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Chinesischer Kapitalismus als „natürliche“ Marktwirtschaft?

Zu Giovanni Arrighis Buch „Adam Smith in Beijing. Die Genealogie des 21. Jahrhunderts“, erschienen im VSA-Verlag, Hamburg 2008

Florian Flörsheimer

Obwohl Arrighi zu Beginn behauptet, die übergreifende These seines Buches sei „dass das Scheitern des Projekts für ein Neues Amerikanisches Jahrhundert und der Erfolg der chinesischen Wirtschaftsentwicklung zusammengenommen die Verwirklichung von Smiths Vision einer Weltmarktgesellschaft auf der Grundlage größerer Gleichheit unter den Zivilisationen der Welt wahrscheinlicher gemacht haben (...).“ (21), ist sein eigentliches Hauptanliegen, nachzuweisen, dass die gegenwärtige politisch-ökonomische Entwicklung Chinas eine nichtkapitalistische, aber kontrollierte marktwirtschaftliche sei, die man nicht mit westlichen Augen beurteilen dürfe, da es sich um einen anderen als den bekannten westlichen Pfad der Industrialisierung handele.

In China vollziehe sich zwar eine ökonomische Revolution, die vergleichbar sei mit der industriellen Revolution in England im 18. Jahrhundert, nur, dass sie dem Adam Smithschen Muster ökonomischer Entwicklung – d.h. eines sich selbst erhaltenden Wachstums – viel eher entspreche als die Entwicklung damals in England. Grundlage des gegenwärtigen chinesischen Wirtschaftsaufschwungs sei die >Tradition< einer binnenorientierten, auf einer so genannten arbeitsintensiven „ostasiatischen Fleißrevolution“ basierenden „Marktwirtschaft“ (49f.) und die Tatsache, dass in China das Verhältnis von Arbeitskräften zu landwirtschaftlicher Nutzfläche ein viel höheres Bruttoinlandsprodukt ermögliche. Diese „Fleißrevolution“ sei daher die „Präambel“ zu „marktorientierter Entwicklung“, „der keine Tendenz anhaftete, den kapital- und energieintensiven Pfad zu beschreiten, der von Großbritannien eröffnet und von den USA an sein Endziel geführt wurde“ (50) Dieser Entwicklungspfad unterscheide sich im wesentlichen auch darin von dem westeuropäischen, dass er „menschliche statt nicht-menschliche Ressourcen mobilisiert[e] hätte.“ (51) So sei Chinas Aufstieg Ergebnis eines „Beijing Consens“ oder auch „Marktleninismus“ (28), der sich durch einen gradualistischen und besonnenen Übergang in neue wirtschaftliche und politische Strukturen auszeichne, der u.a. lokale Kontexte und kulturelle Besonderheiten respektiere. Zwar seien „kapitalistischen Tendenzen“ auch in China „eingedrungen“, doch müsse man deren Wesen genau erfassen. Nicht nur würden die Widersprüche zwischen der kapitalistischen Realität und dem offiziellen Diskurs in China über einen „Sozialismus mit chinesischen Eigenschaften“ (31) in der politischen Führung konsequent diskutiert und Lösungen erarbeitet. Sondern auch die Feststellung, dass sich in China eine „elitäre Marktwirtschaft“ herausgebildet habe, sei eine irrtümliche Annahme, die von falschen Vorstellungen über das Verhältnis zwischen Marktwirtschaft, Kapitalismus und wirtschaftlicher Entwicklung ausgehe.

