltet und nach der Logik der Verwaltung auf die Markterfordernisse optimiert. Den Geistes- und Sozialwissenschaften wird allenthalben ihre Überflüssigkeit demonstriert. Als unrentable, tendenziell "kritische" Wissenschaften, bekommen sie (bei wachsender Lehrbelastung) Mittel und Ausstattung für die Forschung entzogen. Letztere dient allenfalls noch dem Zweck, sich die zur Lehre nötigen Produktionsmittel selbst zu finanzieren.

Wir haben auf einige Widersprüche und Brüche innerhalb dieser Entwicklung hingewiesen. Nimmt man den Anspruch der Bildungsforschung ernst, mit einem umfassenden Bildungsbegriff zu arbeiten, der die Fähigkeit zu selbständigem Denken hoch bewertet und Kreativität fordert, wie er angeblich auch der PISA-Studie zugrunde liegt, dürfte sich die "Bildungskatastrophe" mit dieser Hochschulpolitik eher noch beschleunigen.

Anmerkungen

  1. Vergleichbar zu den gelungenen Formen wissenschaftlichen Arbeitens, ist auch dieses Papier nicht im "stillen Kämmerlein" entstanden, sondern Produkt einer Zusammenarbeit, die viel Spaß gemacht hat und für die ich mich, da ich nun als Autor auftrete, bei allen Beteiligten bedanken möchte. Es basiert auf mehreren gemeinsamen Diskussionen zwischen AssistentInnen, wissenschaftlichen MitarbeiterInnen und DoktorandInnen am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Uni Frankfurt und aus dem Graduiertenkolleg "Öffentlichkeiten und Geschlechterverhältnisse". Herausheben möchte ich die Beiträge von Ursula Bös, Christine Kuhn, Wolfgang Menz, Andreas Pott und Christine Resch, die alle wichtige Anregungen zu verschiedenen Versionen des Manuskripts gegeben haben. Die Mängel der Endfassung habe ich freilich selbst zu vertreten.Zurück zur Textstelle
  2. Nach amtlichen Berechnungen betrug der Anteil der Bildungsausgaben am öffentlichen Gesamthaushalt auf dem Höhepunkt der Bildungsexpansion im Jahr 1975 9,7 %, 1985 war er auf 8,2 % gefallen, 1995 betrug er nur noch 7,7 %. Der letzte Wert für das Jahr 1998 liegt mit 8,0 % noch unter dem Niveau der 80er Jahre; vgl. Statistisches Bundesamt: Bildung im Zahlenspiegel 2001, S. 166.Zurück zur Textstelle
  3. Seit Herbst 2000 sind die oberen Stockwerke des Hochhauses, in denen der Fachbereich Gesellschaftswissenschaften angesiedelt ist, aufgrund eines Brandschutzgutachtens für den Lehrbetrieb geschlossen. Für die Unileitung kommt eine Sanierung aus Kostengründen nicht in Frage. Stattdessen wird ein Neubau auf dem Campus Westend in Aussicht gestellt. Nicht einmal die von den Gutachtern geforderten Sofortmaßnahmen wurden vollständig realisiert. Die Seminare finden unter oft miserablen Bedingungen über den Campus verstreut statt. Die Arbeitszimmer werden weiter genutzt.Zurück zur Textstelle
  4. Auf die Absurdität einer Bildungspolitik, die sich an der Unterstellung orientiert, die deutschen Professoren würden zu viel forschen und daher die Lehre vernachlässigen, macht der Berliner Sprachwissenschaftler Jürgen Trabant in seiner trefflichen Glosse "Anlage 1: Heimlich, still und feige" in der ZEIT vom 10. Januar 2002 aufmerksam. Forschung erscheint als privates Laster der Wissenschaftler: "Denn deren charakteristische Produkte vor allem in den Geisteswissenschaften, Aufsätze, Bücher, Vorträge und andere Publikationen des ganz normalen Personals, schlagen in dieser Leistungsbewertung nicht mehr zu Buche."Zurück zur Textstelle
  5. In diversen Reaktionen auf diesen Beitrag wurde zwar vor unnötiger Dramatisierung gewarnt und darauf verwiesen, dass über das Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG) Ausnahmen möglich seien. Der Deutsche Hochschulverband prophezeit jedoch, dass aufgrund der defensiven Haltung der Universitäten in Bezug auf die Möglichkeit, sich auf eine Dauerstelle einzuklagen, diese Ausnahmen eher restriktiv gehandhabt werden und daher "für 90 Prozent der Betroffenen das Fallbeil sausen wird" (Christine Löll und Max Rauner in der ZEIT vom 17. Januar 2002).Zurück zur Textstelle
  6. Siehe dazu die Publikationen der Initiative "Lost Generation" im Internet.Zurück zur Textstelle
© links-netz Februar 2002