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Warum es sich lohnen könnte, Bildung als Infrastruktur zu denken*

Oliver Brüchert

Die bildungspolitischen Auseinandersetzungen der vergangenen 15 bis 25 Jahre sind geprägt von der Gegenüberstellung zweier Lager: Den rückwärtsgewandten Bewahrern des humboldtschen Bildungsideals und den progressiven Modernisierern, die „unser“ Bildungssystem fit machen für den neoliberal globalisierten Wettbewerb der Wissensgesellschaften. So jedenfalls lesen sich die meisten Zeitungsbeiträge1 zum Thema und so verorten sich auch viele der Akteure,2 die diese öffentliche Debatte prägen. Selbst die von Studentenvertretern und Gewerkschaftern noch vertretene Forderung einer demokratischen Öffnung der Hochschulen („Bildung für alle und zwar umsonst“) gerät angesichts der grassierenden Modernisierungseuphorie schon in den Verdacht eines konservativen Reflexes. Das Experiment Gesamtschule gilt als gescheitert und spätestens seit Bayern bei PISA vorne liegt, soll das Gymnasium wieder die einzig zielführende Schulform sein. Über jene, die den Sprung auf das Gymnasium nicht schaffen, wird bildungspolitisch kaum, allenfalls in der Terminologie von Schulversagen, Lernstörungen und Gewaltprävention, nachgedacht. Wenn es um „Exzellenz“ und „Leistungseliten“ geht, kann man die „Massen“ eben nur noch möglichst kostengünstig abfertigen.

Die Gegenüberstellung Modernisierer gegen Bewahrer ist natürlich in sich bereits ein ideologischer Trick der selbsternannten Modernisierer. Nur indem es gelingt, das etablierte Bildungssystem als im Kern verrottet und seine Verteidiger als weltfremde Blockierer darzustellen, kann der Abbau staatlicher Infrastruktur und die von den Finanzministern diktierte Sparpolitik überhaupt als sachbezogenes Fortschrittsprogramm dargestellt werden. Sieht man genauer hin, erweisen sich die Kernpunkte der sogenannten Reformen selbst als uneingelöste Versprechungen (bzw. Drohungen): Statt Entbürokratisierung erleben die Hochschulen einen beispiellosen Bürokratisierungsschub zu Lasten des „Kerngeschäfts“ (Forschung und Lehre), für vernünftige Ganztagsschulen mangelt es allerorten schon bei den grundlegenden Rahmenbedingungen (Räume, Küchen, Betreuungspersonal), die amerikanischen Elitehochschulen lassen sich nicht einfach kopieren, private Hochschulen wie die International University in Bremen kommen selbst mit massiven staatlichen Zuschüssen nicht in die Gewinnzone und Schul- wie Studienzeitverkürzungen konnten zwar erfolgreich durchgesetzt werden, gewährleisten aber weder eine besondere Qualität der Abschlüsse noch den versprochenen individuellen Konkurrenzvorteil.3

Gleichzeitig haben diejenigen, die sich als Lehrer und Hochschulangehörige für das bestehende System stark gemacht haben (das sind beileibe nicht alle – auch innerhalb der Bildungsinstitutionen gibt es zahlreiche „Modernisierer“) und dabei humanistische, emanzipative und demokratische Bildungsbegriffe gegen die reine instrumentelle Verwertungslogik in Anschlag gebracht haben, immer wieder den Fehler begangen, in den Abwehrkämpfen gegen den neoliberalen Durchmarsch die eigene Kritik an einem nach wie vor hoch selektiven, bürokratischen und undemokratischen Bildungssystem hintanzustellen. Jedenfalls ist es ihnen kaum einmal gelungen, sich im öffentlichen Diskurs als die eigentlichen Modernisierer darzustellen und den populär-populistischen Vorwurf, sie hielten nur darum am alten System fest, weil sie sich darin bequem eingerichtet hätten, abzuschütteln. Der gebetsmühlenartige Bezug auf Humboldt, auf die „Autonomie“ der Wissenschaft, auf Zweckfreiheit und Chancengleichheit mag in der Sache noch so berechtigt sein, politisch-strategisch ist er Wasser auf die Mühlen der neoliberalen „Reformer“.

Von der Säkularisierung der Bildung durch die Aufklärung und den preußischen Universitätsreformen bis zur Bildungsexpansion der 60er und 70er Jahre, haben sich die emanzipatorischen Gehalte stets erst im Fahrwasser instrumenteller und utilitaristischer Erwägungen realisieren können. Die einzelnen historischen Phasen der Erweiterung und Öffnung der Bildungseinrichtungen für Angehörige aller Klassen und Geschlechter war – vom Aufbau eines modernen Staatswesens über die kolonialistische Expansion bis zur „re-education“ und zum Wettlauf der Systeme im kalten Krieg – meist die Reaktion auf bestimmte politische, ökonomische und soziale Krisen, die einen steigenden Bedarf an Staatsbeamten, Ärzten, Juristen, Ökonomen, Technikern, Erfindern und Ingenieuren suggerierten. Dass damit auch soziale Ungleichheit zurückgedrängt und kritische Geistes- und Sozialwissenschaften ausgebaut wurden, war allenfalls ein (gelegentlich begrüßter, oft nur für unvermeidlich erachteter) Nebeneffekt.4 So betrachtet, war die auf die Erzeugung qualifizierter Arbeitskräfte und/oder individualisierter Staatsbürger ausgerichtete Bildungspolitik in diesen ca. 200 Jahren immer wieder ein ausgezeichnetes Vehikel für emanzipative bis antiautoritäre Forderungen und deren schrittweise Umsetzung – immerhin wurde im Verlauf dieser Zeit eine weitgehende Freiheit und gelegentlich auch Einheit von Forschung und Lehre verwirklicht, selbst für die Schule eine „Lehrmittelfreiheit“ umgesetzt, eine halbwegs demokratische Selbstverwaltung etabliert und der Zugang zu den Bildungseinrichtungen ist – zumindest formal – für alle geöffnet. Das alles ist nicht allein auf den Reformdruck zurückführbar, den die entsprechenden politischen und sozialen Bewegungen gelegentlich erzeugt haben, sondern auf eine eigene Dialektik der Bildungspolitik, bei aller instrumentellen Logik immer auch nicht-instrumentelle Anteile, „Freiheit“ hervorzubringen. Die entscheidende Frage ist also, ob diese grundlegende Dialektik der Bildungspolitik angesichts des neoliberalen Durchmarschs stillgestellt ist, oder wie sich unter den geschilderten Rahmenbedingungen bildungspolitische Forderungen diesseits von „Modernisierung vs. Bewahren“ entwickeln lassen.