Die Interpretation der chinesischen Entwicklung als Ausdruck der „Verschiebung des Epizentrums der globalen politischen Ökonomie“ nimmt Arrighi gleichzeitig zum Anlass, Adam Smiths Werk „Der Wohlstand der Nationen“ neu zu interpretieren. Smith ist für ihn kein Theoretiker, geschweige denn Fürsprecher der kapitalistischen Entwicklung. Stattdessen attestiert er ihm, dass „seine Theorie der Märkte als Herrschaftsinstrumente besonders für ein Verständnis nichtkapitalistischer Marktwirtschaften relevant ist, wie China es vor seiner unterordnenden Eingliederung in das globalisierende europäische Staatensystem war und im 21. Jahrhundert durchaus wieder werden könnte, unter völlig anderen innenpolitischen und welthistorischen Bedingungen.“(22)

Des Weiteren wird mit einer als „Neo-Smithscher Marxismus“ (32) titulierten Marx- Interpretation – unter Rückgriff auf Versuche in den 1970ern in den USA, „Marx“ durch eine empirische Überprüfung zu verifizieren („Marx in Detroit“) – festgestellt, dass Marx’ Erkenntnisse über die globale Entwicklung des Kapitalismus empirisch nicht haltbar bzw. nicht eingetroffen seien. (35) Stattdessen soll es im 19. und 20. Jh. zu einer „gewaltigen Divergenz“ (36) gekommen sein, d.h. einem Auseinanderdriften der Entwicklungen in Ost und West. Unter Rückgriff auf Andre Gunder Frank und Robert Brenner (37/38) behauptet Arrighi, dass die im Kommunistischen Manifest vorhergesehene kapitalistische Entwicklung so nicht eingetreten sei: „Brenner führte zwei Bedingungen als vorrangig [für eine kapitalistische Entwicklung – ff] an. Erstens müssen die Organisatoren der Produktion die Fähigkeit, sich und ihre etablierte Klassenposition außerhalb der Marktwirtschaft zu reproduzieren, verloren haben. Zweitens müssen die direkten Produzenten die Kontrolle über die Produktionsmittel verloren haben.“ „Diese beiden Bedingungen, so Brenner, werden nicht automatisch durch die weltweite Ausbreitung von Markttausch im Streben nach Profit geschaffen. Statt dessen werden sie durch die jeweilige Sozialgeschichte der Länder hervorgebracht, die in den Machtbereich des Weltmarkts geraten. Der Hauptgrund dafür, dass die Vorhersage der allgemeinen kapitalistischen Entwicklung des Manifests nicht eintrat, ist also, dass die Geschichte des Klassenkampfs nur in manchen Ländern die beiden notwendigen Bedingungen für die kapitalistische Entwicklung entstehen ließ.“ (38)

Um seine These, dass es sich in China um keine kapitalistische Entwicklung handelt, am konkreten Beispiel zu erläutern, diskutiert Arrighi die wirtschaftliche Öffnungspolitik seit den späten Siebziger Jahren. Seine wesentlichen Thesen sind dabei: a) die Anziehungskraft Chinas für das ausländische Kapital bestünde nicht in der riesigen Zahl billiger Arbeitskräfte, sondern in dem Grad ihrer Qualifikation (435), b) ein politisches und ökonomisches Bündnis zwischen der KPCh und den kapitalistischen „Überseechinesen“ sei entstanden, das den Zugang für anderes ausländisches Kapital erschwert hätte (jenes also in seiner Handlungsfreiheit auf dem chinesischen Markt beschränkt worden sei), c) das ausländische Investitionskapital habe nicht den chinesischen Wirtschaftsaufschwung hervorgerufen, sondern sei nur nachgezogen, d) anders als bei der ökonomischen Doktrin des westlichen Neoliberalismus habe China eine allmähliche und begrenzte Deregulierung und Privatisierung seiner Wirtschaft durchgeführt und der Staat die Kontrolle über den Öffnungsprozess behalten. In diesem Zusammenhang müsse auch berücksichtigt werden, dass die Folgen des verschärften Wettbewerbs, die Zerrüttung der Arbeitsplatz- und der sozialen Sicherheit der Wanderarbeiter, nicht zu vergleichen seien mit den Folgen neoliberaler Politik (446), da die chinesische Regierung dem Wirtschaftaufschwung nicht das Wohl der Arbeiter opfere, sondern Sozialleistungen auch in den kapitalistischen Sektoren einführe, e) die Entwicklung in China habe auch deshalb keinen kapitalistischen Charakter, weil eine „Akkumulation ohne Enteignung“ (447f.) stattfinde, da das gesamte chinesische Land Staatsland sei und sich in Großen Teilen unter lokalem Nutzungsrecht befinde, und f) schließlich bestünde in China weiterhin die revolutionäre sozialistische Tradition, die es der politischen Führung verunmögliche, Reformen ohne Dialog mit der Bevölkerung durchzusetzen. Diese Tradition habe ihre Wurzeln in einer Mischung aus leninistischem Avantgarde-Prinzip und maoistischer Orientierung an der Bauernschaft, der größten Bevölkerungsgruppe in China. In diesem Kontext wertet Arrighi die Kulturrevolution sowohl als Katharsis der Tradition (456) wie auch als Initialzündung für den neuen wirtschaftspolitischen Kurs, die Deng Xiaopings Reformen ermöglicht habe. Diese Tradition, die einen Großteil der Legitimität der Parteiherrschaft ausmache, sei allerdings mit einer zunehmenden Ungleichheit in Widerspruch geraten, was eine wachsende Anzahl sozialer Kämpfe (465f.) zur Folge habe. Dennoch sei es gerade diese Tradition, so hofft Arrighi, die die Parteiführung dazu bringen werde, die weitere Entwicklung in eine egalitärere Richtung zu lenken.

