Home Archiv Links Intern Editorial Impressum
 
 
Neue Texte
 

Schwerpunkte

Sozialpolitik als Infrastruktur
Ende der Demokratie?
 

Rubriken

Deutsche Zustände
Neoliberalismus und Protest
Bildung
Krieg und Frieden
Biomacht und Gesundheit
Kulturindustrie
Theorie: Empire, Kommunismus und andere Angebote
Rezensionen
 
 

Anzeige

Kulturindustrie Übersicht

 

  Text in eigenem Fenster anzeigen    rtf-Datei herunterladen 

„In den Steigbügeln Rosinantes ...“

Che Guevara: Ein biografischer Essay

Theo Bruns

Montevideo, März 1967: Auf einem klandestinen Treffen erfahren die Tupamaros von der Guerilla Ches in Bolivien. „Die riesenhafte Gestalt des Che im Herzen Amerikas zu wissen, hatte ein ungeheueres Gewicht. Wir fühlten uns als Teil von etwas Unermesslichem. Zum ersten Mal seit der Niederlage hatten wir das Gefühl, trotz allem nicht allein zu sein.“ Oktober: „Die Nachricht von Ches Tod führte zu einer Eintrittswelle in die MLN. Der gefallene Che vervielfachte sich in Kämpfern“ (El Ñato Fernández Huidobro in der Historia de los Tupamaros).

Berlin 1967: „Eines Tages treffe ich Rudi auf der Garystraße vor der Freien Universität. Er hatte die Schrift von Che Guevara bei sich Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnam – auf Spanisch – und sagte: 'Das muss man unbedingt ins Deutsche bringen. Ich würde es am liebsten morgen haben.' Dann haben wir uns bei ihm zu Hause hingesetzt. Der Text erschien als erstes Buch in einem neuen Verlag, dem Oberbaumverlag. Ab dann waren wir ziemlich unzertrennlich“ (Gaston Salvatore in der Dutschke-Biographie von Chaussy).

Mexiko 1968: „Sein Tod hinterließ bei uns eine enorme Leere, die nicht einmal das Bolivianische Tagebuch füllen konnte. Er war das Gespenst Nummer Eins. Er, der nicht da war und doch da war, in unserem Leben umging, die Stimme, die Person, das fundamentale Gebot, alles beiseite zu werfen und loszulegen, das Foto, das dich von allen Seiten ansieht, die einzige Art, in der eines Bolero würdige Phrasen wie 'totale Hingabe' nicht lächerlich wirkten. Aber vor allem war Che der Typ, der überall war, auch nach seinem Tod. Unser Toter“ (Paco Ignacio Taibo II in 1968).

Der Rückblick: „In einfachen Worten: Che Guavara war die perfekte Verkörperung des ehemaligen Zeitgeistes“, schrieb Fernando Mires vor zehn Jahren in der ila. Fast wörtlich wiederholt Jorge G. Castañeda in seiner Biografie: „Ernesto Che Guevara füllte die sozialen Utopien und Träume einer ganzen Generation mit Leben, er verkörperte, auf eine fast mystische Weise, den Geist seiner Epoche.“ Und noch einmal Mires: „Che Guevara war der personifizierte Widerspruch; er war aber auch Ausdruck unserer eigenen Widersprüche.“

Welcher Widersprüche? Welcher Träume?

1. On the road

Die Wirkungsmacht der Bilder: Du siehst den jungen Che Guevara auf einem Foto mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf einem Balkon liegen und weißt nicht, ob du träumst oder ob er wirklich James Dean so verdammt ähnlich sieht.

Mit dem Bild eines lupenreinen Revolutionärs von Anbeginn verträgt sich Ches Jugend jedenfalls nicht. In der ersten Hälfte der 50er Jahre unternahm er drei große Reisen, deren letzte erst auf den Planken der Granma enden wird. Unterwegs zunächst auf einem Fahrrad mit Hilfsmotor in den Norden Argentiniens, dann auf dem Motorrad über die Anden nach Chile, wo er sich mit seinem Freund Alberto Granados durchschnorrt, von einer Überfahrt zu den Osterinseln träumt, als blinder Passagier in Antofagasta landet, weiter per Anhalter zur Kupfermine Chuquicamata, die Konfrontation mit der Ausbeutung der Minenarbeiter, weiter nach Peru: Cuzco, Machu Picchu – die Entdeckung des indigenen Amerikas, Arbeit auf einer Leprastation, auf dem Flussdampfer nach Iquitos den Amazonas hinunter, weiter mit dem Floß nach Leticia in Kolumbien, dort ein kurzes Gastspiel als Fußballtrainer, mit dem Flugzeug nach Bogotá, mit dem Bus nach Venezuela und über Miami die Rückkehr nach Argentinien. Nachdem mit dem Abschluss des Medizinstudiums der Pflicht Genüge getan ist, Aufbruch zur dritten und letzten Reise – diesmal mit Calica Ferrer. In Bolivien, wo ein Jahr zuvor die MNR unter Victor Paz Estenssoro die Macht übernommen hatte, werden sie Zeuge einer stürmischen Massenmobilisierung für die Agrarreform, bleiben aber skeptisch gegenüber einer Revolution, die auf halben Wege stecken zu bleiben droht. Weiterreise nach Peru und Ecuador, mit dem Frachter nach Panama und zu Fuß, im Auto, im Bus über Costa Rica und Nicaragua nach Guatemala.

