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Brothers in Arms: Zur politischen Strategie der britischen Koalitionsregierung*

Alexander Gallas

Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass in den Vorstandsetagen britischer Konzerne derzeit gute Laune herrscht. Laut einer Studie von Incomes Data Services, einem privaten Forschungsinstitut, sind die Einkommen von Vorstandsmitgliedern der im britischen Aktienindex FTSE-100 enthaltenen Unternehmen im letzten Jahr um 55% gestiegen. Die Boni der GeneraldirektorInnen stiegen um 34% auf durchschnittlich £701,512 (IDS 2010: 1). Gleichzeitig meldet die Royal Bank of Scotland (RBS), dass der Bonustopf des Unternehmens für die ersten neun Monate des Jahres £2,1 Milliarden beträgt, also unwesentlich weniger als im letzten Jahr – trotz drastischer Einnahmeeinbußen von £2,7 Milliarden (Treanor 2010c).

Diese Zahlen sind nicht nur beachtlich, weil Großbritannien gerade den längsten Abschwung seit Beginn der Aufzeichnung von Konjunkturdaten erlebt hat und sich in Folge der Wirtschaftskrise nach wie vor in etwa die Hälfte des britischen Bankensektors in Staatshand befindet, darunter auch die RBS. Sie sind auch bemerkenswert, weil die Regierung gerade die Gefahr eines Staatsbankrotts herauf beschwört und dabei ist, umfassende Kürzungen staatlicher Transferleistungen für unterprivilegierte Bevölkerungsgruppen vorzunehmen. Nach den jüngsten Haushaltsplanungen sind beispielsweise BezieherInnen von Wohngeld von erheblichen Einschränkungen betroffen1, und die Mobilitätszulage für Behinderte in Pflegeeinrichtungen und die Unterstützung für arme Schüler ab 16 fällt weg. Hinzu kommt die Heraufsetzung des Mehrwertsteuersatzes von 17,5 auf 20%, die Anhebung des Rentenalters von 65 auf 66 Jahre und die Absenkung der Staatsausgaben für Lehre an Universitäten um 40%, die durch die Erhöhung der Obergrenze für Studiengebühren von ca. £3.300 auf £9.000 im Jahr wett gemacht werden soll.

Insgesamt sehen die Haushaltsplanungen die umfangreichsten Kürzungen der Staatsausgaben seit der Zwischenkriegszeit vor. Entsprechend sollen die Ausgaben der einzelnen Regierungsressorts bis 2014/15 im Schnitt um 12,7% fallen. Diese Zahl fällt allerdings gegenüber dem Umfang der Einschränkungen in vielen Einzelressorts noch relativ moderat aus, weil für die beiden größten Posten, ,Gesundheit‘ und ,Bildung‘, eine leichte Anhebung2 bzw. eine vergleichsweise geringfügige Senkung3 veranschlagt ist (Pimlott 2010). Angesichts dieser umfassenden Sparpläne geht die Regierung selbst davon aus, dass etwa 490.000 Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor wegfallen werden. Eine unabhängige Schätzung, die den Privatsektor mit einkalkuliert, beläuft sich auf insgesamt 1,6 Millionen Jobs brutto (CIPD 2010).

Angesichts der zu erwartenden sozialen Auswirkungen des fraglichen Maßnahmenbündels und der Einkommenszuwächse im Topmanagement sind Aussagen von Regierungsseite wie „we are all in this together“ (Schatzkanzler George Osborne, 2010a) und „this is the fairest possible way“ (Vizepremier Nick Clegg, zit. n. BBC News 2010) der blanke Hohn. Es stellt sich die Frage nach den sich hinter solchen Beschwichtigungen verbergenden politisch-strategischen Zielsetzungen.