Arrighis Einschätzung stehen, gemessen an Ansprüchen historisch-materialistischer Analyse, auf schwacher Grundlage. Die Relevanz (oder Irrelevanz) der Kritik der politischen Ökonomie („das Kapital“) wird auf ihre unmittelbare Brauchbarkeit als Handlungsanleitung reduziert (32/33), die Analyse des kapitalistischen Produktionsprozesses auf „den Arbeitsprozess als umkämpftes Terrain der Vorrechte von Managern und des Widerstands gegen die Ausbeutung von Arbeitern“ (34). Die Nähe zu Positionen des italienischen Operaismo und dessen Ökonomismus ist unübersehbar.

„Das Problem war, das das Kapital tatsächlich entscheidende Einsichten in den Klassenkonflikt lieferte; doch Marx Annahmen zur Entwicklung des Kapitalismus auf globaler Ebene hielten einer empirischen Überprüfung nicht stand.“ (35) Dieser Behauptung wird ein Zitat aus dem Kommunistischen Manifest gegenüber gestellt: „ Die Bourgeoisie (...) zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen (...)“. Dazu kommt eine vorangestellte Mixtur einzelner nicht ausgewiesener Zitat-Sätze mit eigenen Behauptungen (Beispiel: „Daraus resultiert dass >an die Stelle der alten und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit [..] ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander [tritt]< – eine universelle Abhängigkeit, die allgemeine kapitalistische Entwicklung [kursiv hier: F.F.] mit sich bringt“) (35). Dass es gleich im nächsten Abschnitt des Kommunistischen Manifests heißt: „Wie sie das Land von der Stadt, hat sie die barbarischen Ländern von den zivilisierten, die Bauernvölker von den Bourgeoisievölkern, den Orient vom Okzident abhängig gemacht“, übergeht Arrighi.

Mit der abschließenden Feststellung, „Sicher ist, dass die zunehmende wechselseitige Abhängigkeit der westlichen und nicht-westlichen Welt im Laufe der letzten Jahrhunderte nicht mit der im Kommunistischen Manifest angenommenen Annäherung einherging (...)“ (36), wird das Kapitel Marx nach 4 Seiten (von 518) geschlossen. An dessen Stelle tritt ein „Dritter Weg“ namens „Neo-Smithscher Marxismus“, dessen praktischer Beleg dann China sei, dem historischen und aktuellen Musterbeispiel des Smithschen „Wohlstand der Nationen“.