Durch seine spätere erste Frau Hilda Gadea bekommt er Zugang zu Kreisen aus dem Umfeld der Linksregierung von Jacobo Arbenz. Diese stand nach der Verstaatlichung von Ländereien der United Fruit Company unter einem ständig wachsenden Druck der US-Regierung, der schließlich im Juni 1954 in einem CIA-gesteuerten Putsch münden sollte. Che, der sich zum ersten Mal in seinem Leben wirklich politisch engagiert, setzt sich vergeblich für die Bildung bewaffneter Milizen ein und muss schließlich in die argentinische Botschaft flüchten, von wo aus er zwei Monate später nach Mexiko ausreist.

Obwohl das Erlebnis des Putsches in Guatemala für ihn eine einschneidende Erfahrung bedeutete und die Überzeugung reifen ließ, dass eine Revolution sich bewaffnet verteidigen muss, fiel er zunächst in den alten Beobachterstatus zurück, schlug sich als Sportfotograf, Straßenhändler, Nachtwächter und mit anderen Gelegenheitsjobs durch – und träumte davon, sich „wieder auf die Socken“ zu machen, von weiteren Reisen, die ihn nach Europa oder Indien führen sollten. Paco Ignacio Taibo, wie immer genau, zählt in der Korrespondenz aus jener Zeit 161 Erwähnungen von möglichen oder hypothetischen Reisen.

Seltene Einmütigkeit der Biografen: Sie entdecken einen „Jack Kerouac auf dem Amazonas, Easy Rider in den Anden“ (Castañeda), einen „faszinierenden Außenseiter“ (Anderson), einen Vagabunden auf der „Hyperlandstraße, dem Sternen-Freeway“ (Taibo). Natürlich ist das eine Projektion, in der aus Che rückwirkend ein heimlicher Seelenverwandter der beat generation gemacht wird. Und es mag überspitzt sein, wenn Fernando Mires sagt, viele hätten in Che Guevara eine Art „bewaffneten Hippie“ gesehen. Dennoch überschneiden sich die Bilder in irritierender Weise, treffen in ihrer Überblendung exakt einen Teil des Aus- und Aufbruchsgefühls der 68er-Generation, obwohl diese das Bolivianische Tagebuch studierte und die Reisenotizen, die ihm heute den Rang in der Lesergunst abgelaufen haben, gar nicht kannte. Und beruhte der Erfolg des emblematischen Porträts von Korda nicht auch darauf, dass es sich so bruchlos in die Protestästhetik der späten 60er Jahre einfügte? Der Mythos des Che hat viele Schichten.

2. Zuschauer oder Handelnder I

Auch wenn Che weiter auf der Suche nach „seiner Wahrheit“ ist, weiß er nun, dass Amerika „die Bühne seiner Abenteuer“ sein wird. Doch wenn es eine Bühne gibt, wer ist dann Zuschauer und wer Handelnder? Zum ersten Mal taucht hier ein inneres Bild auf, welches sich bei Che Guevara leitmotivisch wiederholen wird: „Der Mittelweg ist nichts anderes als das Vorzimmer des Verrats. ... Das Üble dabei ist, dass ich mich gleichzeitig nicht entscheiden kann, die entschiedene Haltung einzunehmen, die ich schon längst hätte einnehmen müssen, denn im Grunde (und an der Oberfläche) bin ich ein rettungslos verlorener Herumtreiber. ... Ich weiß nicht einmal, ob ich ein Akteur oder ein an der Aktion interessierter Zuschauer sein werde.“ Die Antipoden, zwischen denen Che Guevara hier noch schwankt, wird er im Laufe seines Lebens immer kompromissloser einander gegenübersetzen.