Das Konzept der sozialen Infrastruktur, das wir beispielhaft u.a. für den Bereich der Bildungspolitik ausbuchstabiert haben,5 erwies sich dafür als brauchbarer Ausgangspunkt. „Infrastruktur“ erlaubt die Anerkennung bestehender instrumenteller Interessen – wie das Fortbestehen der kapitalistischen Warenvergesellschaftung insgesamt – und öffnet gleichzeitig Freiräume, die sich der instrumentellen Logik, der allgemeinen Disziplinierung der Arbeitswelt, entziehen. Ich möchte die wesentlichen Argumente zur Bildungspolitik entlang unserer Thesen im Sozialpolitik-Papier zuerst kurz erläutern, um dann einige Schlussfolgerungen für die Kritik aktueller bildungspolitischer Entwicklungen zu ziehen.

Funktionen von Bildung

„Bildung als öffentliche Infrastruktur“, das klingt nicht besonders originell, ist doch das Bildungssystem einer der letzten Bereiche, in denen staatlicherseits tatsächlich noch in größerem Umfang eine Infrastrukturleistung erbracht wird. Anders als in den (jeweils mehr oder weniger, aber insgesamt dann doch) nach dem Versicherungsprinzip organisierten Sozialsystemen, ist Schule und sind auch die Hochschulen noch weitgehend kostenlose und allen zugängliche öffentliche Einrichtungen. Anders auch als in der Berufsausbildung, wo im sogenannten „dualen System“ die Betriebe einen Teil der Ausbildung – und damit auch einen Teil der Kosten – übernehmen (darauf werde ich zurückkommen).

Und doch ist es weniger das humanistische Bildungsideal, das hier am Werke ist, sondern ganz handfeste praktische Interessen, die vorwiegend auf die Formung der Ware Arbeitskraft zielen. Indem man sich klar macht, was dieses bestehende Bildungssystem tatsächlich tut, welche verschiedenen Funktionen es erfüllt, wird deutlich, dass es nicht in erster Linie um Bildung und Aufklärung im Sinne der Weitervermittlung und des Einübens allgemeiner Kulturtechniken geht, die zur Teilnahme an Gesellschaft und Politik befähigen. Es geht vielmehr um ungleiche und sehr zielgenaue Zuschreibung von sozialem Status und daran gekoppelter gesellschaftlicher Teilhabe. Im Einzelnen:

Das Bildungssystem vergibt Zertifikate und Zugangs-Berechtigungen und ist damit ein Apparat zur Festlegung – und Vererbung – von sozialer Ungleichheit, aber zugleich auch von sozialem Aufstieg im Einzelfall. Letzteres wird als Elitebildung in Deutschland noch eher zurückhaltend und durch wenige Privatschulen- und Universitäten betrieben. Die generelle Auslese-Funktion des gesamten Schulsystems wird aber bewusst angestrebt und im Kampf gegen die Gesamtschule auch entsprechend begründet – alle gleichermaßen zu fördern verhindere die notwendige Elitebildung. Insgesamt ist es selbstverständlich, dass der Zugang zu den höheren Bildungseinrichtungen nach dem Leistungsprinzip begrenzt wird, das effektiv immer eine soziale Selektivität mit sich bringt.6 Darüber hinaus ist selbstverständlich, dass der „Bildungsfahrstuhl“ unaufhaltsam weiter nach oben fährt und man unter verschärften Konkurrenzbedingungen nur noch mit den entsprechenden Zertifikaten Aussicht auf einen Arbeitsplatz hat. „Wissensgesellschaft“ bedeutet ja zuerst einmal die Entwertung von Handarbeit und den dafür vorausgesetzten Fertigkeiten. Mit der Ausrufung einer „Wissensgesellschaft“ werden selbst kritisch gemeinte Konzepte wie das „kulturelle Kapital“ affirmativ gewendet als Anforderung an das Individuum, sich frühzeitig um die Akkumulation marktgängiger Kompetenzen zu kümmern, oder endgültig abgehängt zu werden. „Lebenslanges Lernen“ ist nicht etwa die Forderung nach einem barrierefreien Zugang zu den Bildungseinrichtungen bis ins hohe Alter, sondern die Behauptung, dass Bildung und Wissen immer schneller entwertet werden und das „Humankapital“ ein regelmäßiges „update“ braucht.

