Home Archiv Links Intern Editorial Impressum
 
 
Neue Texte
 

Schwerpunkte

Sozialpolitik als Infrastruktur
Ende der Demokratie?
 

Rubriken

Deutsche Zustände
Neoliberalismus und Protest
Bildung
Krieg und Frieden
Biomacht und Gesundheit
Kulturindustrie
Theorie: Empire, Kommunismus und andere Angebote
Rezensionen
 
 

Anzeige

Neoliberalismus und Protest Übersicht

 

  Nur Text    rtf-Datei    pdf-Datei 

Der Front National – Diskurs und Programmatik einer „rechtspopulistischen“ Partei

Der Front National – Eine Partei der Unterklassen?

Sebstian Chwala

Das Gespenst des „Rechtspopulismus“ geht um in Europa. Seit mehr als einem Jahrzehnt eilen Formationen, denen die Sozialwissenschaften allzu schnell dieses Label zuerkannt haben, von Wahlerfolg zu Wahlerfolg. Kaum ein europäisches Land ist inzwischen noch davor gefeit. Dies machte und macht den Versuch, den Erfolg der neuen Rechtsparteien zu verstehen, notwendiger denn je. Eine große Menge sozialwissenschaftlichen Publikationen ist deshalb in den letzten Jahren und Jahrzehnten erschienen, die sich dieser Aufgabe angenommen haben.

Bei dem Versuch, den „Populismus“ als charakterisierendes Merkmal für den Erfolg dieser Parteien der radikalen Rechten zu identifizieren steht vor allen Dingen ein Milieu besonders im Mittelpunkt des Interesses: die europäischen Unterklassen. Jene seien spätestens mit dem Beginn der Transformationsprozesse des fordistischen Kapitalismus und der einsetzten Massenarbeitslosigkeit als besonders anfällig für die Parolen politischer Parteien zu bezeichnen. Denn die Ablehnung von Migration und die Rückkehr zum wohlgeordneten, nationalstaatlich organisierten Kapitalismus – zentrale Themen der radikalen Rechten – gelten als überzeugendes politisches Angebot für Menschen, die sozialen Abstieg erlebt hätten und keine Erwartungen mehr in die etablierten Parteien besäßen. Diese hätten mit ihrer Politik der Deregulierung und der fortschreitenden Liberalisierung aller gesellschaftlichen Bereiche gerade jenes Milieu besonders verunsichert

Das sind Thesen, die in Frankreich schon lange diskutiert werden, da mit dem Front national (FN) eine Partei der radikalen Rechten dort schon seit inzwischen über 30 Jahren politische Erfolge verzeichnet. Auch hier wird der Niedergang der Industriearbeiterschaft und der wachsende Anteil eines neuen und prekarisierten Dienstleistungsproletariats als Hauptgrund einer wachsenden Annäherung zwischen Lohnabhängigen und einer politischen Formation am rechten Rand des politischen Spektrums gesehen (Braconnier/Mayer 2012: 30). Nicht umsonst wird der stark „populistische“ Charakter des FN betont. Schließlich zeichneten sich populistisch agierende Parteien durch eine starke Opposition gegen den Prozess der sozialen Entbettung aus und plädierten für die Stärkung traditioneller Lebensweisen, während Intellektuelle und die herrschenden Eliten für die Fehlentwicklungen verantwortlich gemacht würden (Priester 2012: 11).

Auf den ersten Blick sind das alles Einstellungsmuster, die man ehesten den unteren gesellschaftlichen Gruppen zuordnet. Denn die starke Abgrenzung zu Eliten, einhergehend mit räumlicher Segregation, die natürlich seit jeher eine starke Rolle in den Arbeiter*innenmillieus spielten, wurde ergänzt durch die Unterstellung, im Proletariat seien besonders stark dominierende Formen von „Sozialkonservatismus“ vorzufinden. In der Arbeiterklasse seien „Männlichkeit“, die klassische Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern bzw. geringe ökonomische und gesellschaftliche weiblicher Autonomie, niedriger Bildungsgrad und die Zustimmung zu autoritär und hierarchisch strukturierten politischen und staatlichen Strukturen besonders verbreitet (Siblot u.a, 2015 / Bréchet 2012).

Und tatsächlich, „Arbeiter“ sind, glaubt man Umfragen und Nachwahlbefragungen, die größte Gruppe der Unterstützer*innen des FN. Eine Tatsache, die manche*n Autor*innen dazu verleitet, die „Neue Rechte“ in Frankreich als Fortsetzung der „alten Linken“ zu bezeichnen, Gesellschaftspolitisch konservative Einstellungsmuster würden mit sozialpolitisch progressiven Forderungen einhergehen (Kauffmann 2016 / Crépon 2012). Denn die Ablehnung von Migration und die Rückkehr zum wohlgeordneten, nationalstaatlich organisierten Kapitalismus – zentrale Themen der radikalen Rechten – gelten als überzeugendes politisches Angebot für Menschen, die sozialen Abstieg erlebt hätten und keine Erwartungen mehr in die etablierten Parteien besäßen Diese hätten mit ihrer Politik der Deregulierung und der fortschreitenden Liberalisierung aller gesellschaftlichen Bereiche gerade jenes Milieu besonders verunsichert

Der Mainstream verklärt den FN zur linken Partei – Folgen des „Totalitarismusdiskurses“

Nach Übernahme des Parteivorsitzes des Front national durch Marine Le Pen 2011wurde eine „Linksverschiebung“ des FN unter Journalisten und bei Teilen des wissenschaftlichen Feldes neuerlich wirkungsmächtig. Der Erfolg des FN wurde vor allen Dingen als Ergebnis einer Linksverschiebung der Partei angesehen. Manche Akteure gehen sogar so weit, den FN unter der Hand als neue sozialistische Partei zu bezeichnen. Schließlich sei der FN die einzige Partei, die derzeit noch konsequent die sozialstaatlichen Strukturen gegen neoliberale Angriffe der politischen und gesellschaftlichen Eliten verteidige (Kauffmann 2016: 14).