Der Wendepunkt: Über die kubanische Exilgemeinde in Mexiko lernt Che Fidel Castro kennen, der nach einer Amnestie aus dem Gefängnis freigekommen war und vor dem weiter bestehenden Verfolgungsdruck nach Mexiko ausgewichen war. Der Legende nach überzeugt er Che bereits auf dem ersten Treffen in einem zehnstündigen nächtlichen Gespräch, sich der geplanten Expedition anzuschließen. In Wahrheit war der Entscheidungsprozess etwas komplexer. Doch mochte zu Beginn noch die „Abenteurersympathie“ mit diesem „realistischen Wahnsinn“ (Taibo) überwogen haben, so reifte mit Beginn des militärischen Trainings die Überzeugung von der Möglichkeit, ja Gewissheit des Sieges. Che hatte seine Bestimmung gefunden, eine Entscheidung gefällt, die ihn binnen zweier Jahre an der Spitze einer siegreichen Rebellenarmee in Havanna einziehen lassen würde.

Es ist dieser Eindruck einer plötzlichen Beschleunigung, der sich im Lebens- und Zeitgefühl der 68er wiederholen sollte. Auf einmal gehen die Uhren anders. Das Gefühl, den Wind der Geschichte zu spüren, einer atemberaubenden Geschwindigkeit, in der innerhalb einer sich ständig radikalisierenden Bewegung jeder Monat den vorhergehenden überholt und in eine weit zurückliegende Vergangenheit verweist. Der offene Horizont, das Ausbrechen aus dem „Kontinuum der Herrschaft“ (Marcuse). Die Revolution als Zeitmaschine auf einer Reise, deren Ziel nicht mehr geografisch unbekannte Orte, sondern eine neue Welt, eine befreite Gesellschaft sind. Break on through to the other side.

3. Der Mythos der Sierra Maestra

Die Expedition begann mit einem Desaster und der einzigen militärischen Niederlage der Rebellenarmee. Die – verspätete – Landung der Granma wurde entdeckt, die Expeditionsteilnehmer angegriffen. Von 82 konnten nach offizieller Lesart, die auf etwas durchsichtige Art auf eine andere Geschichte Bezug nimmt, nur zwölf entkommen. Nachdem sich die Überlebenden gesammelt haben, verkündet Fidel, dass ihnen der Sieg nun nicht mehr zu nehmen sei.

Sie sind allerdings nicht allein. Sie stoßen auf eine politisierte Bauernschaft, die die Guerilleros von Anfang an unterstützt, auf ein breites Oppositionsbündnis gegen das Regime, auf ein weit verzweigtes Widerstandsnetz in den Städten – und auf eine schwankende Außenpolitik der USA.

In der späteren Legende sollte vieles davon in Vergessenheit geraten. Sie konzentriert sich auf eine Heldensaga, in der sich eine Handvoll Guerilleros in den Bergen verankert, zu einer kleinen Rebellenarmee heranwächst, schließlich eine Militäroffensive von 10.000 Soldaten, die bis auf wenige Kilometer an die Kommandantur in La Plata herankommt, mit nur 300 Kämpfern zurückschlägt und um der Verrücktheit die Spitze aufzusetzen anschließend die „Invasion“ der Insel beschließt. An der Spitze dieser Invasion stehen Camilo Cienfuegos und – Che Guevara. Eine winzige Streitmacht, die auf einem Fußmarsch von 47 Tagen die halbe Insel durchquert, bis sie die Sierra de Escambray erreicht, sich hier nicht etwa ausruht, sondern wenig später die „Endoffensive“ erklärt und nach einigen Blitzfeldzügen mit der legendären Schlacht von Santa Clara die kriegsentscheidende Auseinandersetzung gewinnt. Batista flieht ins Ausland, die Revolution hat gesiegt. Zwischen der Offensive der Regierungsarmee und dem Einzug der Rebellen in Havanna liegt gerade mal ein halbes Jahr.

Man kann diesen Teil der Geschichte so erzählen, und vielleicht muss man ihn auch so erzählen (und Taibo unternimmt dies meisterhaft und durchaus nicht unkritisch), um die ungeheure Ausstrahlungskraft der kubanischen Revolution auf den südamerikanischen Subkontinent in den 60er Jahren voll verstehen zu können. Die Verklärung dieser epischen Seite des Kampfes zum Mythos der Sierra Maestra hat allerdings einige gravierende Ausblendungen zur Folge.

Zum einen die Ausblendung des Kampfes in den Städten, ohne den die Revolution niemals gesiegt hätte (und der vermutlich die meisten Opfer kostete). Das ganze Jahr 1957 tobte ein erbitterter interner Kampf zwischen der Sierra und der „Ebene“, dem llano. Che war dabei der entschiedenste Verfechter des Primats der Sierra, d.h. der Unterordnung der Stadt sowie der politischen Strukturen des 26. Juli unter das strategische Kommando der Guerilla in den Bergen. Die städtische Linke – auch die studentische des Revolutionären Direktoriums, das am 13. März 1957 einen fehlgeschlagenen Angriff auf den Präsidentenpalast Batistas durchgeführt hatte (und von Che bemerkenswerterweise als grupo terrorista bezeichnet wird) – war ihm zutiefst suspekt und des Reformismus verdächtig. Nur der Kampf in den Bergen war der Garant der Reinheit der Revolution, des Bündnisses mit den Bauern, der Durchführung der Agrarreform.

