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Die Türkei zwischen Populismus, Hegemonie und Neuer Verfassung

Michael Fanizadeh

Spätestens seit den Bombenanschlägen von Ankara, Diyarbakır, Suruç und Istanbul und dem Ende der Friedensverhandlungen mit der kurdischen PKK im Sommer 2015 ist in der Türkei wieder eine verstärkte Polarisierung der Politik und der Gesellschaft feststellbar. Dies verstärkte sich noch nach der Wahl vom 1. November 2015, bei der die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) nach vier Monaten wieder ihre absolute Mehrheit zurückgewann und die Repressalien gegen Journalist_innen und Wissenschaftler_innen sowie gegen die kurdischen und sozialen Bewegungen weiter zunahmen. Insbesondere der Konflikt mit den Kurd_innen eskalierte von neuem: Das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte gegen militante kurdische Jugendliche und die PKK in Städten wie Cizre, Diyarbakır, Lice und Şırnak im Osten der Türkei kostete bisher hunderte Menschenleben, und mit der Aufhebung der Immunität der zumeist kurdischen Abgeordneten der HDP (Demokratische Partei der Völker) im türkischen Parlament im Mai 2016 und der Androhung von Gefängnistrafen gegen diese, scheint der Konflikt endgültig zu eskalieren. Trotzdem ist der Machtanspruch der AKP ungebrochen und wird auch von einer Mehrheit der türkischen Bevölkerung mitgetragen.

Mehrheitsorientierter Populismus

Die AKP regiert seit 2002 ununterbrochen und zumeist mit großer Mehrheit in der Türkei. Bei allen großen Wahlen hat sie mit überwältigender Mehrheit der Stimmen gewonnen: 2002 mit 34%, 2007 mit 47% und 2011 mit 50% der Stimmen. „Auch bei drei lokalen Wahlen (2004, 2009, 2014), zwei Referenden (2007, 2010) und zwei Präsidentschaftswahlen (eine indirekte 2007, eine Volkswahl 2014) ging die AKP als klare Siegerin hervor. Nur bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 hat es die AKP nicht geschafft, trotz 41% der Stimmen als alleinige Regierungspartei an die Macht zu kommen.“ (Taşkın, S. 26f)1

Zunächst wurde die Regierungspolitik der AKP unter Recep Tayyip Erdoğan ab 2002 im Westen und in der Türkei auch durchaus positiv rezipiert und als Demokratisierungsschub wahrgenommen. Insbesondere die Maßnahmen zur Stärkung der Rechte von Minderheiten sowie die Schwächung mächtiger Gruppierungen innerhalb des türkischen Staates − wie dem sogenannten „kemalistischen Establishment“ – wurden anerkannt. Doch bereits das Referendum über die Teiländerung der Verfassung im September 2010 verwiesen in eine andere Richtung. Das Referendum war zwar angefüllt mit einigen Verbesserungen bei Frauen- und Kinderrechten, doch für die Journalistin Ece Temelkuran war das Hauptziel der AKP die Veränderung der Zusammensetzung zweier entscheidender Justizorgane − und zwar des Verfassungsgerichtshofes und des Hohen Rates der Richter_innen und Staatsanwält_innen: „Wie erwartet, veränderte der Sieg der AKP in der Volksabstimmung die Zusammensetzung der höheren Justizorgane zugunsten der Regierung. Die Regierung erhielt dadurch die Fähigkeit, ohne die Begrenzungen eines unabhängigen Justizsystems – samt gegenseitiger Kontrolle – zu agieren. Erdoğan betrat erneut den Siegesbalkon, um zu verkünden: ‚Unsere Nation hat ‚Ja‘ gesagt. Von nun an, gehen wir voran’.“ (Temelkuran, S. 59f)