Dass offensichtlich ein Bedürfnis besteht, Parteien am rechten Rand in Beziehung zu den Linken zu setzen, hat mit den Debatten französischer Historiker in den späten 1970ziger Jahren zu tun. Hatte man bis dahin schlicht und ergreifend nicht akzeptieren wollen, dass auch in der französischen Geschichte relevante rechtsradikale Akteure anzutreffen sind, musste man sich durch die Studien des israelischen Historikers Sternhell eines Besseren belehren lassen. Spätestens seit dem späten 19 Jahrhundert existierten in Frankreich sehr wohl bedeutende antirepublikanische, nationalistische und antisemitische Kräfte. Doch der Mainstream der Historiker wollte sich nicht damit abfinden, dass extrem rechte Gruppen durchaus von etablierten und schlicht konservativen gesellschaftlichen Kräften getragen wurden. So wurde die radikale Rechte einfach umdefiniert. Im Kern vertrete sie revolutionäre Absichten, zu denen auch der Wunsch nach sozialpolitischen Reformen gehört habe, und deren Akteure seien sozialökonomisch an den gesellschaftlichen Rändern beheimatet. Weshalb gerne nach dem „kommunistischen Element“ in rechtsradikalen Organisationen und oder bei den mit den deutschen Besatzern Kollaborierenden gesucht wurde.

Nicht zuletzt spielte dabei der in Frankreich grassierende „Antitotalitarismus“ eine wichtige Rolle. Dieser hatte das Ziel, die politische Bedeutung der Französische Revolution gänzlich umzudeuten. So wurde der „terreur“, Bestandteil der durch eine jakobinische Hegemonie gekennzeichneten Jahre der Revolutionsperiode als Ausdruck dafür gesehen, dass Aufstände der gesellschaftlichen Basis grundsätzlich Chaos und Diktatur zur Folge hätten. Zwar zeichnete sich diese Phase auch durch starke basisdemokratische Elemente aus und es wurden das erste Mal soziale Rechte in der Verfassung der jungen Republik verankert. Dennoch wog für Kommentatoren, wie François Furet der regressive Einfluss ungebildeter Massen viel höher. Schließlich hätte ihre rein auf Emotionalität und Unvernunft beruhende politische Intervention zur physischen Vernichtung der Eliten, nicht aber zu einer wirklichen gesellschaftlichen Reform geführt (Christofferson 2009: 303 ff.)

Wenn die Infragestellung der Eliten letztendlich noch viel schlimmeren Verletzungen der Menschenrechten zur Folge habe als jene des alten Regimes, wäre jede grundsätzliche Reform gesellschaftlicher Verhältnisse letztendlich nicht nur unnötig, sondern sogar abzulehnen. So meinten es wenigstens die „Neuen Philosophen“ um Bernard- Henry Lévy und plädierten für eine offensive Verteidigung der westlichen liberalen Kapitalismus und seiner gesellschaftlichen Hierarchien Dies war gegen die politisch einflussreiche Kommunistische Partei (PCF) und ihre enge Bindung an die „stalinistische Volksdemokratie“ Sowjetunion gerichtet (Christofferson 2009: 245 ff). Die PCF bezog sich spätestens seit der Volksfrontregierung, die man parlamentarisch gestützt hatte, theoretisch unmittelbar auf die jakobinische Traditionslinie, der zu Folge auf die bürgerliche Französische Revolution, der eine weitere, nunmehr sozialistische folgen sollte. Gleichzeitig akzeptierte die PCF aber damit die französische Nation und den Republikanismus als Teil der eigenen Traditionslinie.

Die Intellektuellen der antitotalitären und antikommunistischen Phase argumentierten deshalb für eine Aufwertung konsensorientierter Formen der Politik und wollten an die Stelle von direktdemokratischer Verfahren die Herrschaft rationaler Experten setzen, die als kompetente Vermittler zwischen Eliten und Volk agieren und entscheiden sollten. Politik sollte pragmatisch handeln und nicht emotionsgeladen sein. Die „Massen“ sollten von politischen Entscheidungen ferngehalten und die indirekte bzw. parlamentarische Demokratie gestärkt werden. Stark gemacht wurde dies vor allen Dingen von Intellektuellen aus dem „sozialdemokratischen“ Milieu wie dem späteren Premierminister Michel Rocard oder dem Historiker Pierre Rosanvallon, aber auch von sozialpartnerschaftlich orientierten Gewerkschaften. Dieser Entwicklung stand die PCF entgegen, die eine „Tribuzianische Funktion“ ausübe. Dieser Begriff stammte aus der Feder des Politikwissenschaftlers George Lavau, der der PCF vorhielt, niemals eine positive und deshalb relevante Rolle im politischen Parteiensystem gespielt zu haben. Die Partei hätte niemals mehr geleistet als die Unterklasse durch Protest gegen die Eliten an sich zu binden . Dass der „Populismus des FN“ dasselbe Wähler*innenmilieu erreichen würde, weil er sich der gleichen Strategie bedienen würde, scheint deshalb nur logisch.

Der FN der Marie Le Pen – weiblicher, sozialer und demokratischer ?

Die Deutung des FN als Partei der „kleinen Leute“ ist also durchaus nicht nur das Ergebnis eines veränderten Diskurses der Partei selbst, sondern wurde von einigen Akteuren aus dem politischen und wissenschaftlichen Feld absichtlich gewollt, um die Infragestellung des Sozialstaates und damit einhergehend nationalstaatlich regulierter Wirtschaftsstrukturen zu legitimieren. Dies, indem die sogenannten „Volksklassen“ als „Modernisierungsverweigerer“ dargestellt werden. Nichtsdestotrotz hat besonders unter Marie Le Pen, die geschickt versucht die mediale Abwertung der „Arbeiter*nnenklasse“, für den Front national zu nutzen, eine scheinbare Veränderung der Rhetorik des FN stattgefunden. Als der Partei der „Malocher“ wahrgenommen zu werden kann deshalb durchaus als Erfolg der Partei und von Marine Le Pen bezeichnet werden.

So versuchte Marine Le Pen, andere Themenfelder als ihr Vater zu besetzten. Insbesondere bei wirtschaftspolitischen Fragestellungen ging sie in den letzten Jahren in die Offensive. Während Le Pen senior lieber über Migration sprach, wartete sie in den Fernsehstudios „bewaffnet“ mit Zahlen und Daten mehr oder weniger bedeutender Ökonomen auf und versuchte den FN als kompetente Wirtschaftspartei darzustellen (Alduy 2016: 21). Sie griff aber auch Themenfelder auf, die in der Vergangenheit von der Linken besetzt wurden. So tauchten Begrifflichkeiten wie „soziale Gerechtigkeit“, „große Unternehmer“ oder „Finanzkapital“ verstärkt in ihren Reden auf.. Sie besaß ebenfalls keine Scheu, sich positiv auf die Republik oder den Laizismus zu beziehen. All dies sagt freilich wenig über den Inhalt ihrer Interventionen aus. Schaut man sich näher an, in welchem Kontext z.B. der Begriff „Laizismus“ bei ihr genutzt wird, fällt auf, dass dieser fast nur in negativer Konnotation zum Begriff Islam stehen, während Christen- oder Judentum kaum Erwähnung finden (Alduy 2016: 22).

