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Selbstmord eines Abschiebehäftlings: Freispruch für den Psychiater Wilmer

Das Abschieberegime bestätigt sich selbst

Rainer Deppe und Christa Sonnenfeld

In der Verhandlung gegen den Facharzt für Psychiatrie Heinrich Wilmer am 23.7. und 14.8.2009 ging es um den Vorwurf der fahrlässigen Tötung. Den kurdische Abschiebehäftling Mustafa Alcali, der sich unmittelbar vor seiner Abschiebung im Juni 2007 in seiner Zelle in der JVA Frankfurt-Preungesheim erhängte, hatte er zuvor für abschiebefähig erklärt.

Wir haben die beiden Verhandlungstage ausführlich zu beschreiben versucht. Der erste Tag ist eher zusammenfassend dargestellt, da mehrere Argumentationsstränge am zweiten Verhandlungstag wieder aufgegriffen und vertieft wurden, und, weil sich aus diesen Ausführungen auch das Urteil entwickelte.

Erster Verhandlungstag am 23. Juli 2009:

Mustafa Alcali (im folgenden MA) war nach einem versuchten Selbstmord zu Diagnose und Behandlung in die psychiatrische Klinik in Hanau überwiesen worden. Das Hanauer Amtsgericht, das mit der dort getroffenen (Kurz-)Diagnose „Paranoide Schizophrenie mit erheblicher Suizidgefährdung“ nicht einverstanden war, überstellte ihn zur erneuten Untersuchung in die JVA Kassel, um über seine „Abschiebetauglichkeit“ zu befinden; hier traf er auf Herrn Wilmer.

Herr Wilmer, inzwischen 82 Jahre alt, war auch in den Jahren nach seiner Pensionierung in im Zentralkrankenhaus der JVA I in Kassel als psychiatrischer Gutachter auf Honorarbasis – oftmals als einzige Fachkraft – oder auch als Vertretung der angestellten Psychiaterin tätig. Wilmer bestätigte den (unbegründeten) Verdacht des Gerichts: er fand keine Hinweise, dass MA krank sei; dessen Aussage, dass er sich im Fall der Abschiebung umbringen wolle, hatte für ihn „appellativen“ Charakter, wobei ihm bekannt war, dass MA im Mai 2007 einen Selbstmordversuch unternommen hatte. Dabei entstand durch mehrfache Befragung der Eindruck, dass seine Diagnose auf einer einmaligen Untersuchung beruhte; auch intensive Nachfragen brachten keine endgültige Klärung.

Während der Verhandlung wurde fast nebenbei die Art seiner Unterbringung in Kassel gestreift: A. verbrachte dort einige Tage in einer Zelle mit Matratze und Eimer, nackt, mit Licht und Videoüberwachung rund um die Uhr. Nachdem Wilmer festgestellt hatte, dass MA „ganz normale Reaktionen“ zeigte, veranlasste er dessen Verlegung in eine Gemeinschaftszelle. Wilmers Überzeugung nach war die Hanauer Diagnose nicht zutreffend; vielmehr sei in der Vergangenheit dessen jahrelanger Drogenmissbrauch (Haschisch) verhaltensprägend gewesen: Ohne Drogen keine Psychose. Zu einem abklärenden Gespräch mit Hanau kam es nicht, weil er sie als „Gefälligkeitsgutachter“ und „Gutmenschen“ ansah („Es wäre nichts dabei herausgekommen“). Der angekündigte Arztbrief erreichte ihn erst eine Woche nach MA’s Selbstmord, angemahnt hatte er ihn nicht („Ich bin nicht abhängig von Gutachten anderer“).

Seine Diagnose „Belastungssituation ohne Krankheitswert“ stand bereits nach dem dokumentierten Untersuchungsgespräch unverrückbar fest. Während der Verhandlung ließen sich seine diagnostischen Kriterien nicht erhellen; er verwies auf seine lange Berufserfahrung.

Die anschließenden Zeugenvernehmungen ließen ein Vollzugssystem sichtbar werden, das einem bürokratischen, monströsen Apparat gleicht, in dem die Realität so zugerichtet wird, um zu einer angestrebten Entscheidung zu kommen: der Abschiebung. Der verantwortliche Arzt aus Kassel stellte im Verhalten MA’s keine Auffälligkeiten fest, auch keine Suizidalität. Gleichwohl verschrieb er ihm Antidepressiva und Neuroleptika. Man verließ sich auf W’s Diagnose und überstellte ihn nach Frankfurt-Preungesheim, um ihn von dort abzuschieben. Und dann geschah das Erstaunliche: zwei Tage nach MA’s Ankunft wurden die Medikamente vollständig abgesetzt, – wohl wissend, dass ein derartiger Abbruch verheerende psychische und physische Folgen haben kann. Der Arzt, der in Kassel diese Anordnung traf, begründete diese Maßnahme damit, dass die Medikamente „überflüssig“ gewesen seien.

Man konstruierte eine scheinbar logische Abfolge: da MA auf der Grundlage von Wilmers Gutachten normale Reaktionen zeigte, setzte man die Medikamente ab. Er ist normal und kann deshalb abgeschoben werden. Gleichzeitig forcierte man damit die Selbstmordgefährdung.

Hier wurde die Verhandlung abgebrochen, um weitere Stellungnahmen einzuholen.

Protokoll des 2. Verhandlungstages am 14. August. 2009

1. Einlassungen Wilmers

2. Einlassungen seines Verteidigers

3. Anhörung der Sachverständigen

4. Plädoyer des Staatsanwalts,

5. des Nebenklägers und

6. der Verteidigung

7. Urteil

1. Einlassungen Wilmers

Der Prozess begann mit „ergänzenden” Aussagen Wilmers zu seinen Ausführungen vom 1. Prozesstag drei Wochen zuvor. Er erwähnte noch einmal, dass er im Auftrag des Landgerichts Hanau gehandelt habe, dass MA im Anschluss an dessen psychiatrische Behandlung in der Hanauer Klinik als „Abschiebhäftling” in das Krankenhaus der JVA Kassel überwiesen hatte, um seine Reisetauglichkeit für die Abschienung begutachten zu lassen und ihn während seines Aufenthalts ärztlich zu betreuen. Außer der Kurzdiagnose der Hanauer Klinik (paranoide Schizophrenie und Selbstmordgefährdung) hätten ihm keine Infos zu MA vorgelegen. Ihm hätten auch keine Infos über dessen 2-maligen Aufenthalt in einer Friedberger Klinik vorgelegen (auch im Kurzbericht Hanaus nicht erwähnt). Nach seinem Gespräch mit MA habe er den Eindruck von einer „spätpubertierenden Persönlichkeit „ gehabt, während er intellektuell normal gewesen sei.. Nach seiner Sicht „Flucht in die Krankheit” wegen seiner schwierigen Lage. Seinevorangegangenen Selbstmordabsichten seien nach dessen eigener Aussage appellativ „ gewesen, ein Hilferuf, um auf seine Notlage aufmerksam zu machen. (Es geht darum, dass sich MA mit Benzin übergossen und mit seiner Selbstverbrennung gedroht hatte, was zu seiner Einweisung in die Hanauer Klink führte). Solche Leute begingen seiner Erfahrung nach nicht Selbstmord, den begingen eher „schweigsame Menschen.”