Und spätestens mit den landesweiten Protesten nach der Besetzung des Gezi-Parks 2013 kam es dann endgültig zu einer Verschiebung der Perspektive. Einerseits wurde die Protestbewegung positiv bewertet und als eine Stärkung der Zivilgesellschaft bzw. als ein Zeichen für die Demokratisierung mit einem Rekurs auf den „arabischen Frühling“ betrachtet. Andererseits führte die repressive Antwort der Regierung auf die Proteste dazu, dass die Politiken der AKP vermehrt aus einer kritischen Perspektive betrachtet wurden. Im Zentrum stand die Frage, ob die AKP den Reformkurs beendet bzw. ob sie in der Türkei eine neue Form der autoritären Staatlichkeit entwickelt hat. Für den Politologen Yüksel Taşkın ist die Beantwortung dieser Frage eindeutig. Er spricht beim türkischen Modell vom Konzept eines mehrheitsorientierten Populismus der AKP-Regierung, welches sich zusehends herausgebildet hat und jetzt durch ein Präsidialsystem mit Erdoğan an der Spitze noch verfestigt werden soll: „Erdoğan nimmt bezogen auf die kulturellen Trennungen immer die Haltung der Mehrheit ein: Er befindet sich auf Seiten der sunnitisch-hanafitischen Mehrheit gegen die Alevit_innen, auf der Seite der gläubigen Muslim_innen gegen die Säkularist_innen, der türkischen Mehrheit gegen die Kurd_innen, auf Seiten der konservativen Werte gegen die liberalen und progressiven Werte. Zu guter Letzt stellt er sich auf die Seite der Männer gegen die Frauen. Die wachsende Polarisierung entlang dieser Linien birgt das Risiko in sich, dass eine neue ethnische und religiöse Hierarchie entsteht, bei der ein hanafitischer Sunnit und ein reicher türkischer Mann die oberen Ränge und ein Alevit und eine arme kurdische Frau die unteren Ränge einnehmen.“ (Taşkın, S. 33)

Hegemonie und Verfassung

Dabei waren neben dem konservativ-sunnitischen Milieu und dem sogenannten „anatolischen Kapital“ maßgeblich auch die Minderheiten und die Frauen daran beteiligt, den Aufstieg der AKP zu ermöglichen. Gerade die (Wahl)Unterstützung der konservativen Kurd_innen in den Städten im Westen der Türkei war für die AKP von besonderer, nicht nur symbolischer Bedeutung; mit Ausnahme der Wahl vom Juni 2015 konnten sich die AKP und Erdoğan der Unterstützung dieser Gruppe auch immer sicher sein. Um das zu verstehen, lohnt sich ein Rückblick auf die gesellschaftliche Realität, die die AKP in Bezug auf die ethnischen und religiösen Minderheiten vorfand, bevor sie 2002 die Macht übernahm. Der ehemalige Chefredakteur der türkisch-armenischen Zeitung AGOS Rober Koptaş beschreibt das Erbe der türkischen Republik ab 1915 folgendermaßen: „Seit seiner Gründung versuchte der türkische Staat das folgende Gesellschaftsprofil zu vermitteln: von der Ethnie her türkisch, von der Religion her muslimisch, aber natürlich streng säkular, türkisch sprechend, und männlich.“ (Koptaş, S. 123f) Die AKP versprach hier Modernisierung und Wandel und sie war auch durchaus zu Zugeständnissen gegenüber den Kurd_innen bereit. Allerdings ohne jemals den Anspruch auf eine homogene Türkei aufzugeben: „Es sah danach aus, dass die AKP die kurdische Frage allein durch die Anerkennung individueller Rechte lösen wollte,“ meint der HDP Abgeordnete Mithat Sancar: „Die AKP-Politik wollte aber nicht die kollektiven Rechte der Kurd_innen anerkennen, oder den Provinzen und lokalen Vertretungen politische Kompetenzen zuschreiben, die in Richtung Autonomie gehen könnten.“ (Sancar, S. 44) Für das konservative, städtische Milieu der mittelständigen Kurd_innen im Westen der Türkei waren diese Zugeständnisse der AKP Grund genug, die AKP zumindest zeitweise zu wählen und auf bessere Zeiten zu hoffen.