Mit der Ausblendung der Stadt einher ging die Ausblendung der Frauen, die im urbanen Widerstand eine herausragende Rolle spielten, während die Sierra ein fast ausschließlich männlich geprägtes Universum zu sein scheint. Es ist charakteristisch, dass so beeindruckende Frauen wie Celia Sánchez, Vilma Espín oder Aleida March, die in den städtischen Netzen des 26. Juli bedeutende Schlüsselstellungen innehatten, nach ihrem Anschluss an die barbudos binnen kurzem nur noch als Geliebte, Gefährtinnen, Ehefrauen der Comandantes auftauchen. In Der Guerillakrieg wird Che ihnen eine bemerkenswerte Fähigkeit zuschreiben: „Sie bringen es sogar fertig, durch ihr Wirken ganzen Guerillagruppen das Leben durch gewisse häusliche Annehmlichkeiten zu erleichtern.“

„Zu nichts nutze und schlimmer als Frauen“ fand er später im Kongo die afrikanischen Kämpfer. Deren Reaktion auf die Strafpredigt: Sie „brachen mit beunruhigender Einfalt in Gelächter aus“. Auch der guerrillero heróico ist ein soldatischer Mann. (Anmerkung: Das Personenregister der Biografien von Anderson und Castañeda weist bei jeweils über fünfhundert Namensnennungen einen identischen Frauenanteil von gerade mal sieben Prozent auf.)

Trotz aller Einwände: Kuba war der praktisch geführte Beweis für die Möglichkeit der Revolution. Gegen den Sklerotismus und das Etappenmodell der kommunistischen Parteien fasst Guevara die kubanische Erfahrung zusammen: „Nicht immer muss man warten, bis alle Bedingungen für eine Revolution gegeben sind, der aufständische Fokus kann solche Bedingungen selbst schaffen“ (Der Guerillakrieg). Die Guerilla ist die bewaffnete Avantgarde, die wichtigste Besonderheit des Krieges „der Wille zur Freiheit“. Bedingung für den Erfolg ist die Verschmelzung der Aufständischen mit den bäuerlichen Massen mittels der Landreform. Der Guerillero ist ein Agrarrevolutionär.

Was hier noch die Zusammenfassung einer Erfahrung war, wurde von Régis Debray mit Revolution in der Revolution als Fokustheorie in eine brillante, aber dogmatische Lehre verwandelt, die er später mit der gleichen ihn charakterisierenden Eloquenz „widerlegen“ sollte.

Für Tausende von Militanten Südamerikas war die Schlussfolgerung einfacher: Wenn die Revolution möglich war, musste man sie auch versuchen. Das hatte nichts Irrationales, war keineswegs – wie die intelligente Rückschau nahe legt – von vornherein zum Scheitern verurteilt, sondern eine überaus vernünftige Entscheidung. Castañeda sieht das anders: Für ihn trägt Che Guevara eine historische Schuld daran, dass „so viele Studenten aus der aufstrebenden Mittelklasse der Region so unschuldig ihrem Gemetzel entgegengingen“. Besser kann man die Unsinnigkeit einer retrospektiven Sichtweise nicht zusammenfassen, die von ihrem analytischen Hochsitz aus die Noten verteilt, nachdem alle Schlachten geschlagen sind.

4. An der Macht – die Quadratur des Kreises

Die ersten Wochen in Havanna verbringt Che Guevara als Kommandant der Festung La Cabaña. In diese Phase fällt eines der düstersten Kapitel der kubanischen Revolution: die Hinrichtung von über 500 Funktionsträgern, Folterern und Spitzeln des alten Regimes. Che Guevara hatte damit keine Probleme. Hinrichtungen – und Scheinerschießungen – u.a. von Deserteuren waren bereits in der Guerilla durchaus an der Tagesordnung gewesen. Che selbst hat sie in einigen Passagen der Episoden aus dem Revolutionskrieg mit teilweise pathetischen Worten geschildert und war für seine eiserne Strenge und brutale Disziplin berüchtigt. Bei aller rebellischen Haltung – Che war gewiss kein Antiautoritärer. Revolutionen neigen dazu, ihr Bild einer befreiten Gesellschaft aus der Phase des Befreiungskampfes selbst abzuleiten. Und die kubanische Guerilla war keine Schule der Anarchie.