Koalition der Privilegierten

Die Unterhauswahlen im Mai 2010 haben ein Ergebnis geliefert, das kaum uneindeutiger hätte ausfallen können: Die Konservativen wurden zum ersten Mal seit 1992 wieder stärkste Kraft, verfehlten aber die absolute Mehrheit, was auf Grund des Mehrheitswahlrechts eine Seltenheit darstellt. Die Stimmenzuwächse der Liberaldemokraten fielen äußerst bescheiden aus und sorgten sogar für einen Verlust an Mandaten – trotz des vorübergehenden Hypes um Parteichef Nick Clegg, der die erste Runde des erstmals ausgetragenen TV-Duells der Spitzenkandidaten nach Auffassung der Zuschauer klar für sich entschied. Labour schließlich schnitt so schlecht ab wie seit 1983 nicht mehr. Kurzum: Die Wahl hatte drei Verlierer und keinen Gewinner, und die Regierungsbildung wurde auf Grund der unklaren Mehrheitsverhältnisse zu einer für britische Verhältnisse komplizierten Angelegenheit.

Das durchaus überraschende Ergebnis war die Bildung einer Koalition zwischen Konservativen und Liberalen – überraschend nicht nur deswegen, weil überhaupt koaliert wurde, sondern auch, weil es sich bei den Liberaldemokraten bis dato um eine Partei mit linksliberaler Programmatik4 handelte, die Labour näher zu sein schien als den Konservativen.5 Allerdings hatte sich Tory-Parteichef David Cameron bereits seit Amtsantritt im Jahr 2005 darum bemüht, der ,nasty party‘ Margaret Thatchers ein weltoffeneres, sozialeres und ökologischeres Image zu verpassen.6 Vor diesem Hintergrund kam ihm die neue politische Formation sicherlich nicht ungelegen: Auch sie trug erst einmal zur Veränderung der Wahrnehmung der Partei in der Öffentlichkeit bei und lieferte ihrem rechtsradikalen Flügel machtstrategische Anreize für ein zurückhaltendes Auftreten.

Die Rhetorik des Koalitionsvertrags bediente dann auch das Bild einer gemäßigten, liberalkonservativen Formation, der es keineswegs um die Wiederbelebung thatcheristischer Strategien der gesellschaftlichen Spaltung zu gehen schien. So schrieben Cameron und Clegg in ihrem gemeinsamen Vorwort: „Wir wollen beide ein Großbritannien, in dem die soziale Mobilität in Gang gesetzt wird; wo alle, egal welchen Hintergrunds, die Chance haben, so weit aufzusteigen, wie es ihnen Talente und ihr Ehrgeiz ermöglichen.“ (2010: 6; übers.). Entsprechend behauptete sie auch, dass es sich bei der Zusammenarbeit ihrer Parteien um eine „fortschrittliche Koalition“ handle, und bemühten als Schlagwörter nicht nur Dauerbrenner neoliberaler Diskurse wie „Freiheit“ und „Verantwortung“, sondern auch „Fairness“ (8, übers.).

Das größte Zugeständnis der Konservativen an den Koalitionspartner war die Zusicherung, eine Volksabstimmung über eine Änderung des Wahlrechts abzuhalten, die im Mai nächsten Jahres stattfinden wird. Das Mehrheitswahlrecht sichert seit jeher das ‚Duopol‘ von Labour und Tories; nun soll über eine modifizierte Form7 abgestimmt werden. Es geht also keineswegs um die Einführung eines Verhältniswahlrechts, und es ist auch nicht gesagt, dass die Bevölkerung der Änderung zustimmt – zumal die Tories betonen, dass aus ihrer Unterstützung für die Abhaltung eines Referendum keineswegs ihre Zustimmung zu dessen Inhalt folgt. Für die LibDems könnte sich diese Konzession also bald als Pyrrhussieg erweisen.

Gleichzeitig machte der Koalitionsvertrag aber auch deutlich, dass sich die Tory Party in dem im Wahlkampf am heftigsten umstrittenen Feld, der Haushaltspolitik, durchgesetzt hatte. Die LibDems hatten in ihrem Wahlprogramm noch nahegelegt, dass die konservative Forderung nach einem drastischen Sparkurs eine Gefahr darstelle: „Wir müssen sicherstellen, dass das Timing richtig ist. Wenn man die Ausgaben zu schnell kürzt, untergräbt das die dringend benötigte [wirtschaftliche] Erholung und zerstört Arbeitsplätze“ (LibDems 2010: 15, übers.). Im Koalitionsvertrag hingegen heißt es: „Wir werden die Senkung des strukturellen Defizits im Lauf der Legislaturperiode erheblich beschleunigen, und die Hauptlast der Defizitsenkung wird durch Sinken der Staatsausgaben, nicht aber durch erhöhte Steuern getragen.“ (HM Government 2010: 15, übers.)