Außer der Hanauer Kurzdiagnose seien ihm alle anderen Informationen erst nach der Einleitung des Ermittlungsverfahrens gegen ihn bekannt geworden. Das betreffe:

  • den ausführlichen Abschlußbericht aus Hanau (angekündigt mit der zugesandten Kurzdiagnose). Auch darin sei nur der zweite Aufenthalt in Friedberg erwähnt worden, in dem von Drogengebrauch keine Rede mehr gewesen sei. Im ersten Friedberger Bericht sei dagegen der Haschisch-Konsum von MA nachdrücklich erwähnt worden.
  • von Verwandten habe er erfahren, dass Herr Alcali schon immer eine labile Person gewesen und alltäglichen Lebenslagen nicht gewachsen gewesen sei, einer, der sich im Leben nicht zurecht finde. Eine Persönlichkeitsstörung also, sei sie nun „instabil” oder „neurotisch“.... Mangel an sozialer und emotionaler Kompetenz, um sich in einer Notlage zurecht zubinden.

Alle Asylanträge seien schließlich abgelehnt worden. MA sei in der Türkei zum Wehrdienst einberufen worden und habe „Fahnenflucht” begangen, ein Delikt, das nun mal überall auf der Welt bestraft werde. Nach seiner Aussage hätten ihm 5 Jahre Haft bevorgestanden, wovon er natürlich nicht „begeistert” gewesen sei.

Er, Wilmer, habe wenig Verständnis für die Hanauer Kollegen (Wortwahl vorsichtiger, am ersten Prozesstag waren sie „Gutmenschen“...), die wohl davon ausgegangen seien, dass er ihren Bericht mit „geschlossenen Augen” billigen würde, und das, obwohl doch schon die Überweisung durch das Hanauer Landgericht auf Zweifel an ihrer Diagnose hindeute. Er selbst habe keine Schizophrenie gesehen.

Der Hanauer Klinikbericht sei seiner Meinung nach „tendenziös” gewesen (am ersten Tag: „Gefälligkeitsgutachten“), dahinter hätten vermutlich „wohlwollende Absichten” (am ersten Tag: „Gutmenschen“) gestanden, wohingegen für ihn nur die Verpflichtung gelte, „unseren Fachkenntnissen zu folgen.” Nachträglich habe es sich für ihn bei der Selbsttötung von MA um einen „Bilanz-Suizid” gehandelt, nach dem sich wohl auch dessen Hoffnung auf eine Heirat zerschlagen habe, da sich die betreffende Frau nach Belgien abgesetzt habe. Als die Realität anders ausgesehen habe als seine Phantasie, habe sich MA zum Selbstmord entschlossen. Dass die Kollegen in der Frankfurter JVA ihn als „entspannt” beschrieben hätten, weise darauf hin, dass er eine endgültige Entscheidung für sich getroffen hatte. Auch in seinem in der Zelle aufgefundenen Gefängnistagebuch finde sich kein Hinweis auf eine psychiatrische Erkrankung.

Auf die Frage der Richterin, ob sich Wilmer anders entschieden hätte, wenn ihm alle Informationen vorgelegen hätten, und warum er keinen Kontakt mit Hanau trotz der bedrohlichen Kurzdiagnose und der Ankündigung eines ausführlichen Briefes aufgenommen, habe, antwortet W. mit seinem schon bekannten „Argument”: dass deren Kurzbericht eben eindeutig tendenziös gewesen sei, sodass er eine Kontaktaufnahme für unnötig befunden habe. Daraufhin die Richterin: aber weitere Erläuterungen waren doch noch angekündigt, die Ihnen bei ihrer Entscheidung noch nicht vorlagen. Warum haben sie nicht abgewartet, nicht nachgehakt? Das sage einem doch allein schon der gesunde Menschenverstand. Wilmer (wiederholt): Das war eine Beurteilung auf Grund meiner langjährigen Erfahrungen...

Auch der Staatsanwalt pocht auf diesen Punkt: „Sie haben ein völlig abweichendes Urteil über MA gefällt, ohne sich vorher einen vollständigen Tatsachenüberblick zu verschaffen, was überall, auch im Justizbereich, so gemacht wird..“ Vorher gäbe es kein Urteil. Warum sollte das in der Psychiatrie anders sein? Es gebe ein Urteil des BGH, demzufolge Gutachten nicht blind gefolgt werden dürfe, sondern jeweils geprüft werden müsse, ob es den für Gutachten gängigen Kriterien entspreche. Es ginge um die „Glaubwürdigkeit” eines Gutachtens. Das sei der Dreh- und Angelpunkt der Anklage gegen ihn. Wie konnten sie von „tendenziös” sprechen, obwohl ihnen der Abschlußbericht noch gar nicht vorlag? Warum haben sie diesen nicht besorgt?. Warum sind sie davon dramatisch abgewichen, ohne sich den umfassenden Tatbestand anzueignen (Abschlußbericht Hanauer Klinik).

Wilmer antwortet darauf wieder nur mit dem Verweis auf seine „jahrzehntelange Erfahrung.”

2. Einlassungen des Verteidigers

Im Anschluss an Wilmer bringt sein Verteidiger handschriftliche Aufzeichnungen von MA ins Spiel, die dieser in den Tagen vor seinem Selbstmord in der JVA Frankfurt angefertigt hatte und die dort in seiner Zelle gefunden worden waren. Aus den vor Gericht verlesenen Ausschnitten ging seine Einsamkeit hervor und seine Hoffnungslosigkeit , was die Zukunft betraf (seine Geliebte habe er verloren, seine Familie sei zerstreut...)...

Der Staatsanwalt möchte, dass noch weitere Zeilen vorgelesen werden, die auf Anderes hinweisen: „Mit meiner ganzen Kraft möchte ich hier rauskommen. Mit dem Übersetzer bin ich nicht zufrieden.... was ich brauche, ist Liebe.”