Gegen Ende des Jahres wird Che zum Leiter der Industrialisierungsabteilung des Agrarreforminstituts INRA ernannt, dann zum Präsidenten der Nationalbank, schließlich zum Industrieminister. In Revolutionen ist vieles möglich. Ausgerechnet Che, dem materielle Güter nichts bedeuten und der Geld geradezu verachtet, zieht die Fäden der kubanischen Ökonomie. Und begibt sich in eine Hexenküche ...

Che kopiert zunächst vollständig das sowjetische Entwicklungsmodell: schnelle Industrialisierung, Produktivismus, Kult der Arbeit. Und scheitert damit weitgehend. Erst langsam, dann immer schärfer formuliert er eine Kritik an der SU: der Eigenständigkeit der Betriebe, die sich so in „kleine kapitalistische Monster“ verwandeln, dem Prinzip des „materiellen Anreizes“, der an den Egoismus der Produzenten appelliert.

Der innere Richtungsstreit in der Führung der Revolution kulminiert schließlich in der berühmten „Planungsdebatte auf Kuba“. Gegenüber den Pragmatikern, die die Marktgesetze nicht völlig außer Kraft setzen wollen, entwickelt Che zwar eine scharfsinnige Kritik des Wertgesetzes und betont den Primat der Politik vor der Ökonomie. Letztlich wird er damit nicht über den Rahmen einer später auch hierzulande geläufigen „Revisionismuskritik“ hinauskommen. Weil er auf das planwirtschaftliche Kommandomodell fixiert bleibt, kann er keine Vorstellung eines wirklich vergesellschafteten und an den Gebrauchswertinteressen der Menschen orientierten Wirtschaftens entwickeln. Er bleibt, um es mit Taibo drastisch zu formulieren, Gefangener eines „Neandertaler-Marxismus“. Seine Reformbemühungen bleiben so im Versuch, die Quadratur des Kreises zu schaffen, stecken. Er befürwortet eine Hyperzentralisierung der Wirtschaft und kämpft verzweifelt gegen die Bürokratie, die doch notwendig aus ihr hervorgeht. Er beklagt den Absentismus, ist entsetzt vom Mangel an Qualität, möchte die entstehende Korruption am liebsten durch „Füsilierungen“ (eine Strafe, die er im Scherz immer wieder androht) oder Arbeitslager stoppen. Aber solange die Arbeitenden sich mehr als Angestellte des Staates, denn als Eigentümer der Bedingungen ihrer Produktion fühlen, müssen alle Appelle an das revolutionäre Bewusstsein, die „moralischen Anreize“ letztlich verpuffen. Sie funktionieren nur in Phasen einer außergewöhnlichen politischen Mobilisierung.

Was bleibt, ist sein Traum einer egalitären Gesellschaft ohne Privilegien. Die außerordentliche Wertschätzung, die Che auch heute noch auf Kuba genießt, beruht u.a. darauf, diesen Egalitarismus beispielhaft gelebt zu haben.

5. Der neue Mensch

In diesen Jahren nahm eine Vision Gestalt an, die auch von anderen Theoretikern der antikolonialen Revolution beschworen wurde: die Schaffung eines neuen Menschen. Möglicherweise ist Che Guevara dabei durch die Lektüre Fanons – dessen Witwe Josie Che Ende 1964 in Algier traf – inspiriert worden. Es war dies Ches – und unser? – schönster und gefährlichster Traum. Ein Traum, der schwankte zwischen dem Ziel der Überwindung aller Gesellschaftszustände, in denen der Mensch ein erniedrigtes, geknechtetes, beleidigtes Wesen ist, der Transzendenz des Bestehenden, und dem Anvisieren einer neuen Gattung, der gegenüber der gegenwärtige, empirische Mensch notwendig ein defizitäres Wesen sein musste. Sartre spricht im Vorwort zu den Verdammten dieser Erde von „einem neuen Menschen – von besserer Qualität“, der „ein Sohn der Gewalt“ sei. Im Bolivianischen Tagebuch sollte Che den Revolutionär zur „höchsten Stufe in der Entwicklung der Menschheit“ verklären. Aber gibt es verschiedene „Stufen“ des Menschseins?