Es zeigte sich allerdings schnell, dass die Führungsspitze der LibDems kein Problem mit 180-Grad-Wenden hat. Diese gab es auch in Bezug auf weit konkreter ausformulierte Maßnahmen: Im Wahlkampf hatte man eine Mehrwertsteuererhöhung noch heftig kritisiert und das Versprechen gegeben, gegen jegliche Form der Erhöhung von Studiengebühren zu stimmen. Diese Wendigkeit mag damit zusammenhängen, dass führende Parteimitglieder im Wahlkampf eher im Namen der Parteibasis sprachen als im eigenen Namen, und dass es sich für sie wahlkampftaktisch lohnte, Positionen links der Labour Party zu beziehen und so WählerInnen an sich zu binden, die der britischen Sozialdemokratie aus Enttäuschung über deren neoliberalen Kurs und über den Irakkrieg den Rücken gekehrt hatten. Ohnehin waren drei der fünf jetzigen liberaldemokratischen Kabinettsmitglieder Mitautoren des Orange Book (Marshall/Laws 2004) – einem programmatischen Text, der für eine marktzentrierte Neubestimmung des britischen Liberalismus plädierte. Es ist also davon auszugehen, dass die Führungsspitze der Partei von vornherein weit weniger Berührungsängste mit den Tories hatte als viele ihrer einfachen Mitglieder und WählerInnen.

Entsprechend macht das Regierungskabinett auch einen äußerst homogenen Eindruck, und das nicht nur in Hinblick auf seine ideologische Ausrichtung: Von 29 Kabinettsmitgliedern sind 28 weiß, 25 Männer, 22 MillionärInnen, 19 AbsolventInnen der Eliteunis Oxford und Cambridge und 19 ehemalige SchülerInnen von Privatschulen, die Schulgebühren erheben. Dem Journalisten Mehdi Hasan (2010) zu Folge hat Großbritannien seit den 1950er Jahren kein Kabinett mehr gehabt, deren Mitglieder einen so einheitlich sozialen Hintergrund haben. Die Sparmaßnahmen jedenfalls betreffen die meisten seiner Mitglieder und ihr soziales Umfeld nicht.

Die Krise als Chance

Die Zielsetzungen der Koalition lassen sich offensichtlich nicht umstandslos aus offiziellen Verlautbarungen ablesen. Vielmehr offenbart sich ein Graben zwischen moderater Rhetorik bei der Darstellung allgemeinpolitischer Zielsetzungen und radikalen politischen Weichenstellungen in der Haushaltspolitik, die auf tiefgreifende Veränderungen im Verhältnis zwischen Staat und Ökonomie zielen. Will man also die Strategie der Koalition verstehen, muss man sich diesen Weichenstellungen zuwenden.

Die Regierungsbildung fand im Mai dieses Jahres statt, also in etwa zeitgleich mit der Griechenlandkrise. In dieser Situation erklärte Cameron umstandslos den haushaltspolitischen Notstand. Er erklärte, Labour habe die Staatsfinanzen in einem „erbärmlichen Zustand“ hinterlassen (zit. n. Mulholland 2010a, übers.). Dann fügte er hinzu, dass das Haushaltsdefizit Großbritanniens auf dem Weg sei, das von Griechenland zu überholen, und kündigte an, dass die Regierung das Defizit innerhalb einer Legislaturperiode beseitigen werde (Cameron 2010). Einen Monat später verkündete Osborne ein ‚Notbudget‘, das laut Financial Times „eine der drastischsten Ausgabenkürzungen in allen entwickelten Wirtschaftsräumen der Gegenwart“ vorsah (Giles 2010, übers.). Auch hier wurde wieder die Griechenlandkarte gespielt: „Dieses Budget ist unvermeidbar“, so Osborne, da ansonsten ein Krisenszenario wie in Kontinentaleuropa drohe (2010a, übers.). Beim Nachtragshaushalt im Oktober vermerkte der Schatzkanzler schließlich, Großbritannien habe vor dem „Bankrott“ gestanden, bevor die Koalition eingeschritten sei (Osborne 2010b, übers.).