Und die Frauen? Wie lässt sich ihre Unterstützung für die AKP erklären, wo sich doch diese dezidiert gegen die Gleichstellung von Mann und Frau ausspricht? Einerseits war der Kampf gegen das Kopftuchverbot an türkischen Universitäten und im öffentlichen Dienst für die türkische Frauenbewegung in den 1980er und 1990er Jahren identitätsstiftend, und die AKP verstand es blendend, diese Bewegung in ihrem Sinne zu instrumentalisieren. Die ehemalige HDP Abgeordnete Sebahat Tuncel erinnert sich: „Ich war selber zwei Legislaturperioden lang im Parlament und war an der Kommission für Chancengleichheit beteiligt, und wir haben gemeinsam mit anderen Frauenbewegungen für die Aufhebung des Kopftuchverbotes gearbeitet. Nach außen vermittelt die AKP ja das Bild, als hätte sie allein das Verbot aufgehoben. Ich kann mich aber an unseren Aufruf erinnern, als wir Frauen ohne Kopftuch für die Aufhebung des Kopftuchverbotes, für die Freiheit für Frauen mit Kopftuch eintraten. In kurzer Zeit konnten wir 10.000 Unterschriften sammeln.“ (Tuncel, S. 86) Die muslimische Feministin Feyza Akinerdem spricht sogar davon, dass damals durchaus eine starke Frauenbewegung hätte entstehen können: „Stattdessen wurde diese Energie zu einem Stützpunkt für die AKP und dieser Aufbruch wurde der konservativen Partei gutgeschrieben.“ (Akinerdem, S. 93) Andererseits hat die AKP auch reale Neuerungen durchgesetzt, die von vielen Frauen positiv aufgenommen wurden, wie Akinerdem zu berichten weiß. Insbesondere, dass die unsichtbare häusliche Arbeit (der Frau) sichtbar gemacht wurde, wurde anerkannt: „Das konnte dadurch erreicht werden, dass die unterschiedlichen Formen der Arbeit, die von Frauen geleistet werden, definiert und entgeltlich gemacht wurden. Zum Beispiel: Für die Verpflegung von älteren Personen wurde eine Bezahlung eingeführt. Oder auch wenn eine Frau ein Kind gebiert, bekommt sie eine bestimmte Summe Geld. Es handelt sich dabei um kleine Beträge, aber diese Aufgaben werden nichtdestotrotz als bezahlte Arbeit neu definiert. Das ist eine wichtige Änderung, und diese gilt auch für die Betreuung von behinderten Personen, dies sogar beim jährlichen Urlaub in den Sommer-Camps.“ (Ebd., S. 96) Allerdings wird diese „Familisierung“ der Frauenarbeit in der Türkei auch kritisiert. Feministinnen wir die Kurdin Sebahat Tuncel hinterfragen die Verknüpfung von (bezahlter) Hausarbeit und Fraueneinkommen, die für sie letztendlich nur dazu führen, das Geschlechterbild der AKP zu verfestigen: „Deshalb wurde das Ministerium für Frauen und Familie in das Ministerium für Familien- und Sozialpolitik umbenannt, denn Frauen sollten sich nur für Sozialpolitik, wie die Betreuung von Kindern und älteren Personen sowie die Hausarbeit, engagieren. Dazu kommt, dass Frauen am Arbeitsmarkt oft sehr „flexiblen“ Arbeitsverhältnissen unterworfen sind, welche die Arbeit der Frauen im neoliberalen Sinne noch mehr ausbeutet: Neben der Hausarbeit und der Mutterschaft kann die Frau von zu Hause aus arbeiten und so einen Beitrag für das Familienbudget erwirtschaften.“ (Tuncel, S. 87)

Während also die Unterstützung der Kurd_innen und Frauen durchaus überraschend erscheint, ist die Unterstützung der konservativ-muslimischen, sunnitischen Bevölkerungsteile der Türkei für die AKP und Erdoğan weniger verwunderlich. Dafür können zwei Punkte angeführt werden. Erstens wird der AKP und Erdoğan positiv angerechnet, dass sie die ökonomische Basis vieler Menschen in der Türkei verbessert hätten. Mehr Menschen und nicht mehr nur die alten „kemalistischen Eliten“ hätten heute Chancen auf wirtschaftlichen Aufstieg und Erfolg, wobei diese vermeintliche Erfolgsgeschichte durchaus kritisch zu hinterfragen ist. Ökonomen wie Mustafa Sönmez weisen darauf hin, dass es keinen wirklichen Beleg für den ökonomischen Erfolg der benachteiligter Klassen in der Türkei gibt, im Gegenteil: „Das türkische Statistikinstitut gibt die Anzahl der lohn- und gehaltsabhängigen Beschäftigten mit 16,3 Millionen an. Das entspricht zwei Dritteln der gesamten Beschäftigten. Zwei bis drei Millionen davon arbeiten unangemeldet, also ohne Versicherung. Die größte Gruppe, die der Arbeiter_innen in der Privatwirtschaft, profitierte während der Regierungszeit der AKP nicht vom Wachstum.“ (Sönmez, S. 181)