Es scheint, dass sich der FN und Marine Le Pen sich wenig für den Kerngedanken der in Frankreich herrschenden Trennung von Staat und Religion interessieren, wie sie 1905 Eingang in die französische Gesetzgebung gefunden hatte. Dabei besteht dessen Kerngedanke eben nicht darin, das religiöse Bekenntnis, schon gar nicht jene bestimmter Glaubensgruppen vollständig aus dem öffentlichen Leben verschwinden zu lassen. Er besteht vielmehr schlicht und ergreifend darin, dass von staatlicher Seite keine finanzielle Unterstützung mehr erfolgt und staatliche Institutionen – hier stehen insbesondere die Bildungseinrichtungen im Fokus – angewiesen sind, strikte Neutralität zu wahren. Doch besonders seit Beginn der 2000er Jahre versucht die Rechte, die Werte des vermeintlichen westlichen Liberalismus als Grundbestandteil einer „Neuen Laizität“ erscheinen zu lassen, indem sie sich gegen muslimische Milieus richtet. Gleichzeitig und unter der Hand bleibt allerdings das traditionelle, katholische Frankreich das Orientierungsmerkmal der Rechten erhalten (Bauberot 2016).

Dies gilt besonders für den FN, der sogar versucht die christliche Tradition als Grundbestandteil der französischen Identität zu verkaufen und die er als (einzige) Grundlage der französischen Republik und Kultur sehen möchte. Denn, so Marine Le Pen , »wenn eine neue Religion (der Islam) eine Vielzahl neuer Forderungen stellt, die Richtung, Lebensart und Lebensweise eines sehr alten Landes, das auf den jüdisch-christlichen Werten aufgebaut ist, verletzten, dann gibt es ein Problem« (Alduy/Wahnich 2015: 98).

Auch bei der »manif pour tous«-Bewegung (»Demonstration für alle«), die im Frühjahr 2013 entstanden war und Front gegen die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen machte, war der FN demzufolge in vorderster Front zugegen. Zwar nahm Marine Le Pen nicht offiziell an den Demonstrationszügen teil. Dies im Gegensatz zu ihrer Nichte und der Enkelin von Jean-Marine Le Pen, Marion Maréchal- Le Pen und vielen anderen Funktionären der Partei (Proust 2013, 40). Sie störte sich aber offiziell nicht an den teils gewaltsamen Protesten militanter Rechtskonservativ- Katholischer, die tagelang das französische Parlament belagerten. Jene Gruppe gehörte zum Kern der Bewegung, welche von radikalen, dogmatischen Katholiken aus dem Umfeld des „ultrakatholischen“ Think Tanks Civitas getragen worden war (Alduy /Wahnich 2015: 90).

Auch die Globalisierungskritik, die Marine Le Pen übt, stellt in erster Linie die Bedrohung der Identität in den Mittelpunkt. Denn die Ideologie des „Globalismus“, Le Pens Begriff für die wachsende Einbindung Frankreichs in die Weltökonomie, wartet mit wahren Schreckensszenarien auf. So zerstöre dieser Familien, die Nation, säe Anarchie, Barbarei sowie planetares Chaos und werde von den liberalen Eliten bewusst gegen das eigene Volk gerichtet. Er sei verantwortlich für Krise, Schulden, Arbeitslosigkeit und Souveränitätsverlust und auch dafür, dass die modernen Menschen kulturlos über den Globus von Kontinent zu Kontinent wandern (Alduy/Wahnich 2015: 151).

„Identität“ im postsozialistischen Zeitalter – Der FN entdeckt die Sozialkritik

Die „offenen Grenzen“ zum Dreh und Angelpunkt der Kritik zu machen, nahm seinen Ausgangspunkt in den frühen 1990ger Jahren. Initiiert von Bruno Mègret, dem damaligen „starken Mann“ neben Jean- Marine Le Pen, begann der FN mehr und mehr die soziale Frage in den Mittelpunkt der eigenen Agitation zu stellen. Nachdem der frühe FN unter Jean-Marine Le Pen in den 1980ern noch dem neoliberalen Vorkämpfer*innen Ronald Reagan und Margaret Thatcher zugejubelt hatte, wurden jetzt die EU und die USA zu Vorkämpfern eines „ultraliberalen“ Ökonomie-und Gesellschaftsmodells erklärt, in dem Heimat und die Bewahrung des kulturellen Erbes Frankreichs nicht mehr gewährleistet werden könnten (Chwala 2015: 64 ff).

Der FN begann den Begriff „mondialisme“ stark zu machen, den er mit dem Konzept der einer „nationalen Solidarität“ bekämpfen wollte. Eine „nationale Präferenz“ sollte sozialstaatliche Leistungen wie den Zugang zu öffentlich gefördertem Wohnungsbau oder medizinischer Betreuung in erster Linie Französ*innen zugänglich machen. Eine protektionistische Wirtschaftspolitik sollte gewährleisten, dass französische Unternehmen Arbeitsplätze für „Franzosen“ schaffen. Doch die Kritik an der wachsenden sozialen Ungleichheit im Land richtete sich für den FN nicht auf marktwirtschaftliche Mechanismen Es sollte nur darum gehen die „soziale Ausgrenzung der Französ*innen zu beenden (Igounet 2017: 134 f).

Trotzdem zeigten sich bereits 1995 erste Erfolge dieser Strategie, als Jean-Marine Le Pen überdurchschnittlich viel von Arbeiter*innen und Erwerbslosen gewählt wurde. Mit dem wachsenden Einfluss von Marine Le Pen wurde diese vermeintliche programmatisch Verschiebung nach links weiter vorangetrieben und erreichte in während des Präsidentschaftswahlkampfes 2007 einen ersten Höhepunkt. Zum ersten Mal schien es so, als würde sich Jean-Marine Le Pen positiv zu den Errungenschaften der Arbeiterbewegung bekennen. So sprach er während einer Rede in Lille, dem Zentrum des einst von der Kohleförderung geprägten Nordwestens von den „existenziellen Rechten, die einst den gottgleichen Fabrikherren durch gewaltige Kämpfe abgetrotzt werden konnten“. Mehr denn je stand die soziale Unsicherheit im Mittelpunkt des Diskurses des Parteichefs Le Pen, die durch die im Schnellschritt durchgedrückte Globalisierung vorangetrieben werde, wie er der Zeitung „Le Parisien“ in einem Interview mitteilte (Igounet 2014: 394).