Die Vorgehensweise der Regierung besteht also darin, ein Katastrophenszenario an die Wand zu malen, und das eigene politische Programm als einzig wirksame und insofern alternativlose Präventionsmaßnahme darzustellen. Dabei stimmen weder die Situationsbeschreibung noch die Schlussfolgerungen. An ersterer ist richtig, dass die Staatsschuld im Zuge der Finanzkrise und der Bankenrettungs- und Nachfragestützungsmaßnahmen8 der Regierung Brown explodierte. Allerdings wurden zumindest erstere von Tories wie LibDems zum guten Teil mitgetragen. Zudem stellt sich die Frage nach der politischen Verantwortung für die Krise. Sicherlich hat ,New Labour‘ ein Laissez-Faire-Regime bei der Finanzmarktregulierung unterhalten und nichts unternommen, um die Blasenbildung an den Finanzmärkten zu unterbinden. Aber die Liberalisierung der britischen Finanzmärkte inklusive des Konsumentenkredit- und Hypothekenmarkts begann in den 1980er Jahren unter Margaret Thatcher. Insofern ist der „erbärmliche Zustand“ der britischen Staatsfinanzen keinesfalls das Produkt ungehemmter Staatsausgaben für den Wohlfahrtsleistungen, wie Osborne suggeriert (2010b), sondern ein Produkt der finanzgetriebenen Wachstumsstrategie, auf die alle britischen Regierungen seit 1979 gesetzt haben (vgl. Gallas 2010).

Zudem taugt der Vergleich mit Griechenland bei der Situationsbeschreibung nichts. Großbritannien hat schließlich immer noch seine eigene Währung und verfügt somit über fiskal- und geldpolitische Interventionsmöglichkeiten, die der griechischen Regierung in dieser Form nicht zur Verfügung stehen. Es besteht beispielsweise die Möglichkeit einer Abwertung des Pfunds, um Exporte anzuregen. Außerdem unterscheidet sich die Struktur der britischen von der der griechischen Schuldverschreibungen insofern, als erstere mit langfristigeren Rückzahlungsfristen versehen sind. Schließlich ist die Staatsverschuldung, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, deutlich niedriger als in Griechenland, und auch niedriger als der Durchschnittswert der letzten 300 Jahre. Entsprechend waren die Kosten der Kreditaufnahme für die britische Regierung auch vor Verkündigung des Nachtragshaushalts im letzten Monat durchaus gering. Der Chefkommentator der Financial Times, Martin Wolf, merkte zu diesem Zeitpunkt an: „Der Markt schreit seine Sorglosigkeit ob der haushaltspolitischen Glaubwürdigkeit des Vereinigten Königsreichs geradezu heraus.“ (Wolf 2010, übers.)

Schließlich stimmen die Schlussfolgerungen nicht. Der Austeritätskurs stellt potentiell ein Problem für die Haushaltskonsolidierung dar – nämlich dann, wenn er durch die drastische Ausgabenreduzierung Wachstum abwürgt und somit zum Absinken der Steuereinnahmen führt. Und selbst wenn man unterstellt, dass die Staatsschuld und das Haushaltsdefizit die vordringlichen Probleme der britischen Wirtschaft sind, kann man immer noch darüber streiten, wie man diese angeht. So folgt aus der Notwendigkeit der Defizitreduzierung keineswegs die Annahme, dass diese im Zeitraum einer Legislaturperiode erfolgreich abgeschlossen sein muss. Zudem ist keineswegs gesagt, dass der Haushalt weitgehend über Ausgabenkürzungen finanziert werden muss. Die Regierung bearbeitet nicht Sachzwänge, wenn sie Haushaltskonsolidierung über Steuererhöhungen weitgehend ablehnt und dennoch mit der Mehrwertsteuer genau jene Steuer anhebt, die vor allem GeringverdienerInnen hart trifft. Sie trifft politische Entscheidungen, die eine ganz bestimmte Weltsicht widerspiegeln.