Anschließend will der Verteidiger noch auf die Beschwerdeentscheidung beim Landgericht Hanau vom 25. Juni 2007 eingehen , also zwei Tage vor dem Selbstmord von MA. Das Gericht habe einen Aufschub der Abschiebung von MA mit der Begründung abgelehnt, dass ihr keine Erkrankung im Wege stehe, weil nach Auffassung seines Mandanten keine Psychose, sondern eine wegen seiner Lage verständliche Depression vorliege. Der Angeklagte, so das Gericht, sei klar orientiert, ein Obergutachten sei nicht nötig. Ein solches Obergutachten hatte der die Mutter von MA vertretende Nebenkläger, Herr Müller-Vock, wegen der weit auseinander fallenden, sich widersprechenden Diagnosen am 22.06.2007 schriftlich beim Gericht beantragt. Wie er auf Frage des Verteidigers antwortete, habe er in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer am 25.6., bei der es allein um die Anhörung von MA gegangen sei, darauf verzichtet, seinen Antrag noch einmal zu begründen, weil das sinnlos gewesen wäre. Die Frage des Verteidigers, ob Wilmer ihn angerufen und ihm seine abweichende Diagnose mit geteilt habe, bejahte er. Es stimme zudem, dass Wilmer auch geäußert habe, dass eventuell ein Obergutachten erforderlich sei. Der Verteidiger bohrte nach mit der Frage, warum er dem Gericht nicht vor Ort vermittelt habe, was in Kassel so widersprüchlich „kurzdiagnostisch” befunden worden sei. Hinzu fügte er die Anmerkung, dass dem Arzt in der JVA Frankfurt-Preungesheim der schlechte Gang von MA aufgefallen sei und er deshalb in Kassel angerufen habe. Ob der Nebenkläger davon gewusst habe? Dieser konnte sich daran nicht erinnern.

3. Anhörung der beiden Sachverständigen

Im Anschluss daran wurden die beiden Sachverständigen angehört, die beide Wilmer, wenngleich mit unterschiedlicher Akzentsetzung, stark belasteten. Das Gutachten des ersten beim Landesversorgungsamt angestellten psychiatrischen Sachverständigen (im folgenden S1), wurde von ihm bereits im Dezember 2007 angefertigt, also zu einem Zeitpunkt, zu dem von einem Ermittlungsverfahren gegen Wilmer noch nichts erkannt war. Hingegen lagen ihm damals schon sowohl die klinischen Stellungnahmen zu den beiden Friedberger Aufenthalten von MA und dessen späterem Aufenthalt in der Hanauer Psychiatrie und in der Kasseler JVA vor. Die von S1 in seiner Stellungnahme konstatierten Mängel waren die folgenden:

  • Die Verlegung von MA von Hanau nach Kassel und von dort nach Frankfurt seien jeweils an Freitagen erfolgt, an denen gewöhnlich die Anstalten personell unterbesetzt seien.
  • Die Hanauer Diagnose sei in Kassel von Herrn Wilmer nach nur einem Gespräch mit Herrn Alcali verworfen worden. Und zwar in vier Textzeilen, in denen eine „Belastungsstörung” diagnostiziert worden sei. Trotz Herrn Wilmers Annahme, dass Drogen im Spiel gewesen wären, habe es keine Laborproben gegeben.
  • Der Verlegungsbericht nach Frankfurt habe keine Hinweise auf die medikamentöse Behandlung von MA enthalten (Risperdal, Taxilin, Tavor). Gleichzeitig aber seien ihm die genannten Medikamente ohne ärztliche Verordnung mit gegeben worden.
  • Als höchst bedenklich müsse angesehen werden, eine nach 4 Wochen stationärer Behandlung abgegebene Diagnose nach nur einem Gespräch in einem schriftlichen Vierzeiler zu verwerfen, statt sich mit dieser Diagnose ausführlicher auseinanderzusetzen.
  • Wegen der medikamentösen Behandlung von MA hätte der akute Befund in Kassel ja anders ausfallen müssen, da es auch darum gegangen sei, die Suizidgefahr medikamentös zu bannen.
  • In Frankfurt sei dann die Medikation vollkommen abgesetzt worden.
  • Die Hanauer Medikation sei also fortgesetzt, die Hanauer Diagnose hingegen verworfen worden. Die Medikamente seien mit gegeben worden, aber als der Frankfurter Arzt in Kassel anrief, teilte ihm der Diensthabende Arzt dort nach Akteneinsicht mit, sie könnten abgesetzt werden, MA brauche sie nicht mehr.
  • Warum habe überhaupt alles so schnell gehen müssen, wo doch die Abschiebung erst für September vorgesehen gewesen sei?

Man könne mithin sagen, dass eine Summe von Fehlern, eine Verkettung von Fehlhandlungen zum Selbstmord von MA geführt habe. Im übrigen bestünde bei einer Psychose eine eher geringe Selbstmordgefahr, wohingegen sie im Fall einer Depression beträchtlich sei.

Der Hauptanteil des Angeklagten am späteren Selbstmord von Herrn Alcali bestünde, wie bereits erwähnt darin,, dass er auf Grund eines einzigen Einzelgesprächs mit MA am 18.6.2007 eine Diagnose radikal verworfen habe, der ein vierwöchiger stationäre klinischer Aufenthalt zugrunde gelegen habe.

Die Frage des Staatanwalts an S1 geht dahin,, ob es sich um drei oder vier unabhängig voneinander begangene Fehler gehandelt habe, woran er kurze Anmerkungen zur Position Wilmers in der Kasseler JVA anschließt. In Kassel hätten sich alle auf Herrn Wilmer, den einzigen Psychiater, verlassen und zwar sowohl in diagnostischer Hinsicht als auch hinsichtlich der medikamentösen Weiterbehandlung von MA. Habe Wilmer, was letzteres betreffe, nicht eine Entscheidung treffen müssen, wie weiter verfahren werden solle? Und hätte er diese Entscheidung nicht dokumentieren müssen?

Beide Fragen werden vom Sachverständigen bejaht.

Der Nebenkläger stellt noch einmal klar, dass MA deshalb zur Unterbringung nach Kassel überwiesen worden sei, weil dort, anders als in Frankfurt, während der angeordneten Abschiebehaft eine ärztliche Betreuung möglich gewesen sei und eine Begutachtung der „Abschiebetauglichkeit” von MA erfolgen sollte, also seiner Reise- und Flugfähigkeit.” Um ärztliche Betreuung und Begutachtung sei es gegangen. Auf seine Frage an S1, ob es nicht vermerkt werden müsse, wenn die Medikamentierung beibehalten werde, antwortete dieser mit einem klaren ja. Wenn indes, so der Sachverständige eine andere Diagnose gestellt werde, welche auch immer, müsse angeordnet werden, in welcher Weise die bisherigen Medikamente ausgesetzt werden müssten.