Ebenso verschob die Tochter, die im Hintergrund den Wahlkampf des Vaters leitete, den Identitätsdiskurs der Partei. War es bisher so gewesen, dass die Integration von Migrant*innen in die französische Gesellschaft als undenkbar bezeichnet wurde, plädierte Marine Le Pen für eine forcierte Ansprache muslimisch- migrantischer Milieus. Gerade jener kleinen, aber relevanten Gruppe von sozialen Aufsteiger*innen und jenen „nicht-weißen Menschen“ aus den Banlieus sollte die Idee der „Assimilation“ schmackhaft gemacht werden. Wer sich anpasse, also den von der Rechten so beklagten migrantischen „Kommunitarismus“ überwinde, dem würde, so Le Pen, der Weg in die französische Mehrheitsgesellschaft nicht verbaut werden können. Dieses vermeintliche Abrücken von Kernpositionen des FN war damals weder in der Wähler*innenschaft des FN noch in der Partei selbst populär, weshalb Le Pen senior mit knapp über 10 Prozent der Stimmen das schlechteste Wahlergebnis der Partei seit den frühen 1980ern erzielte. Nicolas Sarkozys Ausgrenzungsstrategien gegenüber den desillusionierten, jungen migrantischen Milieus der Vorstädte hatte die FN- Sympathisanten mehr überzeugt und auch in den Vorstädten selber konnte der FN nicht punkten (Igounet 2014: 394 ff). Dennoch läutete diese Wahlniederlage die Übergabe der Parteiführung an die Tochter ein, die ihr Konzept eines „erneuerten“ Front National ab 2011 in die Tat umzusetzen begann.

Migration = Islamismus – Marine Le Pens Neuausrichtung des nationalistischen Diskurses

Doch es dauerte bis in den April 2015, dass es zum endgültige politischen Bruch zwischen Vater und Tochter kam. Dieser hatte in mehreren Interviews wieder einmal die klassische Themenpalette der radikalen Rechten bedient. Nicht nur, dass er einmal mehr die Gaskammern der Vernichtungslager als „Detail der Geschichte“ bezeichnete. Er verteidigte auch einmal mehr das Kollaborationsregime Pétains und unterstellte Premierminster Valls, welcher aus Katalonien stammt, Frankreich nicht wirklich verbunden zu sein. Und er bekannte sich einmal mehr dazu, ein „weißes Europa“ zu wollen. Innerhalb des FN war man sich schnell einig, dass gehandelt werden musste, schließlich konnte Le Pen senior eine tickende Zeitbombe für die kommenden Wahlkämpfe, besonders die Präsidentschaftskampagne im Jahre 2017 sein. Deshalb bemühte sich Marine Le Pen, seine Kaltstellung als Ergebnis seiner Missachtung des neuen demokratischen und republikanischen Geistes der Partei darzustellen, denn der Front national würde für eine Gesellschaft eintreten, in der „alle Menschen vor dem Gesetz gleich seien, egal welcher Herkunft, Ethnie oder Religion sie seien“ (Alduy 2017: 117 f).

Das war in neuerlicher Versuch, über das eigene Kernmilieu hinaus zu mobilisieren und sich noch stärker als „normale“ und nicht radikale politische Formation darzustellen, die in der Mitte der Gesellschaft angesiedelt sei. Doch spätestens mit den Terroranschlägen vom Frühjahr und Herbst 2015, die zu einer allgemeinen Verschärfung der Debatte über „innere Sicherheit“ und den Kampf gegen den Islamismus führten, bedurfte es keiner Mäßigung des eigenen Diskurses mehr. Im Gegenteil, eine Heerschar von Journalisten und Intellektuellen hatte schon seit Jahren massiv Stimmung gegen die nicht-integrierbaren muslimischen Milieus gemacht. Der Islam wurde als eine in sich geschlossene Gesellschaftsform dargestellt, die der französischen völlig entgegengesetzt sei, ja sogar erobernd agieren würde. So sei der „Große Austausch“ der Bevölkerungsgruppen schon im Gange und bald, würde sich an der Migrationspolitik nichts ändern, wäre Frankreich ein islamisches Land, so der Schriftsteller Renaud Camus. Eine Schlussfolgerung, der sich Marine Le Pen in dieser Radikalität nicht anschloss. Schließlich plädierte sie immer noch für die Assimilation der sozial aufstiegswilligen migrantischen Milieus. Denn die Zugehörigkeit zum französischen Volk „vererbt oder verdient sich“, um die Worte eines Flugblattes des FN zu zitieren. Demzufolge war die offene Attacke gegen den radikalen Islam kein Kernthema der 2000er Jahre.

Diese wurde erst wieder im Rahmen der Wahlkämpfe des Jahres 2015 (Erneuerungswahlen der Parlamente der Départements im Frühjahr und der Regionen im Herbst) ein zentrales Element für Marine Le Pen. Es galt nun wieder, die vermeintliche Unvereinbarkeit „des Islams“ mit „den Werten Frankreichs“, also Freiheit, Gleichheit und Demokratie herauszustellen. Hatte sie im Wahlkampf 2012 noch sehr stark mit der ökonomische Bedrohung der Französ*innen durch die Migrationsbewegungen argumentiert, wurde dies jetzt erweitert um den religiösen Fundamentalismus. Für Le Pen wurde der „Islamismus“ und der „Fundamentalismus“ zur logischen Folge von Migration, die von den herrschende liberalen politischen Eliten zu verantworten war, welche denn „Multikulturalismus, und damit implizit die kommunitaristischen Ghettos der Banlieus legitimiert hätten. Die Öffnung der Grenzen samt der nicht mehr kontrollierbaren Migration führt für Le Pen auch zu einer Infragestellung der homogenen französischen Gesellschaft. Die Öffnung nach außen ist für sie das Produkt eines überbordenden ökonomischen Liberalismus, welcher durch die europäische Einigung aber auch durch die individualistische Ideologie der USA zu verantworten sei. Alles Übel wird somit von außen importiert und „das Fremde“ erhält im Diskurs von Marine Le Pen die Sündenbockfunktion schlechthin (Alduy 2017: 136 ff).