Das Bildungssystem vergibt darüber hinaus Tätigkeits-Berechtigungen und Berufs-Lizenzen. Hier geht es strenger als bei den allgemeinen Bildungszertifikaten um eine Gewerbe- und Berufs-Aufsicht mit dem Anspruch einer Qualitätskontrolle. Letztere kann man – mindestens für Ärzte und Lehrer, möglicherweise auch für Rechtsanwälte und Handwerker – durchaus als Infrastrukturleistung für wünschenswert halten. Die Ausbildung, die auf den Erwerb dieser Lizenzen hinführt, muss daran nicht zwingend gekoppelt sein und es ist zumindest fraglich, ob sie an den Hochschulen gut aufgehoben ist. Sie könnte den Berufsverbänden, der Personal nachfragenden Wirtschaft und dem Markt überlassen werden. Bei den Examensfächern sind ohnehin schon Vertreter der Profession an den Prüfungen beteiligt. Man könnte das in Anlehnung an das duale System der Berufsausbildung weiterentwickeln und so die Hochschulen von den Anforderungen der Leistungskontrolle und Lizensierung entlasten. Denn die Kopplung dieser Funktionen der Berufsausbildung mit den Aufgaben der Forschung und der wissenschaftlichen Ausbildung ist ihnen nicht gut bekommen: Die Fachhochschulen haben sich weitgehend auf die Berufsausbildung spezialisiert und wurden entsprechend verschult, die Universitäten scheitern beständig am unmöglichen Spagat zwischen Massenbetrieb und anspruchsvoller Wissenschaft. Die Einführung der BA/MA-Abschlüsse schreibt die Probleme fort, statt sie – wie beansprucht – zu lösen. Ein Teil der Studierenden wird künftig ein paar Semester kürzer abgespeist um dann an der angestrebten Hürde für die Zulassung zum MA zu scheitern. Statt einer Gleichstellung von Fachhochschulen und Universitäten wäre beiden möglicherweise besser gedient, wenn man die Trennung schärfer fasst als bisher. Das würde bedeuten, auch Lehrer, Juristen und Sozialarbeiter künftig an Fachhochschulen auszubilden. Die Idee, diese Berufe an der Universität auszubilden und in der ersten Phase als wissenschaftliches Studium anzulegen, war einmal fortschrittlich gedacht: Lehrer und Juristen sollten keine betriebsblinden Bürokraten werden, sondern aufgeklärte, umfassend gebildete Menschen, die ihre eigene Praxis und die Institutionen, in denen sie arbeiten kritisch reflektieren können. Gerade in der deutschen Version des zweifachen Staatsexamens für Lehrer und Juristen – das jedenfalls für die Juristen faktisch ein Zurückdrängen ihrer universitären und wissenschaftlichen Ausbildungsanteile bedeutete – waren der Verwirklichung dieser Idee von vornherein Grenzen gesetzt. In der Praxis dominieren die hohen Ausbildungs- und insbesondere Prüfungsbelastungen das wissenschaftliche Studium, das heute vielen Studierenden nur mehr als zusätzliche Last erscheint, die sie mit ihrem Berufsbild nicht in Zusammenhang bringen. Dem Ziel, die künftigen Staatsdiener mit Wissenschaft in Berührung zu bringen, wäre besser gedient, wenn man diesen Teil des Studiums von Ausbildungsanteilen so weit wie möglich freihält.7 Es sind verschiedene Modelle denkbar, wie man – jenseits eines barrierefreien Zugangs zur Universität – sicherstellt, dass diese Angebote auch angenommen werden. Die Kopplung mit der Vergabe einer Berufs-Lizenz ist sicher nicht die glücklichste Lösung.

Schule hält junge Menschen von (anderer) Arbeit ab. Schulung und Ausbildung werden (vom Polytechnischen Jahr über Umschulungskurse für Arbeitslose bis zum Universitäts-Besuch) ganz offen als „Arbeitsmarkt-Puffer“ diskutiert und eingesetzt. Durch die angestrebte und teilweise schon durchgesetzte Beschleunigung auf allen Ebenen des Bildungssystem, verschärft sich die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Schule und Studium werden immer weniger als Lebensabschnitte wahrgenommen, die für sich einen Wert haben, in denen man „lebt“, sich entwickelt und Erfahrungen jenseits der Qualifizierung für ein späteres Arbeitsleben macht. Umgekehrt bleibt die Wahrnehmung allgemeinbildender Angebote nach dem Eintritt ins Berufsleben nur unter strengen Voraussetzungen möglich (z.B. „zweiter Bildungsweg“). Gleichzeitig gestaltet sich die Studienphase de facto als Nebeneinander von Arbeit und (Aus)Bildung, weil nur noch eine kleine Minderheit der Studierenden sich ausschließlich über BAföG und Elternhaus finanzieren können. Die Einführung von Studiengebühren wird neben der Verschärfung sozialer Selektivität dazu führen, dass sich der Anteil des Jobbens auf Kosten kultureller und subkultureller Aktivitäten weiter erhöht.8 Einerseits wird Bildung begrenzt auf einen bestimmten Lebensabschnitt, andererseits werden die Freiräume für das Ausleben der Adoleszenz sukzessive eingeengt.

Schule beschäftigt Kinder und Jugendliche. Ohne den Beschäftigungseffekt wären zum Beispiel viele Familienmodelle mit zwei berufstätigen Eltern undenkbar – sie würden jedenfalls andere Infrastrukturleistungen erfordern, die den Eltern einen Teil der täglichen Betreuungsarbeit abnehmen. Sozial- und familienpolitisch wären Ganztagsschulen also sicher wünschenswert. Allerdings sind weder die Lehrer von ihrer Ausbildung her noch die Schulen von ihrer Einrichtung her systematisch auf die sich daraus ergebenden Anforderungen vorbereitet. Ganztagsschulen hätten, wenn man diesen Effekt ernst nehmen wollte, sich eher zu jugend- und sozialarbeiterischen Einrichtungen zu entwickeln.

Bildung und insbesondere Schule diszipliniert auf vielfache Weise. Sie tut das konkret über bestimmte Organisationsformen (Zeitregime, regelmäßige Leistungsbewertung, Hausaufgaben, Frontalunterricht etc.), sie tut das darüber hinaus, indem sie auf das Arbeitsleben vorbereiten das Wissen, das vermittelt werden soll, indem die Lehrpläne immer zielgerichteter auf diesen Zweck hin orientiert werden, von der allgemeinen Durchsetzung einer bürgerlichen, selbstdisziplinierenden Lebensweise ganz zu schweigen.