Hätte sich Herr Wilmer, so der Staatsanwalt, nicht auch den am 15.6 erstellten Aufnahmebericht Kassels anschauen müssen, in dem „Drogen” erwähnt worden seien, während er doch ausgeführt ausführte habe, erst später von diesen erfahren zu haben. S1 antwortet darauf noch einmal mit einem Hinweis auf die schweren organisatorischen Mängel und Informationsversäumnisse in der JVA Kassel. Obwohl alle relevanten Ärzte im Urlaub gewesen seien, sei dem Landgericht Hanau mit geteilt worden, das alles gemacht werden könne. Und noch einmal seine zusammenfassende Kritik:

  • nach nur einem Gespräch sei kein Gegengutachten möglich;
  • fehlerhafte/unklare Medikamentierung.

Würden Sie es, so die Frage des Staatsanwalts an S1, als einen Organisationsmangel betrachten, wenn ein 79-jähriger eine 12 Stunden-Stelle innehabe und gleichzeitig andere wegen Urlaubs ersetzen müsse.... „Ja, natürlich.”

Der zweite Sachverständige (im folgenden S2) ist Professor für Psychiatrie und forensische Psychiatrie mit psychoanalytischer Zusatzausbildung. Seine Ausführungen betrafen zwei Themenkreise:

a) inwieweit lassen sich Verletzungen der ärztliche Sorgfaltspflicht feststellen?

b) Die so genannte Kausalitätsfrage: gibt es eine Kausalkette, die zum Selbstmord von MA führte?

zu a)

Ausgangspunkt seiner Betrachtungen war, dass MA etwa zwei Jahre lang in relativ kontinuierlicher, mal ambulanter, mal stationärer Behandlung war. Stationär zuletzt in Hanau vom 16.05. bis zum 16.06.2007. Einige Zeit davor aber zwei mal in Friedberg mit unterschiedlichen Diagnoseergebnissen. Bei seinem ersten Aufenthalt dort sei ein drogeninduziertes Wahnsyndrom mit Persönlichkeitsstörung diagnostiziert worden. Bei seinem zweiten Aufenthalt als Differentialdiagnose dagegen Schizophrenie mit latenter Suizidgefahr. Die Medikamentierung sei auf ein Neuroleptikum bei Schizophrenie umgestellt worden. Friedberg habe im übrigen von der Abschiebungsbedrohung von MA gewusst. Auch der Hanauer Klink sei das bekannt gewesen. In die sei er bekanntlich eingeliefert worden, nachdem er sich mit Benzin übergossen und mit seiner Verbrennung gedroht habe. Wie bekannt sei, wechsele das Krankheitsbild auch unter medikamentösem Einfluss. In Hanau sei MA medikamentös und gruppentherapeutisch behandelt worden. Die medikamentöse Behandlung diene zur Rekompensation, richte sich gegen den akuten psychotischen Schub. Typisch sei in der Folge eine „post-schizophrene Depression mit Todeserwartung.” Die Hanauer hätten den Friedberger Bericht gekannt und ihre Diagnose „Paranoide Schizophrenie” könne seiner Ansicht nach als „gesichert” angesehen werden, auch wenn er selbst den Patienten nie gesehen habe.

Im Verlauf einer entsprechenden Behandlung finde gewöhnlich ein Symptomwandel statt. Der symptomatische Verlauf ließe sich wie folgt rekonstruieren:

In der 1. Phase glaubte Herr Alcali, dass seine Abschiebung zur Ermordung in der Türkei führen würde. In Kassel käme er aber bereits mit einer medikamentös bewirkten Rekompensationssymptomatik an. Zwar sei seine Verlegung möglich gewesen, aber die Suizidgefahr nicht gebannt worden, und deswegen habe es eine entsprechende Medikamentenempfehlung gegeben. Wobei auf Grund internationaler Erkenntnisse davon auszugehen sei, dass in der post-schizophrenen Phase die Selbstmordgefahr besonders hoch sei.

Im Aufnahmebericht Kassels sei auch die Suizidgefahr angemerkt worden.

Zu b)

Was die Kausalität angehe, so gäbe es in der Psychiatrie keinen den Naturwissenschaften/der Medizin entsprechenden Kausalitätsbegriff und ihm entsprechende Methoden (wie bei einer Viruserkrankung oder mit einem Röntgenbild) . Zur diagnostischen Klärung dienten daher andere Vorgehensweisen wie:

  • Verlaufsanalyse
  • Beobachtung
  • Aussagen der Angehörigen
  • Reaktionen auf Medikamente
  • Auf und Ab eines Symptoms

Je länger die Beobachtungszeit sei, als desto sicherer könne die Diagnose gelten. Herr Wilmer habe die Hanauer Diagnose als „tendenziös” bezeichnet, wohingegen seine eigene Diagnose „Belastungssituation ohne Krankheitswert” lautete. Er scheine davon ausgegangen zu sein, dass sich die Hanauer Ärzte in ihrer Einschätzung geirrt hätten, beziehungsweise sich von MA hätten täuschen lassen. Dazu sei zunächst anzumerken, dass alle Kliniken im Rhein-Main-Gebiet an einer Pflichtversorgung beteiligt wären, und alle Patienten, die eine Behandlung benötigten, auch aufgenommen würden. Darunter auch „Abschiebpatienten”. So seien im Krankenhaus Frankfurt Höchst innerhalb von fünf Jahren 82 Abschiebhäftlinge behandelt worden. Von diesen Abschiebepatienten hätte ein Drittel unter akuten Belastungen gelitten, ein Viertel unter Drogen- und Alkoholkonsum und ein Fünftel unter psychotischen Schizophrenien. Außerdem habe es (wohl wegen zweifelhafter Fälle) eine Initiative der Landesärztekammer Hessen gegeben, um die Art und Weise der Beteiligung von niedergelassenen und von Klinikärzten an Abschiebverfahren zu untersuchen. Eine Stellungnahme dazu sei im Hessischen Ärzteblatt JG 2007 veröffentlicht worden. Hintergrund für die Untersuchung sei gewesen , dass Psychiater in vielen Fällen vor einem „Dilemma” stünden:

  • einerseits hätten Patienten, Anwälte oder Dolmetscher gern ein ärztliches Attest, mit dem eine Abschiebung verhindert werden könne;
  • andererseits habe es Fälle gegeben, wo psychotisch Kranke auf behördliche Anweisung zwangsweise aus Kliniken herausgeholt und zwangsweise abgeschoben worden seien mit negativen Folgen im Heimatland bis hin zu einer Retraumatisierung.

