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Neoliberalismus und Protest Übersicht

 

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Herrschaftsinstrumente Mediation, Moderation, Schlichtung

Michael Flörsheimer

Der Ablauf und Ausgang des sogenannten Schlichtungsverfahrens zum Bahnhofsprojekt „Stuttgart 21“ war absehbar und brachte nichts Neues. Das wesentlich aufwändigere und langandauernde sogenannte Mediationsverfahren im Vorfeld des jüngsten Ausbaus des Frankfurter Flughafens demonstrierte bereits anschaulich die Resultate des jetzt wieder von der Seite der Herrschenden, einschließlich der Grünen, herbei- und nachgelobten „Bürgerdialogs“. In Frankfurt ist die neue Landebahn gebaut, selbst vom dürftigen Mediationsergebnis Nachtflugverbot ist praktisch keine Rede mehr.

Für die Grünen und Die Linke ist das Ergebnis der Stuttgarter Gespräche kein wirkliches Problem, eher im Gegenteil. Den Grünen ist bewusst, dass sie in einer möglichen Koalition in Baden-Württemberg die größten Schwierigkeiten hätten, ihre Ablehnung des Tiefbahnhofs praktisch umzusetzen. Geißlers Forderungen an Bahn und Landesregierung ließen sich von einer künftigen rot-grünen Landesregierung bestens aufgreifen, als Absichtserklärung über eine ganze Legislaturperiode retten und als kleinere kosmetische Änderungen durchaus umsetzen.

Die Partei Die Linke hat ähnliche Probleme. In Berlin, wo sie an der Regierung beteiligt ist, bei den aktuellen Auseinandersetzungen um Wasserprivatisierung, Stadtautobahn und Flughafen Schönefeld; in Hessen, wo sie seinerzeit – zumindest mittelbar – an der Regierung beteiligt sein wollte, beim Flughafenausbau. Die ambivalente Haltung zu „zivilgesellschaftlichem“ Widerstand ist überall ähnlich. Die faktische Orientierung auf mögliche Handlungsspielräume in zukünftigen Regierungen gerät dabei allerdings regelmäßig in Widerspruch zu den erhofften Bedingungen fürs „Gestalten“. Der jeweilige linke Flügel der entsprechenden WählerInnen von „Grün“ und „Links“ honoriert das nämlich durchaus auch mit Wahlabstinenz oder der Präferenz für andere Parteien. Insofern bremst die „Flucht in den Dialog“ auch aus diesem Grund den (konjunkturellen) Auftrieb, den Parteien haben, die sich mit gesellschaftskritischen sozialen Bewegungen zu verbinden suchen und dort auch zeitweilig Respekt oder sogar Autorität gewinnen.

Einer der größten Erfolge, den soziale Bewegungen in der Bundesrepublik erzielen konnten, ist das Moratorium für den Bau neuer AKWs zu Beginn der 1980er Jahre. Es gilt noch heute. Seit dieser Zeit wurde kein neues AKW mehr genehmigt. Dies alles geschah ohne jegliche Verhandlungen, ohne formelle politische Beschlüsse. Der Erfolg war Ausdruck eines gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses in der relativ offenen und instabilen Umbruchphase von fordistischer zu neoliberaler Entwicklungsweise des Kapitalismus. Der sogenannte Atomausstieg der rot-grünen Regierung fast 20 Jahre später hielt dagegen bereits viele Hintertüren für einen „Ausstieg aus dem Ausstieg“ offen.

Die theoretische Unterfütterung der inzwischen alle gesellschaftlichen Bereiche und Ebenen durchziehenden „Moderationskultur“ wurde recht früh u.a. mit dem Theorem der „deliberativen Demokratie“ gelegt, dem Komplementär zur Entwertung der parlamentarischen Institutionen und der tendenziellen Verselbstständigung der Exekutive in den letzten zwanzig Jahren. Derzeit bleibt kaum ein gesellschaftlicher Bereich von Moderation, Mediation, Schlichtung oder einer wie auch immer genannten Form der Konfliktbearbeitung ausgespart. Ob „Mobbing“ im Betrieb oder Linienkämpfe in Parteien, alles wird moderiert. Dabei ist zu beobachten, dass die Initiative immer „von oben“ ausgeht. Menschen wehren sich gegen Zumutungen und werden (wo ein unmittelbares Abhängigkeitsverhältnis besteht) zu Moderationsgesprächen und
-veranstaltungen gezwungen, zumindest aber genötigt.

Während im korporatistischen Fordismus Großorganisationen, etwa Gewerkschaften und Staat, unmittelbar und auf beiden Seiten mit materieller Gewalt im Rücken (eher mit- als gegeneinander) verhandelten, ist die in der Regel asymmetrische, individualisierte Art der Konfliktbearbeitung in der „Zivilgesellschaft“ für den neoliberalen Kapitalismus ebenso typisch wie die analoge Form militärischer Auseinandersetzungen. Wer sich dem „Schlichtungskonsens“ entzieht, muss mit äußerst rabiaten Reaktionen rechnen.

Verhandlungen über Dinge zu führen, die sich gegenseitig ausschließen, ist sinnlos – es sei denn eine Seite gibt ihre Position auf, will etwas anderes , schiebt die Position in der Sache nur vor. Verhandlungen bei denen das Kräfteverhältnis in der Balance ist, und sei es nur lokal und/oder temporär, können sinnvoll sein, wenn auf jeder Seite der Verhandelnden ein Moment „materieller Gewalt“ vorhanden ist. In Stuttgart war dies nicht der Fall, der Eintritt in die Verhandlungen selbst untergrub sowohl die Basis für die Forderung nach demokratischer Kontrolle und Entscheidung wie auch den „Druck der Strasse“.

© links-netz Dezember 2010