In Der Sozialismus und der Mensch auf Kuba beschreibt Che als „die letzte und wichtigste revolutionäre Bestrebung“, den Menschen aus seiner Entfremdung zu befreien – aber in Worten, die z.T. wie ein anthropologisches Experiment anmuten: mit „Volksmassen, die der Zukunft als ein harmonisches Ganzes aus Kanälen, Stufen, Staudämmen und gut geölten Apparaten entgegenmarschieren“ und auf ihrem Vormarsch „eine natürliche Auslese“ der Avantgarde ermöglichen; mit einer Jugend, die der „Ton“ ist, „aus dem sich der neue Mensch ohne all seine früheren Mängel formen lässt“. Das Spannungsverhältnis, in dem diese Bilder zur „Liebe zur lebendigen Menschheit“ stehen, war Che wohl bewusst. So schreibt er im gleichen Text: „Unter diesen Umständen braucht man ein großes Maß an Menschlichkeit, ein großes Maß an Gerechtigkeits- und Wahrheitssinn, um nicht in dogmatische Extreme, in kalte Scholastik zu verfallen ...“

Der Widerspruch dieser beiden Pole ist bei Che stets spürbar: in seinem Gerechtigkeitsgefühl, dem Bemühen, dem individuellen Menschen gerecht zu werden, und seinem Protagonistentum als Ingenieur der Geschichte, in dem der Einzelne nur ein Rädchen in der großen Revolutionsmechanik ist; in seiner äußersten Bescheidenheit und der in dieser verborgenen Hybris; in seiner Selbstlosigkeit und den überstiegenen Forderungen an andere. Seine grundlegende Überzeugung, dass Worte ohne Taten wertlos sind, hat er auch hier nicht in Frage gestellt. Den neuen Menschen im Selbstexperiment zu erproben, war Che jederzeit bereit.

Ein Selbstentwurf im Angesicht der Geschichte. Das Sendungsbewusstsein: An zahllosen Stellen – vor allem seiner privaten Korrespondenz – spricht Che von der Gewissheit, eine „Mission“ zu haben, eine „Bestimmung“ erfüllen zu müssen.

Gegenstimmen: „Wir sind nicht der neue Mann oder die neue Frau. Der Zapatismus ist nicht die neue Welt. Wir sind Frauen und Männer wie andere auch, mit unseren Niederträchtigkeiten und Egoismen, mit unseren Schwächen und Fehlern“ (Marcos, Subcomandante). „Es ist schwer, gegen Mythen zu kämpfen. ... War ich so, wie die Menschen es von mir dachten, die Starke, die Tapfere, die Mutige, Pepita la Pistolera, oder war ich eine gewöhnliche Frau mit meinen Schwächen und Ängsten, die außerdem kämpfen wollte ...? Als wir freikamen, idealisierten uns viele Menschen, man war DIE heldenhafte Guerillera, etwas Besonderes. ... Niemals werden wir eine Revolution mit neuen Menschen machen. Wir werden sie machen mit dem, was uns zur Verfügung steht, mit verletzlichen Männern und Frauen“ (Yessie Macchi, Tupamara).

6. Der Wille – der „große Dynamo“ (Taibo)

Das Denken Ches war von einer erstaunlichen Homogenität. Die Klammer, die seinen ökonomischen Ansatz mit dem Guerillakonzept verbindet, ist die Hervorhebung des Willens, des revolutionären Bewusstseins als Hebel der Veränderung, für den nur noch der archimedische Punkt gefunden werden musste, um die alte Welt aus den Angeln zu heben. Diese Haltung reichte bei Che bis in die Selbstästhetisierung hinein. Im Abschiedsbrief an seine Eltern wird er von dem „starke[n] Willen[n], den ich mit dem Vergnügen eines Künstlers geschliffen habe“, sprechen.

Dem ist damals und später der Voluntarismusvorwurf gemacht worden. Dennoch war dies die Grund- und Aufbruchstimmung einer ganzen Generation, die davon ausging, dass die Verhältnisse für eine Revolution „reif“ seien. Und wenn dem so war, musste man dann nicht alles versuchen und alles in die Waagschale werfen? Konnte nicht erst das Handeln zeigen, was möglich war und was nicht? Wenn die Betonung des subjektiven Willens „objektive“ Gründe in der Zeit hatte, waren dann nicht die „Deterministen“ in Wahrheit nur Wärter des Gefängnisses Geschichte?

Selten ist die Rolle des Subjekts in einem Projekt revolutionärer Veränderung so emphatisch herausgestrichen worden.