Für die psychiatrische Beurteilung seien immer auch lebensgeschichtliche Elemente von Bedeutung. Und gleichzeitig müsse man wissen, dass der Kranke nach einer akuten psychotischen Phase, und wenn er wieder einigermaßen „organisiert” sei, gewöhnlich das vorher gewesene nicht mehr benenne, weil er Angst habe, es könne wiederkehren. Wegen der unsäglichen Erschütterung durch das Vorangegangene werde dieses abgespalten. Vorübergehend den Deckel drauf sozusagen. Deswegen stellten sich die Dinge in der nachfolgenden Phase anders da.

Wenngleich Wilmer von seiner eigenen Diagnose überzeugt gewesen sei, habe er gegen Grundsätze der Psychiatrie verstoßen und die ärztliche Sorgfaltspflicht in mehrfacher Hinsicht verletzt.

  • Der Erkenntnisgewinn einer mehrwöchigen klinischen Untersuchung (Hanau) sei im jeden Fall höher zu veranschlagen als der einer einmaligen Untersuchung;
  • es könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Hanauer Ärzte mit der Abschiebproblematik in Hessen unvertraut gewesen wären;
  • diese haben den Patienten in einer akuten Phase erlebt;
  • das Wissen des Psychiaters, das auf einen „kurzen Blick” hin gewonnen werde, könne wegen der medikamentösen Rekompensation eines Patienten, zu gewaltigen Irrtümern führen. Und MA habe sich in der post-schizophrenen Phase befunden.

Aus diesen Erwägungen folge, dass die Grenzen der ärztlichen Sorgfaltspflicht von Wilmer deutlich überschritten worden seien. Er hätte sich auf jeden Fall – auch und gerade angesichts der übermittelten Hanauer Kurzdiagnose – für sein eigene Beurteilung mehr Informationen verschaffen müssen.

Was nun den zweiten Punkt, nämlich die Kausalität hinsichtlich des Suizids von MA angehe, müsse man sich zunächst die Vielfalt möglicher Risikofaktoren vergegenwärtigen, zu denen unter anderem die folgenden zählten:

  • frühere Selbsttötungsversuche
  • psychiatrische Symptome
  • subjektiv ausweglose Lage
  • keine Einbettung in Freundeskreis

Wilmer habe hervorgehoben, dass MA guter Hoffnung gewesen sei, u.a wegen seiner (angeblich bevorstehenden) Heirat. Wenn man keine weiteren Informationen habe, könne man dies natürlich annehmen. Im Nachhinein habe W. dessen Selbsttötung als „Bilanzsuizid” beurteilt. Für ihn sei diese eine überlegte „bilanzierende Entscheidung” aus „freier Willensbildung” gewesen. Diese Beurteilung sei nicht haltbar. Denn MA sei nicht gesund gewesen, habe Wahnsymptome gehabt und sich in der post-schizophrenen Phase befunden, die oft – auch wegen der medikamentösen Rekompensation – ganz andere, gegenteilige Symptome hervorbringe. Ex-post betrachtet hätte deshalb die Suizidgefahr von W. gesehen werden müssen. Er habe schließlich die Hanauer Kurzdiagnose gekannt. Fachpsychiatrisch seien hinsichtlich der Suizidproblematik drei Dinge erwähnenswert:

  • Suizidabsichten würden zwar häufig geäußert, aber überwiegend nicht realisiert. Die Zahl der Selbsttötungsäußerungen überträfe die der tatsächlich begangenen Selbsttötungen um das Zwanzigfache;
  • zugleich überträfe die Zahl der Suizidversuche, die der eingetretenen Suizide um ein vielfaches (in Deutschland kämen auf 10.000 Suizide 100.000 bis 400.00 Suizidversuche);
  • die Suizidproblematik sei „mehrdimensional” in der Weise, dass Selbsttötungsversuche „appellativ” oder ernsthaft sein könnten und dazwischen eine breite Variation von Möglichkeiten bestünde.

MA habe unter akuter Abschiebungsdrohung gestanden, keinen stabilen Familienhintergrund gehabt und sei psychisch erkrankt gewesen, während zugleich die Medikamente in den Tagen vor seinem Tod abgesetzt worden seien.

In Bezug auf die Aussagen zur Medikamentierung stimmte S1 auf richterliche Anfrage hin ausdrücklich mit seinem Kollegen überein.

Bezüglich der ursprünglich verschriebenen Tabletten könne man davon ausgehen, dass sie etwa 70 Stunden nach der Absetzung aus dem Körper „raus” seien. Ein Absetzen der Medikation führe in der Regel zu einem „labilisierten Zustand“, der besonderer Beobachtung bedürfe. Es sei indes kein sicherer Beweis dafür, dass bei MA die Psychose wieder aufgetreten wäre, da dies gewöhnlich nicht sofort geschehe. Aber, wie gesagt, nahe liegend sei eine „Labilisierung”, deren Ausmaß und Gewicht nicht sicher sei.

Eine unmittelbare Kausalität zwischen Wilmers Verhalten und dem Suizid von MA ließe sich, so der zweite Sachverständige, nicht eindeutig bestimmen. Es gäbe nur eine nicht „genau bestimmbare Wahrscheinlichkeit”. Auf die Frage der Richterin, ob es sich um eine „mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit” handeln könne, antwortet er mit nein. Indes ist nicht bereit, den Wahrscheinlichkeitsgrad etwas genauer zu bestimmen. Vielleicht „hoch.” (Er druckste rum, wollte sich nicht genau festlegen). Verletzungen der Sorgfaltspflicht seien dagegen eindeutig,

Im Anschluss an ihre Anhörung wurden die Sachverständigen zunächst vom Staatsanwalt befragt. Nach dessen Hinweis, dass sich die Fragen aus juristischer Sicht nicht als Kausalitätsfragen stellten, richtete er an S2 die Frage, was denn ein richtiges Verhalten gewesen wäre. Dessen Antwort lautete:

  • man hätte alle Informationen einholen müssen, was Herr Wilmer unterlassen habe;
  • wenn man eine Suizidgefahr sehe, müsse man alles dagegen tun. Aber Herr Wilmer sah sie nicht, obwohl die „Suizität im Raum gestanden” habe. Deshalb hätten mehr Vorsichtsmaßnahmen ergriffen werden müssen.

Man hätte sich also, so daraufhin der Staatsanwalt, alles lange anschauen müssen. Man habe Zeit gebraucht. In den Verlegungsbrief nach Frankfurt hätte daher gehört, dass eine längere Beobachtung von MA im „geschützten Raum”, was immer das sei, notwendig wäre. Massive Angst vor der Abschiebung – die hier kein Thema sei – und Selbstmordgefahr seien bekannt gewesen. Müsse dann aus psychiatrische Sicht vorgebeugt werden?