Nicht funktionale Anteile von Bildung

Man könnte Bildung auch einmal ganz anders verstehen: als Möglichkeit, sich der Disziplinierung ein Stück weit/eine Zeit lang zu entziehen. Schule und Studium als Freiräume, in denen die Gesetze des Marktes nicht in voller Härte gelten, als Gelegenheiten, Interessen und Fertigkeiten zu erproben – und sich dabei auch einmal irren zu dürfen. Als Orte, an denen man noch einmal Zeit vergeuden darf. Joachim Hirsch hat in seinem links-netz-Beitrag „Lob der Faulheit“ auf den gesellschaftlichen Nutzen solcher Lebensweisen aufmerksam gemacht, die nicht produzieren und (schon aufgrund des geringen Einkommens) sehr zurückhaltend konsumieren: sie machen einfach „nicht so viel kaputt (...) als die allseits hochgelobten Leistungsträger“. An den Universitäten kann man solche Freiräume gelegentlich noch finden, sie waren noch vor wenigen Jahren sehr viel ausgeprägter und allgemein anerkannter Bestandteil des höheren Bildungswesens. Schule steht stärker in dem Widerspruch der notwendigen Vermittlung grundlegender Kulturtechniken, die zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen und der Ermöglichung von Nicht-Teilhabe – bereits Kant hat das in seiner Schrift „Über Pädagogik“ als die Paradoxie einer „Erziehung zur Freiheit“ beschrieben. Man kann den Widerspruch ein wenig entschärfen, wenn man Bildung und Erziehung statt auf reproduzierbare Wissensbestände auf das Einüben von Fähigkeiten und Fertigkeiten ausrichtet. Und man kann Bildung insgesamt von der engen Verknüpfung mit einer bestimmten (immer kürzeren) Lebensphase befreien, als fortbestehendes Angebot, sich den Erfordernissen der Lohnarbeit eine Zeit Lang zu entziehen.

Was als Infrastrukturleistung dafür benötigt würde, wäre zuerst einmal auf allen Ebenen die Selektivität zu verringern und die Durchlässigkeit zu erhöhen. Insofern Bildungszertifikate sinnvoll aufeinander aufbauen (z.B. Abitur als Voraussetzung des Hochschulzugangs), müssen sie jederzeit nachgeholt werden können. Die scharfe Trennung der Lebensabschnitte „Schule“, „Ausbildung“ und „Beruf“ ist gesellschaftlich ohnehin weitgehend überholt (weil kaum noch jemand studiert, ohne nebenher zu arbeiten, weil viele Berufe ständige Weiterbildung erfordern, weil viele, die die Möglichkeit haben, den „zweiten Bildungsweg“ nutzen etc.), wird aber häufig noch durch unsinnige Anforderungen als Norm festgehalten: durch Zugangsvoraussetzungen, Regelstudienzeiten usw. Bildung als Infrastruktur würde heißen, die Vereinbarkeit möglichst aller biographischen Verläufe und Lebenslagen mit der Partizipation an allen Bildungseinrichtungen sicherzustellen.

Um seine Funktion als Infrastruktur für individuelle Emanzipation und gesellschaftlichen Fortschritt entfalten zu können, wäre das Bildungssystem ferner von einigen Funktionen zu entlasten, die in diesem Verständnis nicht zur öffentlichen Infrastruktur gehören, weil sie privaten Verwertungsinteressen dienen, sei es individuell sich vermittels eines Bildungszertifikats ein höheres Gehalt zu sichern oder unternehmerisch die Nachfrage nach gut trainierten (eben nicht kritischen, antiautoritären) Arbeitskräften. Entbürokratisierung und Privatisierung im Bildungssystem wären dann nicht grundsätzlich abzulehnen, sondern könnten sowohl als Befreiung von staatlicher Bevormundung wie auch als Entlastung vom ständigen Zwang der Leistungsbemessung zu fremden Zwecken umgedeutet werden.

Immanente Widersprüche der herrschenden Bildungspolitik

Bildung als Infrastruktur zu denken liefert keine normativen Maßstäbe, an denen man sich bildungspolitisch orientieren könnte, sondern eher eine Kontrastfolie, die die immanenten Widersprüche der herrschenden Bildungspolitik akzentuierter darzustellen erlaubt. Das betrifft insbesondere die grassierenden Vorstellungen von der Messbarkeit und grenzüberschreitenden Vergleichbarkeit der „Leistungen“ des Bildungssystems sowie die bürokratischen Strategien zur Durchsetzung dieser Leistungskriterien als zentraler Funktionsbestimmung des Bildungswesens. Mit Bildungsindikatoren und „Neuer Verwaltungssteuerung“ (NVS) sollen die nationalen Bildungssysteme fit gemacht werden für die internationale Konkurrenz. Das kann und muss man als „Verbetriebswirtschaftlichung“ von Bildung normativ kritisieren, man kann aber auch zeigen, dass es nicht funktionieren wird, dass die neoliberalen Reformen an den eigenen Ansprüchen scheitern.

Der allgemeine Widerspruch der neoliberalen Bildungspolitik besteht in der Kurzsichtigkeit und Kurzfristigkeit des sich selbst ökonomisch nennenden Denkens. In immer kürzeren Zyklen werden die Inhalte und Ziele von Forschung und Lehre auf allen Ebenen (von der OECD bis hinunter zu einzelnen Studiengängen und Lehrplänen) neu bestimmt, weil sie angeblich den neuesten Anforderungen des Arbeitsmarkts gerecht werden sollen. Immer spezialisiertere Studienabschlüsse sollen einen besonderen Konkurrenzvorteil sichern. Dabei ist es noch nicht einmal gelungen, die eigentlich gut vorhersehbare Zahl der benötigten Lehrer auch zeitgerecht zu „erzeugen“. Die überall aus dem Boden gestampften hochspezialisierten MA-Studiengänge orientieren sich an einer Nachfragesituation auf dem Arbeitsmarkt, die wahrscheinlich schon überholt ist, wenn die ersten Absolventen sich auf Jobsuche begeben. Eine Erwerbsbiographie, in der man vom Studium bis zur Rente ein und dieselbe Tätigkeit ausführt ist – in den meisten Fällen – so wenig wünschenswert wie von der Realität überholt. Flexibilisierung könnte eben auch bedeuten, sich nicht festlegen zu müssen – das würde aber weniger spezialisierte Studiengänge erfordern.