7. Guerilla: Vom Kongo nach Ñancahuazú

Schon früh antwortete Che auf die Frage eines über den radikalen Kurs der kubanischen Regierung erschrockenen Bankbeamten, wie das denn alles enden solle, mit: „Natürlich mit Schüssen.“ Die Invasion in der Schweinebucht und die folgende im Schatten der Atomraketen stehende Kubakrise hatten zweierlei deutlich gemacht: dass die Konfrontation mit den USA zu einer unumkehrbaren Tatsache geworden war und dass Kuba in eine völlige Abhängigkeit von der UdSSR geraten würde, wenn es nicht gelingen würde, die Revolution aus ihrer Isolierung zu befreien. Um die Jahreswende 64/65 reagierte Guevara auf beides: mit einem massiven Angriff auf die USA in seiner Rede vor den Vereinten Nationen und mit einer unverhüllten und jede diplomatische Rücksichtnahme außer Acht lassenden Kritik an den Beziehungen der Sowjetunion zu den Ländern der Dritten Welt in seinem Beitrag auf dem 2. Wirtschaftsseminar der Afroasiatischen Solidarität in Algier. Che hatte die Brücken hinter sich abgebrochen. Die einzige Möglichkeit, Kuba aus seiner Zwangslage zu befreien und so vielleicht auch die inneren Probleme der Insel zu bewältigen, bestand in der Kontinentalisierung der Revolution. Im März 1965 verzichtet er in seinem erst später veröffentlichten Abschiedsbrief an Fidel auf all seine Ämter und verschwindet aus der Öffentlichkeit.

Der ursprüngliche Traum Ches – im Rahmen seiner Vision von den Anden als der Sierra Maestra Lateinamerikas – scheint gewesen zu sein, eine Guerilla in seinem Heimatland Argentinien anzuführen. Seit 1961 war – u.a. in Algerien – eine Vorhut unter Jorge Masetti, dem argentinischen Journalisten, der Che in der Sierra Maestra interviewt hatte und später an der Gründung der Prensa Latina beteiligt war, ausgebildet worden. Als EGP trat sie 1963 im Norden Argentiniens in Aktion. Das traurige Schicksal der „Guerilla von Salta“, die außer Hinrichtungen in den eigenen Reihen durch keine nennenswerten Aktionen hervortrat und schon ein Jahr später von den Militärs aufgerieben wurde (Masetti verschwand spurlos im Dschungel), hat Jon Lee Anderson als erster detailliert beschrieben.

1965: „Das Jahr, in dem wir nirgendwo waren“. Das vollständige Scheitern der Expedition in den Kongo, die in ihren Details erst in den letzten Jahren bekannt wurde, verstellt den Blick darauf, dass sie im kubanischen Engagement in Afrika durchaus eine Vor- und eine Nachgeschichte (z.B. in Angola) hatte. Die algerische Revolution erschien als eine Art Parallelereignis zu Kuba auf dem afrikanischen Kontinent. Ben Bella war ein enger Freund Che Guevaras, welcher in Algier die Möglichkeiten eines „afrikanischen Vietcongs“ auslotete. (Mit der Bombardierung Nordvietnams hatte im August 1964 der eigentliche Vietnamkrieg begonnen.) Ches Guerilla im Kongo, die die lumumbistische Opposition unterstützen sollte, spiegelt eine typische Paradoxie. Ihrer geopolitischen Stimmigkeit in einem weltrevolutionären Projekt korrespondierte eine geradezu erschütternde Unkenntnis der Bedingungen vor Ort. Nasser hatte Che Guevara gewarnt, dass sein persönliches Engagement nur als das Auftreten eines neuen „Tarzan“ empfunden werden könne. Das Unternehmen endete in einem Desaster, aus dem Che nur die „wertvollen Erfahrungen einer Niederlage“ ziehen konnte. Es ist charakteristisch für ihn, dass er dennoch nur mit Mühe zu überzeugen war, den Kongo zu verlassen, und vorher mit dem Gedanken gespielt hatte, sich quer durch den unbekannten Dschungel zu der tausend Kilometer entfernt operierenden Front Pierre Muleles durchzuschlagen.

Eine weitere Etappe war zu Ende gegangen. „Seid ihr bereit weiterzumachen?“ soll Che laut Pombo seine kubanischen Mitkämpfer gefragt haben. Die Antwort auf die Frage „Wo?“ lautete: „Wo auch immer.“

Die kongolesische Erfahrung scheint Che darin bestärkt zu haben, sich bei seinem nächsten Versuch ausschließlich auf die eigenen Kräfte zu stützen und von Beginn an die alleinige Befehlsgewalt zu beanspruchen, um „einen vorbildlichen Kern zu bilden, hart wie Stahl“ (!). Die bolivianische Guerilla erscheint wie ein Fokus aus dem Lehrbuch, von geradezu chemischer Reinheit. Es ist vielfach beschrieben worden, warum sie – isoliert von allen Bedingungen, die in Bolivien für eine Revolution notwendig gewesen wären – scheiterte.