Die Details der Haushaltsplanung und der sie flankierenden Maßnahmen, zeigen das besonders deutlich. Immer wieder wird behauptet, die wegfallenden Jobs würden durch neue Arbeitsplätze im erstarkenden Privatsektor wettgemacht.9 Entsprechend gehen mit den Sparmaßnahmen umfassende Privatisierungsversuche einher. Das zeigt sich beispielsweise im Bereich der Schulen: die aktuelle Gesetzgebung der Regierung sieht vor, dass sich staatlich finanzierte Schulen von der Kontrolle durch Kommunalbehörden unabhängig machen, und dass Privatinitiativen staatlich finanzierte Schulen gründen können. Damit wird die Konkurrenz der Schulen untereinander verstärkt und die Kontrolle staatlicher Behörden über den Schulsektor zurückgedrängt. Gleichzeitig wird profitorientierten Privatunternehmen die Möglichkeit eröffnet, im großen Umfang Administrations-, Service- und Wartungsaufgaben im Auftrag dieser Schulen wahrzunehmen (Vasagar 2010). Diese Maßnahmen zielen also auf die Bereitstellung öffentlicher Aufgaben durch nicht-staatliche, unter Marktbedingungen operierende unabhängige Institutionen. Der Regierung geht es somit um die Vollendung des thatcheristischen Projekts einer vollständig Marktprinzipien unterworfenen Gesellschaft, d.h. um eine Neujustierung des Verhältnisses von Staat und Ökonomie nach viktorianischem Vorbild.

Teil des thatcheristischen Projektes war immer auch die Marginalisierung der britischen Gewerkschaftsbewegung und die Ausschaltung kollektiven Klassenhandelns, und auch dieses Ziel scheinen die Sparpläne anzuvisieren: Die letzten verbliebenen Bastionen der britischen Gewerkschaften befinden sich im öffentlichen Sektor und kommen durch die Sparpläne unter Beschuss. Man kann die Strategie der Regierung auch getrost als Versuch ansehen, eine weitere Offensive des britischen Machtblocks gegen die Subalternen in Gang zu bringen.

Eine Besonderheit des Neothatcherismus der Koalition ist allerdings, dass auf der diskursiven Ebene weit weniger auf die mobilisierende Kraft von polarisierenden Interventionen gesetzt wird, die Spaltungen in der Bevölkerung erzeugen und vertiefen. Man betont stets, dass bei den Sparplänen ,Fairness‘ gewahrt bleibe, weil die Regierung bei ihren haushaltspolitischen Umbauarbeiten die reichsten Bevölkerungsgruppen auch relativ am stärksten belaste. Anders als Thatcher flankiert die Regierung ihre Maßnahmen mit einer mäßigenden Rhetorik, die auf die diskursive Einbindung der gesamten Bevölkerung setzt.

Allerdings sind die Grenzen dieser Vorgehensweise bereits sehr deutlich. Die Darstellung der sozialen Auswirkungen der Sparpläne in Regierungsverlautbarungen wies das vom britischen politischen Mainstream hoch angesehenen Institute for Fiscal Studies (IFS) schlicht zurück. Nach Angaben des IFS fallen die von der Regierung vorgelegten Zahlen nur deshalb so aus, weil sie einfach die bereits von der Vorgängerregierung getroffenen Maßnahmen, unter anderen die Erhöhung des Spitzensteuersatzes, mit in die Berechnung aufnehmen. Für sich genommen sind die Belastungen also klar regressiv und treffen ärmere Bevölkerungsteile insgesamt härter als reichere (IFS 2010a, b) – und dass schon im Bezug auf direkte Leistungskürzungen, also ohne zu berücksichtigen, dass sich die angespannte und sich weiter verschärfende Situation auf dem Arbeitsmarkt auf verschiedene Bevölkerungsgruppen sehr unterschiedlich auswirken wird. Daneben werden auch Frauen erheblich stärker belastet werden als Männer, weil sie einerseits im größeren Umfang Sozialleistungen beziehen und andererseits im stärkeren Maße im öffentlichen Sektor beschäftigt sind (vgl. Stratton 2010). Schließlich werden auch die strukturschwachen ehemaligen Industriegebiete im Norden des Landes besonders berührt, weil die lokalen Arbeitsmärkte in größerem Maße als anderswo von öffentlicher Beschäftigung abhängen (Elliott 2010).