Das „befriedete Frankreich“ – Marine Le Pens autoritäre Strategie zur Krisenlösung

Doch die die Wahlen des Jahres 2015 zeigten dem FN erneut die eigenen Grenzen auf. Zwar gelang es Marine Le Pen mit ihrer radikalen Rhetorik, die Partei in beiden Wahlen zur wählerstärksten Partei des ersten Wahlgangs zu machen. Allerdings mobilisierte dies in den Stichwahlen in erhöhtem Maße auch die Gegner*innen des FN, weshalb weder eine Stimmenmehrheit in den Départements noch auf der Ebene der Regionen gewonnen werden konnte. Dies machte eine neuerliche programmatische Wende notwendig, Marine Le Pen agierte nicht mehr als radikale Kämpferin gegen die Feinde von ihnen und außen, sondern begann sich als „überparteiliche“ Kandidatin darzustellen, die ein „befriedetes Frankreich, fern von Parteienstreit und innerer Unruhe“ schaffen wollte.

Doch diese vermeintliche Mäßigung ist in Wirklichkeit eher eine Drohung. Denn in Le Pens Vorstellung ist Frankreich ein Land voller Chaos, welches kurz vor dem Bürgerkrieg steht und nur durch den Ausbau von polizeilicher und militärischer Repression wieder sicher gemacht werden könne. Kurz gesagt, in Frankreich muss wieder Ruhe und Ordnung herrschen. Und wo mit repressiver Härte nicht gepunktet werden kann, muss die kulturelle Assimilation vorangetrieben werden. Eine vollständige „Homogenisierung“ der französischen Gesellschaft sei durchzusetzen. Demzufolge reicht es nicht aus, nur die Sprache zu sprechen. „Um die französische Staatsbürgerschaft zu verdienen, muss man französisch sprechen, essen und leben“. Dass damit implizit eine Ablehnung muslimischer kultureller und religiöser Praktiken einher geht ist offensichtlich (Alduy 2017: 145 ff).

Doch man sollte sich davor hüten, Marine Le Pens Bedürfnis nach einer repressiven inneren Neuordnung nur als Angriff auf die ethnische Subkulturen wahrzunehmen. Denn für den „Front“ gilt ziemlich jeder zivilgesellschaftliche Akteur als „kommunitaristisch“, der sich nicht der vom FN erwünschten „öffentlichen Friedsamkeit“ unterwerfen will. Dem FN ist eine demokratisch verfasste Öffentlichkeit, die sich der Kontrolle der „Frontisten“ entzieht, ein Dorn im Auge. Dies ist nicht nur eine Befürchtung. So sieht man in fast allen Gemeinden, die der FN seit 2014 regiert, eine durch die Bürgermeister*innen in Gang gesetzte Einschüchterungsstrategie gegen politisch unliebsame Vereine, Vertreter*innen der lokalen Oppositionsparteien, aber auch gegen Mitarbeiter*innen der Gemeindeverwaltungen (VISA 2016: 18 ff / Tondelier 2017).

Denn eine politische Gesellschaft, die auf der Existenz differierender Interessen und darauf bezogener Lösungskonzepte beruht, stößt auf den schärfsten Widerstand von Marine Le Pen. Auch wenn sie gerne das Gegenteil behauptet, bleibt Demokratie für die radikale Rechte doch eine gleichmacherische Ideologie, die die als „natürlich“ betrachteten Hierarchien und Ungleichheiten zwischen den Menschen auf nicht akzeptable Weise in Frage stellt. So ist auch Le Pens Plädoyer zugunsten von Frauenrechten auch nicht als Aussage für deren Ausbau zu betrachten. Im Gegenteil, Debatten über „Feminismus“ im Allgemeinen und über die Neubewertung von Geschlechterrollen im Besonderen werden abgelehnt.

Man sucht auch in Marine Le Pens programmatischen Texten vergeblich nach einer Befürwortung von gleichen Löhnen oder Karrierechancen für Frauen. Ebenso vergeblich wird man nach einem klaren Bekenntnis zur Legalität des Schwangerschaftsabbruches suchen. Im Gegenteil, der FN steht für ein klares traditionelles Familienbild. So mancher FN- Bürgermeister würde deshalb gerne seine kommunalen Kinderbetreuungseinrichtungen schließen, denn die Erziehung des Nachwuchses sei doch eine Privatangelegenheit der Familien, genauer gesagt der Mütter, denm für den Front National sind Frauen weiterhin in erster Linie für die familiäre Reproduktionsarbeit geboren. Die Verteidigung „der Frau“ ist deshalb in erster Linie eine Verteidigung der „französischen Frauen“ gegen die vergewaltigenden muslimischen Männer. Ein weiterer Versuch also, muslimische Communities zu diskreditieren.

Eine ähnliche Verschleierungstaktik fährt der FN auch in den anderen Politikbereichen.

Zwar geriert man sich gerne als Partei der „kleinen Leute“. Ein strategisch agierender Staat, starker Staat werde dabei helfen, die Abstiegsgesellschaft zu überwinden. Doch außer vielen Worten des Mitleids ist Marine Le Pen erstaunlich unkonkret, wenn es um die Formulierung konkreter inhaltlicher Angebote für die breite Masse geht (Alduy 2017: 148). Allerdings nur auf den ersten Blick. Denn schaut man sich die verfügbaren programmatischen Texte genauer an, plädiert der FN nicht wirklich – lässt man in diesem Fall die rassistische Ausgrenzung fremder Menschen einmal außen vor – für eine Stärkung der innergesellschaftlichen Solidarität. Seit jeher sind Steuern ebenso wie gesetzliche Regelungen zugunsten von Beschäftigten und Gewerkschaften der Partei ein Dorn im Auge. Schließlich behindern sie die Unternehmer*innen an der freien Verfügung über ihre Produktionsmittel, und sie stören den Klassenfrieden. Denn nur wenn beide Seiten harmonisch zusammenarbeiten würden, ließe sich auch genügend Wohlstand für die lohnabhängig Beschäftigten erzielen. Gewerkschaften, die durch Protest und Streikmaßnahmen die Produktion stören, sind deshalb natürlich Feinde Frankreichs, gefährden sie für den FN doch die wirtschaftliche Grundlage des Landes. Ähnlich ergeht es auch der 35-Studen-Woche, die der „Front“ seit ihrer Einführung ständig in Frage stellt (VISA 2017).