S2 antwortete darauf, dass man zunächst wissen müsse, ob die betreffende Person krank sei. Sei das nicht der Fall, müsse gleichwohl der Suizitätsgefahr nachgegangen werden. Wobei „Bilanzsuizide” relativ selten seien. Die Richterin fragte, ob es so sei, dass wenn die betreffende Person sich umbringen wolle, sie zwar nicht zwangsweise eingewiesen werden könne, aber ihr alle Behandlungsmöglichkeiten angeboten werden müssten? So sei es.

Ebenfalls an den Sachverständigen 2 gewandt, führte der Staatsanwalt aus, dass Kassel die Verantwortung für MA übernommen habe und sie dann mit der Verlegung von MA nach Frankfurt dorthin abgegeben habe. Infolgedessen hätte den Frankfurtern doch wohl ein Hinweis gegeben werden müssen, dass noch Selbstmordgefahr bestünde, denn MA sei ja nicht ins „Nichts” entlassen worden. Sei diese Unterlassung nicht ein ärztliche Kunstfehler?

S2 antwortet, dass es ja in Frankfurt eine medizinische Versorgung gegeben habe. Also habe Wilmer seine Sicht der Dinge und alle vorliegenden ärztlichen Dokumente/medizinischen Informationen weiter geben müssen, damit sie dort hätten sehen können, dass eine Gefährdung möglich sei, auch wenn er, Wilmer, diese Meinung nicht teile.

W. sei subjektiv von seiner (abweichenden) Diagnose überzeugt gewesen, und habe die Hanauer Diagnose nicht ernsthaft als Möglichkeit wahrgenommen. Der Nebenkläger fügte die rhetorische Frage hinzu: Hätte W. nicht auch dem Landgericht Hanau und „Dritten” mitteilen müssen, dass die Lage unklar sei, dass andere Diagnosemöglichkeiten bestünden?

An den S2 gewandt, fragte dann Wilmer retour, ob dieser ausschließen könne, dass das Verhalten von MA „drogeninduziert” gewesen sei, wo er doch Wochen vorher noch viel Haschisch genommen habe? Dieser antwortete darauf, dass er die Frage zwar nicht persönlich beantworten könne, da er MA nicht gesehen habe, dass aber alles, was er an Unterlagen gesichtet habe, auf die Plausibilität der Hanauer Diagnose verweise.

Die Richterin wirft daraufhin ein, ob es denn in Bezug auf die beiden entscheidenden Punkte (Sorgfaltspflicht, Kausalität) etwas ändern würde, wenn Wilmers Diagnose richtig gewesen wäre?

Nein, so die Antwort von S2 , denn Suizidgefahr habe auf jeden Fall bestanden. Und für Jugendliche sei bekannt, dass sie durch die Einnahme von Haschisch in eine Schizophrenie geraten könnten. Prinzipiell unterscheiden ließen sich eine solche drogeninduzierte Psychose und eine direkte Drogenpsychose. Sein Kollege fügte hinzu, dass Wilmer ja auch keine drogeninduzierte Psychose diagnostiziert habe.

4. Plädoyer des Staatsanwalts

Der Staatsanwalt meint zunächst, noch einmal feststellen zu müssen, dass es hier nicht um „willfährige Abschiebärzte“ gehe, wie von Pro Asyl propagiert, sondern ausschließlich um „ärztliche Kunstfehler.” Er selbst sei für Fälle zuständig, die in hessischen in JVAs spielten. Die „entscheidende Fallfrage” im gegenwärtigen Prozess ergebe sich aus der folgenden Sachlage: MA sei als Abschiebhäftling nach Kassel gebracht worden, weil in der dortigen JVA das einzige hessische Zentralkrankenhaus bestünde. Er kam aus der Hanauer Klinik und der dort verfasste ärztliche Kurzbrief mit der Diagnose Paranoide Schizophrenie und Selbstmordgefährdung lag in Kassel vor. Und zwar mit der Zusatzbemerkung, dass ein ausführlicher Brief folgen werde. Wilmer habe demgegenüber eine „Belastungsstörung” diagnosziert, ohne den angekündigten ausführlichen Hanauer Arztbrief abzuwarten. In Frankfurt sei dann die Medikation durch einen Nicht-Psychiater, der sich auf Kassel verlassen habe, abgesetzt worden. Die rechtliche Würdigung müsse daher von mehreren Behandlungsfehlern ausgehen. Die unmittelbare Verantwortung habe bei Herrn W. als „Garant” der ärztlichen Fürsorge für MA gelegen, wie immer die organisatorischen Mängel in Kassel ausgesehen hätten.

  • Wilmer habe den ausführlichen Hanauer Arztbrief nicht abgewartet;
  • die Medikamentierung nicht genau bestimmt;
  • keine „ordnungsgemäße Übergabe der Verantwortung” an Frankfurt geleistet, da er nicht alle vorliegenden Informationen weiter gegeben habe.

Insoweit der „juristische Kausalitätsbegriff als prozessuale Wahrheit” bestimmt werden könne, ginge es hier um operationale Kriterien dazu, wie man mit Unsicherheit umgehen könne. In der Psychiatrie hieße das offensichtlich : längere Beobachtung mit und ohne Medikamenteneinfluss. Dieser „Schlüssel” sei auch für das „Gericht leitend”, woraus Handlungsanweisungen folgten. Beurteile ein Psychiater einen Angeklagten als „nicht-schuldfähig“, werde dieser frei gesprochen. Die Frage stelle sich also, was wäre, wenn Herr Wilmer seine Fehler nicht gemacht hätte? Hätte Herr Wilmer AM länger beobachtet, hätte dieser gar nicht in Frankfurt sein können. Wären die notwendigen Informationen weitergegeben worden, hätte MA in Frankfurt nicht unbehandelt bleiben dürfen. Die Entscheidungsgrundlagen Wilmers seien „oberflächlich” gewesen. Herrn MA’s Situation sei so gewesen, das etwas habe passieren können, was im Justizvollzug immer hieße, dass man dann handeln müsse. Insofern hätten sich die Fehler als „Selbstmord” ausgewirkt. Und in diesem Sinne seien die Fehler von Herrn Wilmer aus justiziabler Sicht auch als kausal anzusehen. Werde er dadurch entlastet, dass „Dritte” versagt hätten? Nein. Frankfurt, am Ende der Kette, habe nicht versagt. Und für den Anfang gelte, dass W. , in dem er in Kassel für Herrn Alcali eingesetzt worden sei, eine „Garantenpflicht „ für ihn übernommen habe. Indes ließen sich zwei mildernde Gründe für sein Verhalten ins Feld:

  • W. hätte gar nicht in diese Lage kommen dürfen, da man unter keinen Umständen einen solchen schwierigen Fall, der eine vollwertige 40 bis 50jährige Einsatzkraft verlange, auf einen 79-jährigen mit 12-Stunden-Beschäftigung abwälzen dürfe;
  • dass W. mit heute 82 Jahren noch nicht strafrechtlich belastet sei, müsse als Lebensleistung anerkannt werden.