Kernstück der neoliberalen Ideologie ist die Entstaatlichung und Entbürokratisierung. Schulen und Hochschulen sollen mehr Autonomie erhalten, die Verwaltung soll effizienter werden und Wissenschaft soll besser auf die Bedürfnisse der Wirtschaft hin orientiert werden, sei es durch direkte Kooperation, sei es durch „Beratung“. De facto haben die Reformen einen Bürokratisierungsschub9 sondergleichen mit sich gebracht. So wird nicht nur der Anteil der wissenschaftlichen Beschäftigten an den Hochschulen im Verhältnis zur Verwaltung immer kleiner, es geht auch ein immer größerer Teil ihrer Arbeitszeit für Verwaltungsaufgaben drauf: für immer aufwendigere Forschungsanträge mit detaillierten Aufstellungen über die geplante Mittelverwendung, die dann immer häufiger abgelehnt werden, für die Neufassung von Studien- und Prüfungsordnungen in immer kürzerem Takt, für Modularisierung und Akkreditierung, für den Abschluss von Zielvereinbarungen, für das Schreiben von Strukturplänen, für die Entwicklung von Leistungskriterien, für die Beteiligung an Strukturprüfungen und Lehrevaluationen, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Drittens entsteht auch eine neue Klasse von Bürokratien, die sich freilich nicht so nennen: Die nicht-staatlichen „Think-Tanks“ (allen voran das überwiegend von der Bertelsmann-Stiftung finanzierte „Centrum für Hochschulentwicklung/CHE“), Beratungsfirmen und Akkreditierungsagenturen, deren Dienstleistungen die Fachbereiche in Anspruch nehmen und die sie selbstredend auch bezahlen müssen. Die vielbeschworene Finanzautonomie führt, wo sie sich nicht ausschließlich Mittelkürzungen kaschiert, bestenfalls dazu, dass die Verwaltung größere Summen für ihre Projekte zur Verfügung und dadurch ein größeres Steuerungspotential erhält, was bedeutet, dass sie den wissenschaftlichen Betriebseinheiten durch finanzielle Anreize (bzw. den Entzug finanzieller Anreize) die Ziele vorgeben kann. „Autonomie“ im Sinne der Selbststeuerung von Wissenschaft, die einmal den Erkenntnisfortschritt sichern sollte – was durchaus mit der kapitalistischen Logik von Standortfaktoren und Wettbewerb der Wissensökonomien in Einklang steht –, wird dadurch jedenfalls nicht vorangebracht. Auch die Produktivität und Effizienz des Wissenschaftsbetriebs wird sich so insgesamt nicht erhöhen, allenfalls in den wenigen Bereichen, die gerade als Aushängeschilder oder „Leuchttürme“ aufgepäppelt werden.

Die neue Verwaltungsideologie des betriebswirtschaftlich orientierten Managements hat in erster Linie der Zerschlagung demokratischer Selbstverwaltungsstrukturen gedient. An die Stelle der Gremien der Gruppenuniversität treten nun externe Beiräte, die schwerpunktmäßig von der Wirtschaft besetzt werden. Die statt von demokratischen Gremien kontrolliert zu werden nun durch diese Beiräte „beratenen“ Präsidenten, erhalten immer weitergehende Kompetenzen und nutzen diese mitunter für ein detailbesessenes Mikromanagement, z.B. in Berufungsverfahren einzelner Fachbereiche (die Universität Frankfurt ist leider ein sehr schlagendes Beispiel).10 Effizient ist das nicht. Ganz schnöde betriebswirtschaftlich effizient wäre eine Unternehmensführung, bei der sich die Betriebsleitung auf ihre Abteilungsleiter verlassen kann und nicht jeden ihrer Schritte, nicht jede Entscheidung eigenhändig kontrollieren muss. Konsequenterweise richtet sich das „Controlling“ nicht in erster Linie auf die Effizienz der Hochschulleitung, sondern auf den Output des Lehr und Forschungsbetriebs. Dazu ist es nötig, mess- und evaluierbare Indikatoren zu entwickeln, nach denen sich dieser Output bewerten lässt.

Das ist zugleich der Punkt an dem die Absurdität der neoliberalen Bildungsreformen kulminiert:

Die traditionelle Vorstellung, wie sich „Bildung“ messen lässt, ist die schlichte Menge akkumulierter abfragbarer Wissensbestände. Die zugehörigen Lernmodelle waren pauken, auswendig lernen und Wiederholung. Für eine effiziente Aneignung war es ferner nötig, „Wichtiges“ von „Unwichtigem“ zu unterscheiden. Lehrpläne und Prüfungsformen sind nach wie vor von diesem Bildungsbegriff geprägt. Die herrschende Bildungspolitik, sei es in den PISA-Studien oder bei der Einführung der BA- und MA-Studiengänge, beansprucht, sich von diesem traditionellen Bildungsbegriff zu lösen und stärker auf „Kompetenzen“ als auf Wissen abzuzielen. Das hat erst einmal mit der schlichten Annahme zu tun, dass Wissen heute einerseits zu umfangreich sei, als dass ein Individuum noch umfassend bescheid wissen könnte, andererseits durch die Verbreitung neuer und alter Medien, reproduzierbares Wissen jedem jederzeit zugänglich ist – man braucht es also nicht lebenslang im Kopf zu speichern. Ferner propagieren die Wirtschaftsverbände, dass sich das nötige Wissen, das man für einen bestimmten Job bräuchte, ohnehin nur im Betrieb selbst vermitteln lasse, und die Bildungsinstitutionen sich auf die Erzeugung allgemeiner, flexibel einsetzbarer Kompetenzen konzentrieren sollten. Wenn man den Abschied vom traditionellen Wissensmodell ernst nähme, müsste man nicht nur die Lehr- und Lernformen sehr viel radikaler umstellen, als das derzeit geschieht, man müsste die Lehrpläne entlasten statt sie immer weiter vollzupacken, man müsste auch auf Zertifikate und Leistungsmessung verzichten, denn Kompetenzen entziehen sich der Messbarkeit. Das Gegenteil ist jedoch der Fall, es wird gemessen, getestet und standardisiert wie nie zuvor.11 An den Hochschulen führt das in den neuen Studiengängen zu immer mehr Prüfungen (wohlgemerkt bei verkürzter Studiendauer) mit dem Effekt, dass – um die zahlreichen Prüfungen überhaupt bewältigen zu können – auch geistes- und sozialwissenschaftliche Fachbereiche immer mehr zu zwischenzeitlich überwundenen Prüfungsmethoden zurückkehren und reproduzierbare Wissensbestände abfragen. In den Schulen führt das, wie in Ländern die schon vor den OECD-Vergleichen ähnliche Tests auf nationaler Ebene durchgeführt haben, erst einmal dazu, dass die Schüler gezielter auf diese Form der Leistungsprüfung vorbereitet werden, was in erster Linie durch Gewöhnung an die Testsituation geschieht. (Das Fernsehen hat das Potential von PISA zum Gesellschaftsspiel früh erkannt und inzwischen tatkräftig ausgereizt.) Was Schüler lernen sollen, wird durch den Test und die dahinter stehenden Bildungsstandards der OECD bestimmt, statt umgekehrt. Die Bildungsforschung boomt und die Messmethoden werden beständig weiterentwickelt und verfeinert. Jedenfalls wird für das Überprüfen der Kompetenzen ein wesentlich größerer Aufwand betrieben als mit der Frage, wie sie denn hervorgerufen werden könnten. Man kann sich das wohl etwa so vorstellen, als wenn man einen Sportler dadurch trainieren wollte, dass man regelmäßig seinen Leistungsstand kontrolliert, ohne sein Trainingsprogramm anzupassen oder auch nur zu kennen. Die Annahme wäre, allein durch häufigere Messung müsse seine Leistungskurve nach oben gehen (möglicherweise sitzt er aber die meiste Zeit mit Chips und Bier vor dem Fernseher). Das ist exakt die Logik der herrschenden Bildungspolitik.