Zweitens und von zentraler Bedeutung ist die bereits angesprochene homogene Verfasstheit der türkischen Republik, die sich in den Grundprinzipien der Verfassungen von 1924, 1960 und 1982 wiederspiegelt, wie der Verfassungsjurist Mithat Sancar erklärt: „Es gab also insgesamt drei Verfassungen, die alle von diesen konstant bleibenden Grundsätzen geprägt wurden: Die unteilbare Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk (...) als Formel zur Schaffung einer homogenen Gesellschaft, sowie der Laizismus, der dazu dient, den sunnitischen Islam unter der Kontrolle des Staates zu definieren und zu kontrollieren. Alle drei Verfassungen, vor allem aber die von 1982, hatten auch noch ein anderes bestimmendes Konstrukt: Als dritte Säule wurde die Vormundschaft des Militärs (...) festgeschrieben.“ (Sancar, S. 37f) Auch viele muslimisch-konservativen Gruppen und Personen konnten sich nicht in dieser Verfassung, ihren Institutionen und Repräsentanten wiederfinden. Für sie gab es keine legitime Vertretung, und das versprach die AKP (und ihre islamistischen Vorgängerparteien) zu verändern. Auch vor diesem Hintergrund lässt sich die momentane Verfassungsdebatte in der Türkei lesen. Natürlich will Erdoğan die Türkei in ein Präsidialsystem mit ihm an der Spitze umbauen, aber es geht auch um ein Projekt, welches die AKP 2007 gestartet und „neue zivile Verfassung“ genannt hat. Es geht um die Erschaffung einer neuen Erzählung, und wieder ist die Gefahr groß, dass die vielen Minderheiten in der Türkei von dieser Erzählung ausgeschlossen bleiben.

Krieg und Frieden

Auch ein Blick in das syrische Nachbarland scheint wenig Anlass für Optimismus zu geben. Spätestens die Anschläge islamistischer Attentäter_innen in der Türkei machten deutlich, dass auch die militärischen Auswirkungen des syrischen Bürgerkriegs bereits in der Türkei angekommen sind. Doch statt mit den Kurd_innen (in Syrien und dem Irak) zu kooperieren, geht der Krieg gegen die Kurd_innen mit voller Härte weiter. Allerdings findet der Konflikt auch vor dem Hintergrund der Transformation der kurdischen Politik statt, den der Politologe Bülent Küçük beschreibt: „Zum einen ist da die radikale Jugend, also die Nachkommen derer, die sich in den 1990er Jahren durch Zwangsmigration in den armen Bezirken der Großstädte niedergelassen haben. (...) Zum anderen beobachten wir, dass sich der zivile und legale Arm der kurdischen Bewegung transformiert und ausbreitet.“ (Küçük, S. 141f) Verkörpert wird diese neue demokratische Politik durch die HDP. Doch die fortschreitenden Kämpfe im Osten der Türkei entziehen der HDP zunehmend die Legitimation: „Der Krieg zwingt die kurdischen Politik_innen und Aktivist_innen von einem Massaker zum anderen zu eilen und hält sie in einem melancholischen Zustand der Trauer fest.“ (Ebd., S. 150) Durch die Repression gegen die Abgeordneten der HDP wird sich dieser Zustand noch verfestigen und die zivile Politik der kurdischen Bewegung in der kommenden Zeit schwächen. Trotzdem wird gerade auch die zivile kurdische Bewegung zusammen mit anderen demokratischen Akteur_innen gefordert sein, Wege für einen nachhaltigen Frieden in der Türkei zu finden.

Anmerkungen

  1. Alle Zitate entstammen dem Sammelband Türkei. Kontinuitäten, Veränderungen, Tabus; herausgegeben von Ilker Atac, Michael Fanizadeh und VIDC, Mandelbaum-Verlag, Wien 2016. Mehr Informationen zum Buch und das Inhaltsverzeichnis: http://www.vidc.org/themen/sicherheit/tuerkei-kontinuitaeten-veraenderungen-tabus/ Das Buch vermittelt in seinen 16 Beiträgen den politisch-wissenschaftlichen Diskurs, den das Wiener Institut für Internationalen Dialog und Zusammenarbeit (VIDC) im Rahmen seiner Vortragsreihe zur Türkei in den letzten Jahren initiiert hat. Zurück zur Textstelle
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