Mildernd hätte sich auch auswirken können, wenn W. das geschehene aufrecht bedauert und seine Fehler anerkennt hätte. Davon aber könne keine Rede sein. Es waren für ihn immer nur andere. Insgesamt habe es sich um Fehler „in einem schwierigen Feld” gehandelt. In einem Feld, wo die Konsequenzen von Fehlern oft weitaus größer als anderswo seien. Abschließend beantragt der Staatsanwalt für W. eine finanzielle Strafe in Höhe von 120 Tagessätzen.

5. Plädoyer des Nebenklägers (Anwalt der Mutter von Mustafa Alcali)

Er beginnt mit der rhetorischen Frage, ob denn ein Organisationsverschulden” der Kasseler JVA vorliege. Seiner Ansicht nach nicht, weil W. dort seit Jahrzehnten gearbeitet habe und schon bei Vertragsabschluss hätte sehen müssen, das er solche Arbeiten nicht mehr bewältigen könne/den Leistungsanforderungen nicht mehr gewachsen sei.

Wilmer habe also die Behandlung übertragen bekommen. Als normal sei es doch anzusehen, dass man erst mal genauer hinschaue, was die vorbehandelnden Ärzte gesagt hätten; dass man versuche, deren Diagnose auch mit anderen zu erörtern, ein wenig abzuwarten. Hätte er abgewartet, hätte er auch noch die Unterlagen über die beiden Friedberger Aufenthalte Herrn Alcalis bekommen. Ein einziges Gespräch, dass mit diesem am 18.06. statt gefunden habe, sei von Herrn Wilmer dokumentiert worden. Bereits am Tag danach habe er ihn, als den damaligen Anwalt von MA., angerufen und ihm mit geteilt, dass die Hanauer Diagnose falsch sei und er die Sache ganz anders sehe. Infolgedessen hätten die beiden von ihm später mit MA geführten Gespräche, auf die er am 1. Verhandlungstag verwiesen habe, für seine eigene Diagnose überhaupt keine Rolle gespielt. Wilmer habe nicht einmal gelesen, was im am 15.06.2007 verfassten Aufnahmebericht des eigenen Krankenhauses in Kassel gestanden habe. Sein Vorgehen ließe sich nur als ein von Vorurteilen bestimmtes Verhalten begreifen, Vorurteilen gegenüber „Abschiebhäftlingen”, die anscheinend immer nur jammerten und schnell abgeschoben gehörten. Was die ärztliche Sorgfaltspflicht angehe, so sei rein gar nichts von W. dokumentiert worden. Weder die beiden von ihm angeführten Folgegespräche mit MA noch die Medikamentierungsschritte. Herr Wilmer gehöre zu jenem Kreis von Personen, die ihr eigenes Verhalten nie in Frage stellten und bereits im Vorhinein alles wüssten. Das hieße in diesem Fall, auf Fachwissen zu verzichten und Vorurteilen aufzusitzen. Vorurteile statt Kompetenz spiegelten sich in Herrn Wilmers Beurteilung der Hanauer Ärzte als „Gefälligkeitsgutachter“ wieder, die keine Ahnung von Abschiebungen hätten. Er dagegen lässt sich von seinen „Pappenheimern kein X für ein U vormachen.” Seine fachlichen Kompetenzausweise benutze er nur dazu, seine Vorurteile zu stützen. Noch im Nachhinein spreche er sich frei.

Und dann die große Überraschung: Der Nebenkläger stellt keinen Strafantrag.

6 .Plädoyer des Verteidigers:

Einer Meinung sei er mit dem Herrn Staatsanwalt, dass der Prozessverlauf bislang von großer Sachlichkeit geprägt gewesen sei, was sich bedauerlicherweise mit dem Plädoyer des Nebenklägers geändert habe. Seinem Mandaten vorzuwerfen, dass er überhaupt eine Stelle in der JVA Kassel übernommen habe, hieße, die unsagbaren personellen Zustände in den Justizvollzugsanstalten zu ignorieren. Er selbst habe viel mit Abschiebungen zu tun gehabt und kenne sich da aus. Im juristischen Sinne stimme es zwar, dass Herr Wilmer seine ärztliche Sorgfaltspflicht verletzt habe. Aber wie sei die Gesamtsituation zu beurteilen? Der eigentliche Knackpunkt des Falles sei die „Kausalität” in Bezug auf die Selbsttötung von Herrn Alcali. Hinsichtlich dieser müsse laut BGH nach „Zurechnungszusammenhängen” gefragt werden. Unter diesem Gesichtspunkt, müsse das Verhalten seines Mandanten, solle es als kausal beurteilt werden, als „wesentlich in der Fortsetzungskette” bestimmt werden. In diesem Zusammenhang wolle er auf das Verhalten des Arztes in der Frankfurter (JVA) zurückkommen und fragen, warum dieser die Medikamente sofort abgesetzt habe. W. habe das nicht im Vorhinein wissen können. Und wie sei sein Verhalten im „Gesamtzusammenhang” zu beurteilen? Am 15.06 habe das Hanauer Landgericht unmittelbar im Anschluss an den dortigen Klinikaufenthalt von Herrn Alcali einen Beschluss zur Abschiebehaft für ihn getroffen und seine Verlegung in die JVA Kassel angeordnet. Die Hanauer Kurzdiagnose habe bei gelegen. Am 18.06. Habe W. nach einem längeren Gespräch mit A. eine „Belastungsstörung ohne Krankheitswert” diagnostiziert. Am 21.06. wurde MA nach Frankfurt verlegt und die Kurzdiagnose Kassels habe beigelegen. Für den 25.06. sei eine Anhörung von MA vor der Beschwerdekammer Hanau anberaumt worden. Anzunehmen gewesen sei, dass dort eine Entscheidung getroffen werde. Die Beschwerde sei von der Kammer in Kenntnis beider Gutachten zurück gewiesen worden. Und MA habe sich auch so verhalten, wie im Gutachten seines Mandanten beschrieben. Infolgedessen sei festzustellen, dass sich Berufsrichter keinerlei Gedanken darüber gemacht hätten, dass hier zwei völlig verschiedene Gutachten vorgelegen hätten. Sie hätten nichts hinterfragt, obwohl sich doch Richter nicht kritiklos Gutachten anschließen dürften.