Schlussfolgerungen für bildungspolitische Interventionen

Die aktuelle Bildungspolitik erzeugt also im Gewand des Neuen immer wieder das ganz Alte: ein bürokratisches, autoritäres, auf reproduzierbares Wissen zielendes Bildungssystem, soziale Selektivität und die Herausbildung von Eliten. Dieses Programm ist rückständig und es wird den selbstformulierten Ansprüchen nicht ansatzweise gerecht. Es ist nötig, auf diese immanenten Widersprüche hinzuweisen. Eine fortschrittliche Bildungspolitik kann sich auf die uneingelösten Versprechungen der Neoliberalen jedoch nur sehr eingeschränkt positiv beziehen. Aber man kann zumindest ein paar Schlagworte aus dem herrschenden Diskurs aufgreifen und damit arbeiten.

Wenn man zum Beispiel das Kompetenz-Modell von Bildung nicht auf die Interessen der Wirtschaft reduziert, wären es politische Entscheidungen, die bestimmen, was als Kulturtechniken und Fähigkeiten zur Teilnahme als Infrastruktur allen zu erwerben möglich sein muss. Dieser „Kanon“ wird immer strittig sein, könnte aber weniger hemmend wirken, wenn man ihn nicht an Bildungsidealen, sondern an Teilnahme-Möglichkeiten bemisst und an dem Zugewinn an Freiheit, der sich damit ganz konkret und praktisch realisieren lässt. Wenn man den klassischen, auf akkumulierbare und zeitlos gültige Wissensbestände abzielenden Bildungskanon erst ein mal verabschiedet hat, wird schnell einsichtig, dass Wissen heute breiter, als das jeder Schule möglich ist, in der populären Kultur (von TV bis Internet) vermittelt wird. Die Nutzung und skeptische Analyse dieser Angebote (wer bietet mir warum welche angebliche Information an?) ist zur wichtigsten Kulturtechnik in Bezug auf Wissen geworden. Dazu kommt das Erkennen und Kritisieren stillschweigenden (selbstverständlich gesetzten) Wissens in Kulturprodukten – Fähigkeiten also, die traditionell im Umgang mit Kunst geübt wurden. Unter den Kulturtechniken sind (nach den Computer-Fähigkeiten) die interkulturellen Kompetenzen (Fremdsprachen, Kultur-Relativismus) besonders in den Vordergrund getreten.

Teilhabe an der Gesellschaft und an der Gestaltung ihrer Zukunft setzt Kompetenzen im Umgang mit wirtschaftlichen und politischen Projekten – mit denen der Mächtigen und mit den eigenen – voraus. Die Prinzipien von Demokratie, wie sie ist und wie sie sein könnte, zu kennen, ist dafür nützlich, eine antiautoritäre Haltung ist wahrscheinlich nützlicher. Die historischen Kämpfe und Niederlagen um die Durchsetzung allgemeiner und gleicher Rechte zu verstehen, ist dafür hilfreicher, als die Kenntnis einzelner Rechtssätze und der Techniken zu ihrer Auslegung.12 Teilnehmende Beobachtung ist in vielen Alltags-, Lebens- und Berufssituationen geradezu eine Überlebenstechnik. Der methodenkritische Umgang mit Umfrageergebnissen und öffentlichen Statistiken (von der „Sonntagsfrage“ über das Hochschulranking bis zur Polizeilichen Kriminalstatistik) versetzt sehr viel besser in die Lage, deren ideologischen Gehalt und die so verschleierten Interessen zu durchschauen, als sich mit möglichst vielen Indikatoren und Kennziffern zu rüsten. Insgesamt sind die Kulturtechniken nur insofern technische Fertigkeiten, als sie den kritischen Umgang mit dem herrschaftlich Erzeugten „Wissen“ ermöglichen. In erster Linie sind sie soziale Kompetenzen, die sich nicht als Kenntnisse vermitteln lassen, sondern die schon von der Sache selbst her nur selbständig und kritisch angeeignet werden können.