Damit der mutige und risikobereite Unternehmer aber frei handeln kann, braucht es Bürokratieabbau und eine unternehmerfreundliche Verwaltung, die selbst nach betriebswirtschaftlichen Grundlagen arbeiten müsse, um überflüssige Strukturen und Personal abzubauen. Während der FN in der Vergangenheit für eine deutliche Senkung der Mittelzuweisungen durch die Zentralregierung an Regionen, Départements und Gemeinden plädiert hatte, spricht Marine Le Pen in ihrem aktuellen Wahlprogramm nur „noch“ von einer anzustrebenden Senkung der Staatsquote, mit der Einsparungen im Milliardenbereich zu erzielen seinen und die es erlauben würden, massiv Steuern zu senken (Ecolinks 2017: 94 ff). Dies gilt auch für die Regelungen, die das Ziel haben, eine allzu hohe Vermögensbildung in der Hand weniger zu verhindern. So will Marine Le Pen aktuell die steuerfreie Übertragung von Vermögen an Familienangehörige erleichtern und so die Erbschaftssteuer aushöhlen. Ist man bösartig, kann man dabei durchaus ein persönliches Eigeninteresse der Familie Le Pen erkennen, die in den letzten Jahrzehnten per Erbschaften und Immobilienkäufen zu erheblichen Vermögen gekommen ist. Bedenkt man die Tatsache, dass Jean-Marine Le Pen selbst aus kleinbürgerlichem Hause stammt – sein Vater war selbstständiger Fischer – und sich per Stipendium und Kriegswaisenrente bis zum Juraexamen und zum Parlamentsabgeordneten hoch gearbeitet hatte wird klarer, weshalb die Le Pens so intensive Kämpfer gegen Erb- und Vermögenssteuern sind. Denn die eigene gesellschaftliche Position wird durch die umverteilend wirkenden Steuern in Frage gestellt

Schon früh engagierte sich Le Pen Senior deshalb in den 50ger Jahren in vorderster Front bei der „Poujadistischen“ Partei, die eine zu hohe Steuerbelastung für die französischen Kleinunternehmer, insbesondere der kleinen Ladenbesitzer beklagte (Chwala 2015: 40ff). Der FN ist dessen Linie als Verteidiger des französischen Kleinunternehmertums immer treu geblieben. Man wird deshalb bei genauerem Hinsehen in der Programmatik der Partei immer die Forderung nach Entlastung des Mittelstandes und der Familien der Eigentümer finden. Sei es durch Steuerentlastung, sei es durch Senkung der Lohnzusatzkosten, um die kleinen Unternehmen am Markt wettbewerbsfähig zu machen. Dass der FN sich als Partei der Wirtschaft sieht, stellte jüngst auch noch einmal der Europaabgeordnete und „Chefökonom“ der Partei, Bernard Monot fest. Schließlich seien die Frontisten „(...) ja wirkliche Liberale, die ohne jeden Zweifel Anhänger der freien Marktes und des freien Unternehmertums seien(...)“. Ins gleiche Horn stieß Marine Le Pen, die Ende Januar einmal mehr verkündete, dass eine Erhöhung des Mindestlohnes vom Front National nicht gewollt werde, schließlich sei dies eine „zusätzliche Belastung für die französischen Unternehmen“ (VISA 2017). Dieses klare Bekenntnis zur kapitalistischen Grundordnung brachte ihr sogar eine Einladung zum Verbandstag des MEDEF, dem größten Unternehmer*innenverbandes des Landes ein.

Offensichtlich ist der Protektionismus des FN in nationalliberalem Gewand. Eine weitgehende Deregulierung im Inneren in der Hoffnung auf die Entfaltung der Kräfte des (Binnen)Marktes soll einhergehen mit einer Erschwerung des Zugangs für ausländische Unternehmen und Investor*innen zum französischen Markt. Dies soll durch eine Steuer auf alle importierten Güter und neuerdings sogar auf ausländischen Arbeitskräfte erfolgen, um ausländische Produkte künstlich zu verteuern. Diese Logik ist höchst widersinnig. Einerseits wird der Staat als Schutzinstanz vor den Übeln der ökonomischen Globalisierung und der wachsender ethnischer Vielfalt der Gesellschaft dargestellt Andererseits soll der Einfluss seiner Institutionen Stück für Stück zurückgefahren werden, was allerdings die Wiederaufrichtung der französischen Binnenwirtschaft deutlich erschweren dürfte. Schließlich trägt der staatliche Sektor nicht nur durch das individuelle Konsumverhalten seiner Beschäftigten zur Stärkung der Nachfrage bei. Vielmehr fragen die „territorialen Gebietskörperschaften“, wie es in Frankreich heißt, auch in hohem Maße Dienstleistungen und Waren aller Art nach, die wiederum die Auftragsbücher der klein- und mittelständischen Wirtschaft füllen (Ecolinks 2017: 106 ff.).

Der Erfolg des FN ist ein Ergebnis gesellschaftlicher Entsolidarisierung

Der Kampf gegen das „Monstrum Staat“ hat aber in der mehr und mehr neoliberal gewendeten Gesellschaft durchaus Anhänger über die Unternehmer*innenmilieus hinaus. Der Wirtschaftsliberalismus des Front National stößt auch bei Erwerbstätigen auf Zustimmung. Die zunehmend neoliberal fragmentierte Arbeitswelt in weist auch Gewinner*innen auf, die einer Hierarchisierung der Gesellschaft anhand ungleicher Vermögensentwicklung zustimmen. Denn für die „Leistungsträger“ ist der ökonomische Erfolg, der mit einer Erhöhung des sozialen Prestiges einhergeht, eine logische Konsequenz der eigenen individualistischen Strategien. Besonders Menschen aus der unteren Mittelklasse, die teilweise weiterhin als Arbeiter*innen beschäftigt sind, mussten in den letzten Jahren erleben, wie der einst regulierende und intervenierende Staat sich mehr und mehr zurückgezogen und viele Lebensrisiken auf die Einzelnen abgewälzt hat.