Dass die Hanauer Richter nichts fragten und nichts wüssten, habe sein Mandant nicht vorhersehen können. Schon gar nicht angesichts dessen, dass er selbst am 19.06. den Anwalt Alcalis angerufen und ihm gesagt habe, wenn er noch etwas machen wollen, solle er doch ein Obergutachten beantragen. Am 24.06. sei Herr Alcali wegen seines auffälligen Ganges in der Frankfurter JVA untersucht worden. Der Frankfurter Arzt hätten dann in Kassel angerufen, aber nicht Wilmer, sondern einen Dienst habenden Allgemeinmediziner an den Apparat bekommen, der ihm noch mal die Diagnose Wilmers mitgeteilt habe: Belastungsstörung ohne Krankheitswert. ” Warum habe der Frankfurter Arzt S. nicht noch einmal in Kassel angerufen und nachdrücklich Herrn Wilmer verlangt? Zusammenfassend ließe sich feststellen, seien eine Reihe von Ursachen zur Selbsttötung von A. gesetzt worden, die sein Mandant nicht habe voraussehen können.

In Frankfurt habe man auf jeden Fall auch über den Haftgrund von MA Bescheid gewusst: Abschiebehaft. Auch in diesem Zusammenhang hätte der Frankfurter Arzt mehr wissen können. Es gebe immerhin eine medizinische Betreuung in Frankfurt und u.U. hätten externe Fachkräfte hinzugezogen werden können. Insgesamt sei sein Mandant nur ein Glied in einer Kausalkette mit vielen Gliedern. Auf Grund dessen plädiere er auf Freispruch.

Im Anschluss daran meldete sich Wilmer noch einmal kurz zu Wort, um ein bisschen gut Wetter zu machen. Die Selbsttötung von A. tue ihm aufrichtig leid, habe ihn mitgenommen. Formale Fehler wegen seiner Überbelastung habe es gegeben. Die Verantwortung für Frankfurt habe er aber nicht auch noch übernehmen können. Und er sei davon ausgegangen, dass das Hanauer Gericht ein Obergutachten anfordern würde; er hätte dem Gericht besser dazu schreiben sollen.

7. Das Urteil

Nach kurzer Pause verkündet die Richterin das Urteil: Freispruch.

In ihrer kurzen Begründung führt sie aus, das zweifellos Verletzungen der ärztlichen Sorgfaltspflicht, inklusive fachlicher Fehler, vorlägen, die aber strafrechtlich irrelevant seien. Strafrechtlich ausschlaggebend sei die Beantwortung der „Kausalitätsfrage“. Und die sei so zu beantworten: Eingebettet zwischen dem Hanauer Gericht an dem einen Pol und dem Frankfurter JVA-Arzt am anderen, stelle das Verhalten des Angeklagten nur eine Ursache da und sei er somit für den Selbstmord von Herrn Alcali nicht verantwortlich. (Die richterliche Begründung folgte somit der, die dem Freispruchantrag des Verteidigers zugrunde lag.)

8. Einige Schlussfolgerungen

Die Protokolle zeigen ein in sich geschlossenes System, in dem verschiedene Instanzen und Fachkräfte sich zuarbeiten, ignorieren oder widersprechen – ein Lehrstück über die Irrationalität bürokratischen Handelns, das aber von einer rationalen Leitidee getragen ist: mit allen verfügbaren Mitteln die Realität so zuzurichten, dass es zum gewünschten Ziel kommt, nämlich der Abschiebung. Aber sie zeigen auch einen eklatanten Mangel an Fachkräften, die unbefangen an Menschen in Ausnahmesituationen herangehen.

Konstruiert wurde eine anonyme „Kausalitätskette“, in der einzelne Entscheidungsträger keine Verantwortung für ihr Handeln übernehmen mussten. Eine der Ursachen für einen Selbstmord zu sein, bedeutet danach, ein schuldloses Rädchen im Getriebe zu sein.

Ärzte im Abschiebesystem sind dabei offenbar Erfüllungsgehilfen, die sich in den Dienst der Ausländerbehörden stellen. Erst kürzlich hatte der „Verein demokratische Ärztinnen und Ärzte“ darauf aufmerksam gemacht, dass diese Berufsgruppe immer stärker in polizei- und ordnungsrechtliche Maßnahmen eingebunden wird. Krankheitsbedingte Gründe müssen aus dem Weg geräumt werden.

Auch auf fachlicher Ebene wurden Kompetenzprobleme im psychiatrischen Tätigkeitsfeld unübersehbar. Die Diagnosen der verschiedenen Fachstellen waren von einer derartigen Vielfältigkeit und Beliebigkeit, dass sie die Frage nach einer wissenschaftlichen Fundierung aufwerfen. Die Rede war von „Spätpubertierende Persönlichkeit“ (Wilmer), „Drogeninduziertes Wahnsyndrom mit Persönlichkeitsstörung“ (Erste Diagnose in Friedberg), oder „Schizophrenie mit latenter Suizidgefahr“ (zweite Diagnose Friedberg). Der zweite Sachverständige sah als typische Folge einer medikamentösen Behandlung eine „post-schizophrene Depression mit Todeserwartung“. Die Diskussion um die Substanz psychiatrischer Diagnosen hat eine lange Geschichte. Es wird Objektivität vorgespielt, wo es häufig um Normen und Regeln geht, die die jeweilige Instanz oder Gruppe als abweichend definiert oder nicht. Es geht deshalb auch um Ordnungs- und Herrschaftsbedürfnisse. Die Frage bleibt deshalb: Wie steht es um die Qualifikation ärztlich-psychiatrischer Sachverständiger, die in diesen Abschiebesystemen operieren?

Einzelne Gerichte spielten darüber hinaus eine unbedingt klärungsbedürftige Rolle, wie sich auch bei der Entscheidung des Hanauer Landgerichts zeigte: es lehnte ein Obergutachten ab, mit dem die widersprüchlichen Stellungnahmen geklärt werden sollten. Will man nichts wissen? Oder will man bewusst eine wichtige Entscheidungsgrundlage offen lassen, im Vertrauen, dass das System funktionieren wird?

Die Bürokratie weiß sich zu helfen, indem sie sich unter tatkräftiger Mithilfe williger Vollstrecker in Gestalt fragwürdiger Gutachter beschafft. Und die Justiz hat uns akribisch aufgezeigt, wie dieses menschenverachtende System funktioniert. Eigentlich bedarf es aufgrund dieses Schaustücks keiner Verurteilung mehr.

Gegen den Freispruch von Herrn Wilmer hat sowohl die Staatsanwaltschaft als auch der Anwalt der Nebenklage Berufung eingelegt.

© links-netz September 2009