Man könnte auch die Aufforderung, eigene Kriterien zur Evaluation und Leistungsmessung zu entwickeln, kreativ missverstehen und einmal formulieren, was ein demokratisches Bildungswesen ernsthaft auszeichnen sollte: Eine möglichst geringe (bis keine) Selektivität, das heißt vor allem möglichst wenig Prüfungen, wo Prüfungen unvermeidlich sind, möglichst geringe Durchfallquoten und/oder unbegrenzte Wiederholbarkeit. Insgesamt die Freiheit des Denkens zu fördern, was sich an der Erzeugung nicht-verwertbaren, herrschaftskritischen Wissens oder auch von „Kunst“ bemessen ließe. Man könnte auch nach dem Nutzen von Forschungsergebnissen für nicht-staatliche, nicht profitorientierte Akteure (soziale Bewegungen, NGOs, Bürgerinitiativen) fragen, nach dem Ausstoß an Beiträgen für kleine, lokale, nicht-kommerzielle Zeitungen. Man könnte Schüler nach der Leistung ihrer Lehrer fragen – nicht als Noten, sondern mit dem Ziel gemeinsam Verbesserungen zu erarbeiten. Und man könnte fragen, wie denn die Gesellschaft ihren Bürgern die Teilnahme am Bildungssystem ermöglicht – nicht bloß durch freien Zugang, sondern auch durch Freistellung von Arbeit.

So gesehen ist mit dem „Ende der Arbeitsgesellschaft“ und der zugehörigen lebenslangen Vollzeit-Erwerbs-Biographie ein enormes Potential für Bildung verbunden, die gerade nicht stupide als Fortbildung zur Wiedereingliederung in die Lohnarbeit zu konzipieren wäre, sondern als alternative Möglichkeit, etwas sinnvolles (und in diesem Sinne gesellschaftlich nützliches) zu tun. Wenn man es so nennen will, wäre das auch ein Stück Sozialpolitik, aber eben ohne diesen stigmatisierenden Beigeschmack.

Das alles nur als Andeutung, womit man sich befassen könnte, wenn man sich nicht in die Ecke drängen lässt, das bestehende Bildungswesen verteidigen zu müssen. Gerade weil die derzeitigen „Reformen“ zutiefst reaktionär sind, gälte es, sich auf die grundlegende Dialektik von Bildung zu besinnen und die Widersprüche auszuloten, in die sich eine solche Politik notwendig verstrickt. Das ist kein ausbuchstabierter Gegenentwurf, kein Programm, nicht einmal eine Strategie und es bleibt völlig offen, wie das alles finanziert werden soll. „Bildung als Infrastruktur“ heißt zuallererst, sich diese Freiheit des Denkens gegen die dekretierte Logik von Krisen, Katastrophen und daraus abgeleiteten Sachzwänge zurückzuerobern.

Anmerkungen

* Dies ist die leicht überarbeitete Fassung eines Aufsatzes, der unter gleichem Titel im Heft 97 der Widersprüche (September 2005) erschien.Zurück zur Textstelle