In vielen Darstellungen wird allerdings außer Acht gelassen, dass das eigentliche Ziel des Fokus von Ñancahuazú nicht die Machtergreifung in Bolivien war. Gedacht war er vielmehr als eine Art „Mutterguerilla“, aus der Kolonnen in den angrenzenden Ländern Lateinamerikas hervorgehen sollten. Dies erklärt auch die isolierte Lage des ausgesuchten Stützpunkts, der als Rückzugsposition und Ausbildungsstellung gedacht war. Ches Strategie war die Schaffung einer kontinentalen Guerilla, die ihrerseits Teil einer neuen trikontinentalen Internationale sein sollte, wie sie auf der Lateinamerikanischen Solidaritätskonferenz (OLAS) 1967 in Havanna Gestalt annahm. Gerade weil die kubanische Revolution in die Isolation geraten war und den verschiedenen Aufstandsherden in Lateinamerika der Durchbruch nicht gelungen war, versuchte Che mit einer gewaltigen Kraftanstrengung ein Projekt zu schaffen, das die Synthese all dieser Kämpfe ermöglichen sollte. Es war der Traum Bolívars in neuer Gestalt. Auch wenn Che Guevara damit scheiterte, bleibt er – nicht nur – für Taibo „weiterhin der Herold der lateinamerikanischen Revolution“.

8. Zuschauer oder Handelnder II – die Botschaft an die Trikontinentale

„Die Solidarität der fortschrittlichen Mächte der Welt mit dem vietnamesischen Volk ähnelt der bitteren Ironie, die der Beifall des Pöbels für die Gladiatoren im römischen Zirkus bedeutete. Es geht nicht darum, den Opfern der Aggression Erfolg zu wünschen, sondern an ihrem Schicksal teilzunehmen, sie bis zum Tode oder bis zum Sieg zu begleiten.“

Es ist der gleiche Ton, in dem Fanon wenige Jahre zuvor geschrieben hatte: „Es gibt keine reinen Hände, keine Unschuldigen, keine Zuschauer. Wir sind alle dabei, uns die Hände schmutzig zu machen in den Sümpfen unseres Bodens und der furchtbaren Leere unserer Gehirne. Jeder Zuschauer ist ein Feigling oder ein Verräter.“ Auch Sartre hatte in seinem Vorwort zu den Verdammten dieser Erde die Möglichkeit eines neutralen Status – „weder Opfer noch Henker“ – bestritten: „Ein Mensch, das heißt bei uns ein Komplize, weil wir alle von der kolonialen Ausbeutung profitiert haben.“

Die alte Opposition Zuschauer/Handelnder wird hier noch einmal zugespitzt. Auflösen ließ sich diese Spannung nur durch die Bereitschaft zu einem grenzenlosen Engagement. Das Zusammentreffen zwischen der Revolution in der Dritten Welt und dem Aufbruch des Jahres 1968 ließ den Traum von einer neuen kämpferischen Internationalen auch in den Metropolen lebendig werden. Der Internationale Vietnamkongress in Berlin wird unter einem riesigen Transparent in den Farben des Vietcong tagen. Es trägt die Aufschrift „Die Pflicht jedes Revolutionärs ist es, die Revolution zu machen“ und zitiert damit den letzten Satz aus der Proklamation der OLAS-Konferenz. In einer einzigartigen und später so nie wieder denkbaren Simultaneität der Kämpfe erschien die Befreiung als ein weltweites Projekt – und die über den Globus verstreuten geografischen Orte der Konfrontation nur als verschiedene „Bühnen“, auf denen die unterschiedlichsten Akteure an seiner Realisierung arbeiteten. Es ist dieser Horizont, aus dem die Militanz der Neuen Linken – und der „bewaffnete Kampf” – ihre Plausibilität bezogen.

9. Gretchenfragen

Fernando Mires hat geschrieben, dass es unmöglich sei, den Mythos des Che von dem „wahren“ Che zu trennen, weil dieser Mythos unsere eigene Schöpfung sei, Ausdruck unserer eigenen Träume, verwoben in das Lebensgefühl einer ganzen Generation. Die Frage, was davon geblieben ist, hätten wir demnach an uns selbst zu richten. Wovon träumen wir heute? Träumen wir noch? Welche Gespenster treiben uns um?

Biografien:

Paco Ignacio Taibo II: Che. Die Biographie des Ernesto Guevara. Sonderausgabe
Edition Nautilus (2002), ISBN 3-89401-392-3, 35,90 sFr / 19,90 Eur[D] / 20,50 Eur[A]

Jon Lee Anderson: Che. Die Biographie
Ullstein TB (2001), ISBN 3-548-60122-7, 22,70 sFr / 12,95 Eur[D] / 13,40 Eur[A]

Jorge G. Castañeda: Che Guevara
Suhrkamp (2003), ISBN 3-518-45592-3, 21,20 sFr / 12,00 Eur[D] / 12,40 Eur[A]

© links-netz Juli 2003