Trotzdem existiert dieser weiter, zieht Steuern ein, baut administrative Hindernisse für Selbstständige aus, oder dient als Selbstbedienungsladen für mehr oder weniger korrupte Eliten. Was für sie noch viel schlimmer wiegt ist allerdings, dass der Staat weiterhin Mittel für Erwerbslose und Migrant*innen aufwendet. Den sozial ausgegrenzte Milieus wird unterstellt, sich nicht genügend um ihr eigene Existenzsicherung zu bemühen, die Steuergelder der Lohnarbeitenden zu missbrauchen und damit deren legitimes Bedürfnis nach sozialökonomischer Konsolidierung zu erschweren. Ein moralischer Individualismus ist die Folge, der den verschwenderisch agierenden Staat ablehnt und mehr Unterstützung für die „Mittelklassen“ fordert (Pinto 2017). Jene fühlen sich nicht gehört und haben den Eindruck entwickelt, eine Art Zwischenklasse zu bilden, deren weiterer sozialer Aufstieg nicht stattfindet, während sie sich gleichzeitig nicht weiter von den untersten Schichten absetzten können (Collovald/Schwartz 2006).

Nicht umsonst plädiert der FN für ein härteres Vorgehen gegen Erwerbslose, denen die Leistungen gekürzt werden sollen, wenn sie Arbeitsangebote ablehnen. Der FN ist sich sehr wohl darüber bewusst, dass viele seiner Wähler aus sozial etablierteren Arbeiter*innenmilieus stammen, die aber trotz alle dem nicht über allzu hohe Einkommen verfügen, und die noch zusätzlich dadurch geschmälert werden, dass in der französischen Eigentümer*innengesellschaft (über 60 Prozent aller Haushalte sind Besitzer*innen ihrer Immobilie) auch noch Immobilienkredite abzuzahlen sind. So ist der FN auf die Idee gekommen, die Senkung der Lohnzusatzkosten um 200 Euro, die über eine Importsteuer finanziert werden soll, als Erhöhung der Kaufkraft darzustellen. Dies hätte zwar eine unmittelbare Erhöhung der Löhne zur Folge, würde aber mit sinkenden Beitragszahlungen in die Sozialkassen und damit geringeren Leistungsansprüchen für die betroffenen Arbeiter*innen einhergehen, während die Unternehmen einseitig entlastet würden (Ecolinks 2017: 116 ff /Lambert 2015).

Die den FN wählenden Beschäftigten akzeptieren diese nur scheinbare Lohnerhöhung aber nicht nur aus Nichtwissen. Da sie oftmals in enger sozialen Beziehung mit den Kleinunternehmer*innen stehen, akzeptieren sie die Logik von sinken Kosten für die Unternehmen als Basis für wachsende Konkurrenzfähigkeit und Arbeitsplatzsicherung. Mehr noch, da diese Menschen, die fern von Gewerkschaften aber auch den urbanen Zentren leben, kein Bewusstsein dafür entwickelt haben, Interessen gegen die Eigentümer durchzusetzen, hoffen sie lieber darauf, selbst weiter aufzusteigen oder aber selbst ein Unternehmen gründen zu können. Die Idee, der „nationalen Produktionsgemeinschaft,“ die einen „nationalen Kapitalismus“ will, kommt bei diesen Milieus gut an (Girard 2013).

Fazit

Auch wenn der FN immer wieder gerne als Partei „links der Mitte“ dargestellt wird, ja sogar als „sozialistisch“, wie etwa durch Frank Baasner, dem Leiter des Deutsch-Französischen Instituts, in einem Interview Anfang Februar 2017 mit dem ZDF im Rahmen der Vorstellung des Wahlprogramms des Front National, zeigt sich eher das Bild einer klassischen französischen rechtsradikalen Partei. Diese politischen Organisationen argumentierten seit je her widersprüchlich. Einerseits mit der Forderung nach mehr Markt und weniger Regulierung im Inneren. Andererseits aber soll die innergesellschaftliche Konkurrenz so weit wie möglich unter fairen Bedingungen stattfinden. So werden zwar sozialstaatliche Unterstützungsmaßnahmen für arme Menschen in Frage gestellt, aber auch die ökonomischen und sozialen Privilegien der Eliten werden kritisiert, da beides als nicht ehrlich erarbeitet angesehen wird und kein „fairen Wettbewerb“ der Individuen untereinander zugelassen werde. Da die Kleinstfamilie heutzutage oftmals der einzige soziale Bezugspunkt ist und die Politik solidarisch- kollektive Maßnahmen nicht mehr als zentral ansieht, werden mehr und mehr Menschen in Konkurrenz gesetzt, mit der Folge, dass sich Ängste vor dem persönlichen Scheitern entwickeln. Verloren gegangen sind die alten solidarischen Beziehungsnetzwerke der fordistischen Arbeiterklasse, wie sie noch in den 1970ger Jahren vorzufinden waren (Mauger 2006/ Michelat/Simon 2004).

Genährt durch die Krisenerfahrungen der letzten Jahre und Jahrzehnte und dem Mangel an Bewusstsein über die wahren Ursachen der wachsenden Prekarisierung werden Sündenböcke gebraucht und argumentativ aufgebauscht. Gerade migrantische Milieus erfüllen diese Aufgabe ganz wunderbar, werden sie von der weißen Mehrheitsgesellschaft doch als störende Faktoren wahrgenommen. Nicht nur, dass sie als Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt oder in den Bildungseinrichtungen sowie als „stille Reserve“ für Wähler*innenstimmen, dienen. Bei vielen Anhänger*innen der Rechten hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass die „Mehrheitsparteien“ – vor allen Dingen die Linke – jene Communities aus eigen wahltaktischen Interessen bevorzugen würden. In der Wahrnehmung der gesellschaftlich Etablierteren werten Migrant*innen zusätzlich noch das wohlgeordnete Lebensumfeld der bessergestellten, meistens weißen Nachbarschaften ab. Verbindet man doch mit den „nicht-weißen“ Randgruppen vor allen Dingen Kriminalität, Erwerbslosigkeit und heruntergekommene Stadtviertel. Dies könnte die Aufstiegsstrategien, die in Frankreich auch für Arbeiter*inneklassenhaushalte über die Erlangung von Wohneigentum möglich sind, erheblich stören (Cartier u.a. 2008).