Arrighi will mit der von ihm als Mythos (438) bezeichneten These innerhalb der Linken aufräumen, es handele sich beim ökonomischen Wandel in China um eine Variante des neoliberalen Kapitalismus. Dass dem nicht so sei, macht er vor allem daran fest, dass der Neoliberalismus staatliche Einmischungen ablehne und dem Staat insgesamt eine untergeordnete Rolle zuweisen würde, während der Staat in der Entwicklung Chinas eine entscheidende Rolle einnehme, aber auch daran, dass die Liberalisierungsmaßnahmen in China nicht so brutal verlaufen würden wie anderen Ländern (441). Dies wiederum sei Beleg dafür, dass die chinesische Entwicklung eine zwischen Kapitalismus und Sozialismus (444f.) sei, die eine „enge Übereinstimmung mit Smiths Konzeption marktorientierter Entwicklung“ (455) aufweise. Er vergisst dabei, dass der Staat auch in der neoliberalen Theorie und Praxis eine entscheidende Rolle spielt. Der Politologe Thomas Sablowski schrieb unlängst über die Situation in China: „Diese Angriffe [gemeint sind die Angriffe auf Arbeiter durch von Unternehmern bezahlte private Schläger, F.F.] sind keine isolierten Ereignisse. Es scheint, dass sich die Widersprüche in den chinesischen Arbeitsbeziehungen zuspitzen. Unternehmen verstoßen häufig gegen das Arbeitsrecht, indem sie den Arbeitern überlange Arbeitszeiten aufzwingen, die Bezahlung von Überstunden verweigern oder den Lohn nicht auszahlen (...)“. Und zu Rolle der KPCh bemerkt er: „Die Interessen der KPCh und der Agenten der Staatsapparate sind auf vielfältige Weise mit den Interessen des nationalen und internationalen Kapitals verbunden. Zum einen sind die chinesischen Kapitalisten durch den Privatisierungsprozess im Wesentlichen aus der KPCh, den Staatsapparaten und den Leitungen der ehemals staatlichen Unternehmen hervorgegangen (...). Zum anderen sind die Kommunen und Provinzen von der Ansiedlung von Unternehmen auf ihrem Territorium abhängig. Sozial oder ökologisch orientierte Vorgaben der nationalen Regierungen sind daher nicht in ihrem Interesse, wenn sie im Widerspruch zum Wirtschaftswachstum stehen.“ (in: www.links-netz.de: Gewalt sichert Hyperausbeutung, Dezember 2007).

Der chinesische Historiker Wang Hui, ein Vertreter der intellektuellen Strömung der „Neuen Linken“ in China, den Arrighi heranzieht, um die These von der Wirkung und Fortexistenz der „sozialistischen Tradition“ nach der Kulturrevolution (455), aber auch die zunehmende soziale Ungleichheit durch China Wechsel zur Marktwirtschaft zu belegen (465), stellt an gleicher Stelle (Wang Hui 2003) fest, dass sich der Neoliberalismus zu dominanten Ideologie chinesischer Intellektueller entwickelt hat.

Arrighi hat ein verengtes Verständnis von „Neoliberalismus“, da er darunter ausschließlich eine bestimmte ökonomische Schule in den USA bzw. die wirtschaftspolitische Praxis eines hegemonialen Staates versteht, nicht jedoch die Bezeichnung für eine bestimmte Entwicklungsweise des Kapitalismus. Diese neoliberale Entwicklungsweise zeichnet auf politischer Ebene die Tendenz zur autoritär-etatistischen Regulation aus. Daher könnte der moderne autoritäre chinesische Staat sich als funktionale Variante kapitalistischer Verhältnisse entpuppen – mit Beispielcharakter auch für andere Regionen.

Diese Rezension erschien bereits in der Zeitschrift Z. Marxistische Erneuerung, Nr. 78, Juni 2009

© links-netz August 2009