  1. Um nur ein Beispiel herauszugreifen: In der Zeit vom 29.4.2004 unter dem Titel „Treibstoff für Reformen“ feiern die Autoren Ulrich Schnabel und Martin Spiewak die Wohltaten privater Stiftungen im Bildungsbereich und charakterisieren auch die Kritiker dieser Entwicklung: „Besonders kritisch beäugt wurde von Anfang an die Arbeit des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE), das von der Bertelsmann Stiftung vor genau zehn Jahren gegründet wurde (siehe Kasten). Denn das CHE definiert – vor allem mit seinem jährlichen Hochschul-Ranking – inzwischen Qualitätsmaßstäbe, an denen weder die Universitäten noch der Staat vorbeikommen. Dieser Einfluss und die offensive Forderung nach Studiengebühren machen das CHE bei linken Studenten und konservativen Professoren gleichermaßen verdächtig. (...) Im Dezember vergangenen Jahres besetzten Studierende die Bertelsmann-Repräsentanz in Berlin und protestierten ‚gegen die Machenschaften des Konzerns’.“Zurück zur Textstelle
  2. Das gilt nicht nur für die „Modernisierer“, sondern auch für die „Bewahrer“, gerade auch für solche, die sich dezidiert als „Linke“ outen, indem sie zum Beispiel in der PROKLA schreiben: „Das Potential der Universitäten ist besser als ihr Ruf, ihre Idee ist so groß und aufregend, wie sie es über die Jahrhunderte immer gewesen ist. Es kommt nur darauf an, sich ihrer wieder zu besinnen und sie zur Diskussion zu stellen.“ (Ekkehart Krippendorf (1996): Die Idee der Universität, in: PROKLA 104, S. 431-439)Zurück zur Textstelle
  3. Ganz nebenbei wird – ohne dass dieser Effekt thematisiert würde – ein Stück Kindheit abgeschafft, wenn künftig schon Siebenjährige dem Notendruck unterworfen werden, wie es die neue NRW-Landesregierung angekündigt hat (ein Jahr früher einschulen und Noten ab der 2. Klasse). Auch hierfür ist die PISA-Studie mit ihrem Vergleich einer bestimmten Altersgruppe zumindest mitverantwortlich. Es geht der Politik nicht um bessere Schulen, sondern schlicht um ein besseres Abschneiden in der PISA-Konkurrenz. Da erscheint es logisch, die gesamte Schullaufbahn immer früher anzusetzen und immer weiter zu beschleunigen. Pädagogische Gründe für ein gemäßigtes Tempo müssen entsprechend ignoriert werden. Mit dem zur Zeit in Hessen erprobten neuen „Bildungs- und Erziehungsplan“ sollen wesentliche Weichen schon im ersten Lebensjahr gestellt werden: „Neuere Erkenntnisse aus dem Bereich der Hirnforschung und der Entwicklungspsychologie hätten gezeigt, dass gerade die frühkindliche Phase von 0 bis 3 Jahren prägend für die weitere Entwicklung eines Kindes sei und die Grundlage für das lebensbegleitende Lernen bilde.“ (Pressemeldung vom 21.3.2005)Zurück zur Textstelle
  4. Schon die kurze Episode, in der Wilhelm von Humboldt in Preußen als Sektionschef für Kultus und Unterricht im Ministerium des Innern wirken durfte, wird mit der Niederlage Preußens gegen Napoleon in der Schlacht von Jena in Zusammenhang gebracht: Man wollte der offensichtlichen Überlegenheit Frankreichs ein modernes Bildungswesen entgegensetzen. Als sich herausstellte, dass Humboldt es mit der Unabhängigkeit von Forschung und Lehre wirklich ernst meinte, kam es schnell zum Streit mit der Obrigkeit und er gab sein Amt schon nach einem Jahr wieder auf.Zurück zur Textstelle
  5. Das gesamte Konzept „Sozialpolitik als Infrastruktur“ wird in diesem Heft ausführlich dargestellt und diskutiert. Den Abschnitt zu „Bildung als Infrastruktur“ kann man unter www.links-netz.de nachlesen. Mir geht es hier darum, das Konzept auf aktuelle bildungspolitische Fragen anzuwenden. Indirekt gehe ich damit auch noch einmal auf den häufigsten Einwand gegen unser Papier ein, es sei weder richtig revolutionär, noch richtig reformerisch. Am Beispiel der Bildungspolitik kann man gut illustrieren, dass es mehr um eine bestimmte Perspektive der Kritik geht als um die nächsten zehn oder zwanzig Schritte zur Revolution. Es geht erst einmal darum, das ideologische Korsett vermeintlicher Sachzwänge und falscher Alternativen aufzubrechen, das den Kritikern des Neoliberalismus immer wieder erfolgreich die Rolle zuschanzt, einen schlechten alten Zustand gegen den „Abbau...“ (des Sozialstaats, der Bildung, der Demokratie etc.) zu verteidigen.Zurück zur Textstelle
  6. Aktuelle Daten dazu gibt es in: Uwe Engel (Hrsg.): Bildung und soziale Ungleichheit. Methodologische und strukturelle Analysen, Bonn 2005.Zurück zur Textstelle
  7. Zaghafte Versuche, mit einem vom Staatsexamen entkoppelten Jura-Diplom ein eigenständiges wissenschaftliches Studium der Rechtswissenschaft zu etablieren, werden durch die Einführung der neuen Studiengänge keinesfalls gefördert: An den Fachhochschulen werden hoch spezialisierte und berufsbezogenen Master-Studiengänge angeboten (z.B. „Verhandeln und Gestalten von Verträgen – Negotiating and Designing Contracts“ an der FH Frankfurt oder „Beratung und Vertretung im Sozialen Recht“ an der FH Köln), an den Universitäten überwiegend praxisbezogene BAs mit starken privatrechtlichen und wirtschaftswissenschaftlichen Anteilen (z.B. in Bielefeld, Greifswald, Hagen, Münster).Zurück zur Textstelle
  8. Eine kleine Erhebung in einem Seminar an der Uni Frankfurt hat diese These untermauert. Wir haben die Studierenden gebeten zu berichten, welche Infrastruktur sie für das Studium nutzen und welche kulturellen, politischen und sonstigen Aktivitäten sie mit ihrem Studium verbinden. Obwohl viele Studierende aus dem Umland (bis zu 100 Kilometern) nach Frankfurt pendeln und häufig noch zuhause wohnen, haben sie fast alle relativ zeitaufwendige „Jobs“. An der Universität und im umliegenden Stadtviertel halten sie sich entsprechend nur noch zu unmittelbaren Studienzwecken auf (Seminare, Bibliotheken, bestenfalls Arbeitsgruppentreffen in einem Café). Von einem studentischen Leben berichten nur die politisch im AStA oder einer hochschulpolitischen Gruppe Engagierten, erzählen dann aber gleich dazu, dass sie ständig in Zeitnot sind.Zurück zur Textstelle
  9. Ein aktuelles Beispiel für die Paradoxien, die im Namen des Wettbewerbs und der Entbürokratisierung hervorgebracht werden, ist das Anliegen des Frankfurter Uni-Präsidiums, die Fachbereiche mögen doch bitte „Ranking-Beauftragte“ benennen, die dafür Sorge zu tragen haben, dass die Produzenten der diversen Lehr- und Forschungsrankings, von deren Urteil die künftige Finanzierung der Universitäten abhängt, mit den richtigen Informationen versorgt werden. Neben der impliziten Unterstellung, dass nämlich die Forscher und Journalisten, die diese so einflussreichen Rankings erstellen, schlampig arbeiten, ist daran vor allem irritierend, dass die Arbeitskraft der Forschenden nicht mehr in erster Linie in die Verbesserung ihrer „Produkte“ (Lehre und Forschung) investiert werden soll, sondern zunehmend in die ein besseres „Marketing“.Zurück zur Textstelle
  10. Einige Beispiele führen Joachim Hirsch und Heinz Steinert in ihrem links-netz-Beitrag „Wissenschaftsfreiheit im Adorno-Jahr – oder die Entsorgung kritischer Wissenschaft an der Frankfurter Universität“ auf.Zurück zur Textstelle
  11. Eine eingehendere Auseinandersetzung mit den einzelnen Leistungsbemessungskriterien, diversen Rankings und Evaluationsmethoden würde hier zu weit führen. Klar ist, dass mit dem Zählen von Abschlüssen, Noten, Veröffentlichungen etc. notwendig immer ein sehr selektives Maß angelegt wird, das sich daran orientiert, was zählbar ist und nicht daran, was eigentlich gemessen werden soll. Man könnte einmal untersuchen, was bei diesen Messungen denn tatsächlich gemessen wird. Am ehesten wahrscheinlich Fleiß und Beharrlichkeit, möglicherweise auch Autoritätshörigkeit und Opportunismus.Zurück zur Textstelle
  12. Selbst unter Ausbildungsgesichtspunkten zeichnet einen „guten“ Juristen eher ein grundsätzliches Verständnis von Rechtsförmigkeit aus, verbunden mit der Fähigkeit gesellschaftlicher Probleme und Konflikte in die formale Sprache des Rechts zu übersetzen. Das angesammelte auswendig gelernte Wissen, brauchen sie ausschließlich für die Examensprüfungen.Zurück zur Textstelle
© links-netz Februar 2006