In dieser Situation hat es der FN leicht, zu punkten, verspricht Le Pen doch die Zementierung einer Gesellschaft, in der Ungleichheit als legitim betrachtet wird. Demzufolge würden gesellschaftliche Widersprüche auch nicht verschwinden. Da in Frankreich aber eine heterogene Mittelklasse besteht, die ihre kleinen sozialen Aufstiege bewahren möchte, indem eine Sanktionierung derer erfolgt, deren soziales Prestige deutlich niedriger ist als das eigene, ist die Bekämpfung der Ursachen auch nicht die Erwartung der Wähler*innen von Marine Le Pen und des FN. Eine Präsidentin Marine Le Pen soll viel eher weitere Sozialkürzungen zuungunsten der „Faulen“, die von der „sozialen Hängematte“ profitieren durchsetzten und mit dem Ausbau von Polizei und Militär dafür sorgen, dass die Artikulation von Protest gegen diese Politik der so weit wie möglich eingeschränkt wird. Mit der Folge, dass eine weiter ansteigender Armut in den Unterklassen zu konstatieren wäre. Aber auch noch massivere Gewalt in den Vorstädten würde zu verzeichnen sein. Schließlich haben die jungen Menschen in den Banlieus wenig bis nichts mehr zu verlieren und die tägliche Erniedrigung stellt eine derartige Infragestellung der eigenen Würde da, dass auch eine repressive FN- Administration dort keine Ruhe schaffen würde. Höchstens würden neue Keimzellen für ohnmächtige Gewalt von Seiten der von der Repression Betroffenen entstehen.

Die repressive Idylle, die eine nationale Homogenität herstellen möchte, die in dieser Form nie existiert hat und als Mythos zu bezeichnen ist, stellt ein antidemokratisches und antisolidarisches Schreckensszenario dar. Nur durch eine Politik, die Ängste abbaut und die soziale Aspekte wieder als Hauptaufgabenfeld betrachtet, können Bewegungen wie der FN wieder in die Defensive gedrängt werden. Nur dann, wenn offensichtlich wird, dass der Zugang zu notwendigen Ressourcen wie Wohnraum, Bildung, aber auch Arbeit gewährleistet wird, wird der Konkurrenz aller gegen aller, die die Ursache für die Ausgrenzungswünsche gegenüber Schwächeren ist, ein Ende finden können.

Literatur:

Alduy, Cécile/ Wahnich,Stéphane (2015): Marine Le Pen prise aux mots; Paris

Alduy, Cécile (2016): Nouveau discours, nouveau succès in: Pouvoir 157; Paris

Alduy, Cécile (2017): Ce qu`ils disent vraiment. Les politques pris au mot; Paris

Baubérot, Jean (2016): Histoire de la laicité en France; Paris

Braconnier, Céline / Mayer, Nonna (2015): Écouter ceux qu’on n’entend plus; in: Braconnier,

Céline / Mayer, Nonna (Hrsg.): Les inaudibles – Sociologie politique des précaires; Paris

Bréchon, Pierre (2012): Les ouvriers sont-ils plus autoritaires et plus xénophobes que les autres groupes sociaux ?; in: De Waele, Jean-Michel / Viera, Mathieu (Hrsg.): Une drotisation de la classe ouvrière en Europe?; Paris

Cartier, Marie / Coutant, Isabelle / Masclet, Olivier / Syblot, Jasmine (2008): La France des »petits-moyens« – enquête sur la banlieue pavillionaire; Paris

Christofferson, Michael (2009): Les intellectuels contre la gauche. L`idelogie antitotalitaire en France (1968-1981); Marseille

Chwala, Sebastian (2015): Der Front National.Geschichte, Programm, Politik und Wähler; Köln

Collovald Annie/ Schwartz, Olivier (2006): Haut, bas, fragile: sociologies du populaire; in: Vacarme 37; Paris

Crépon, Sylvain (2012): Enquête au coeur du Front National; Paris

Ecolinks (2017): Petit manuel économique anti-FN; Paris

Girard, Violaine (2013): Sur la politisation des classes populaires périurbaines – Trajectoires de promotion, recompositions des appartenances sociales et distance(s) vis-à-vis de la gauche; in: Politix 101; Brüssel

Igounet, Valérie (2014): Le Front National de 1972 à nos jours. Les parti, les hommes, les idées; Paris

Igounet,Valérie (2017): Les français d`abord. Slogans et viralité Front National; Paris

Kauffmann, Grégoire (2016): Le nouveau FN; Paris

Lambert, Anne (2015): „Tous proprietiare.“ L`envers du décors pavillionaire; Paris

Mauger, Gérard (2006): Les transformations des classes populaire en France trente ans in: Lojkine, Jean/ Cours-Salies, Pierre/ Vakaloulis, Michel (Hrsg.): Nouvelles luttes de classes; Paris

Michelat, Guy / Simon, Michel (2004): Les ouvriers et la politique. Permanence,

ruptures, réalignements (1962 – 2002); Paris

Pinto,Louis: La promotion d`un nouvel ordre moral in: Mauger, Gérard/ Peletier, Willy (2017): Les classe populaires et le FN. Explications des votes; Vulaines sur Seine

Priester,Karin (2012): Rechter und Linker Populismus. Annäherung an ein Chamäleon; Frankfurt

Proust, Sarah (2013): Le Front national: Le hussard brun contre la république; Lormont

Siblot,Yasmine/ Cartier, Marie/ Coutant, Isabelle/ Masclet, Olivier / Renahy, Nicolas (2015): Sociologie des classes populaires contemporaines; Paris

Tondelier, Marine (2017): Nouvelles du Front; Paris

VISA – Vigilance et Initiatives Syndicales Antifascistes (2016): Face au FN et toute l`extrême droite, Réponses & Ripostes Syndicales; Paris

VISA – Vigilance et Initiatives Syndicales Antifascistes (2017):Le Fn entre en campagne: toujours antisocial et invité du MEDEF !

Anmerkungen zur Person:

Sebastian Chwala, Politikwissenschaftler, Promotionsstipendiat der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Autor des Buches „Der Front National. Geschichte. Programm, Politik und Wähler“erschienen beim PapyRossa Verlag Köln. Lebt in Marburg

Der Text von Sebastian Chwala ist eine Vorveröffentlichung aus dem demnächst erscheinenden Buch von Isolde Aigner, Jobst Paul, Regina Wagner (Hg.), Autoritäre Zuspitzung. Rechtsruck in Europa, Unrast-Verlag, Münster

© links-netz Mai 2017