Unterm Strich ähnelt also auch die verteilungspolitische Situation der der Thatcher-Ära – und zwar insofern, als die VerlierInnen und GewinnerInnen der Umstrukturierungsprozesse in etwa deckungsgleich sind. Das bedeutet auch, dass vor allem jene für die Wirtschaftskrise haftbar gemacht werden, die von den für die Krise verantwortlichen Blasenbildungen am wenigsten profitiert haben. Die Banken hingegen werden lediglich mit einer minimalen Abgabe belastet, die durch eine Unternehmenssteuersenkung sogar noch weitgehend wettgemacht wird: Die Belastung beläuft sich nach aktuellen Planungen auf etwa £2,5 Milliarden jährlich (Treanor 2010a, b). Schätzungen der Unternehmungsberatung CEBR zu Folge werden die in der City ausgezahlten Boni in diesem Jahr £7 Milliarden betragen (2010: 1).

Der Publizist George Monbiot bemüht den Begriff „Katastrophenkapitalismus“ von Naomi Klein, um die Situation zu beschreiben: „Das Sparprogramm der Regierung sieht wie ein klassisches Beispiel für Katastrophenkapitalismus aus: Man benutzt eine Krise, um die Wirtschaft im Sinne der Geschäftswelt umzuformen.“ (Monbiot 2010, übers.) Um Katastrophenkapitalismus handelt es sich aber auch in Bezug auf die zu erwartenden Auswirkungen der Sparpolitik: Die durch Ausgabenkürzungen wegbrechende Nachfrage droht die Konjunktur abzuwürgen und die Arbeitslosigkeit in die Höhe zu treiben, und die bereits exorbitante Privatverschuldung macht es unwahrscheinlich, dass Konsumenten- und Hypothekenkredite den Ausfall noch einmal kompensieren können. Großbritannien droht also ein Szenario des „Zombie-Neoliberalismus“ (Peck 2010, übers.) – eine Situation der auf Dauer gestellten und sich verschärfenden Krise, geprägt von der Dominanz der ‚untoten‘ Ideologie des Neoliberalismus.

Is Ed really red?

Angesichts der düsteren Zukunftsaussichten stellt sich natürlich die Frage nach politischer Opposition und Widerstand. Auf der politischen Bühne versucht sich die Labour Party derzeit an der Formulierung einer Alternative zur Regierungspolitik. Sie wählte Ed Miliband zu ihrem Parteichef, der überraschenderweise seinen favorisierten Bruder David schlug. Miliband unternahm zunächst eine rhetorische Absetzbewegung von seinen Amtsvorgängern, indem er den Irakkrieg kritisierte und das Ende von ‚New Labour‘ verkündete. Angesichts dieser Aussagen und seiner Unterstützung durch die Gewerkschaften wurde er schnell von der rechten Presse als ‚Red Ed‘ porträtiert.10 Miliband reagierte daraufhin mit der öffentlichen Versicherung, kein Marxist zu sein, und sprach sich gegen „unverantwortliche Streiks“ aus (Jones 2010).11 Zudem berief er den ehemaligen Innenminister Alan Johnson auf den Posten des Schattenschatzkanzlers, der dem rechten Parteiflügel zugerechnet wird. Johnson verkündete auch schnell, keineswegs grundsätzlich gegen Sparpläne zu sein, sondern lediglich ein langsameres Vorgehen bei der Defizitbeseitigung zu befürworten – wie das der letzte Labour-Schatzkanzler Alistair Darling anvisiert hatte (Mulholland 2010b).

Milibands Lavieren verweist auf ein grundsätzliches strategisches Dilemma, vor dem die Partei derzeit steht: Einerseits ist ihr Spitzenpersonal so sehr mit dem neoliberalen Kurs von ‚New Labour‘ identifiziert, dass man sich bei jeder Absetzbewegung nach links wahlweise dem Vorwurf der Heuchelei oder dem Vorwurf einer Rückkehr zu Politiken aussetzt, die man unlängst noch als veraltet angesehen hatte. Andererseits gibt es ein beträchtliches Potential an WählerInnen, das sich aus Enttäuschung über eben diesen neoliberalen Kurs den LibDems zugewendet hatte, und das man durch das Beziehen eindeutigerer Positionen möglicherweise zurückgewinnen könnte. Ob ein Schlingerkurs die richtige Antwort auf die Bearbeitung dieses Dilemmas ist, kann getrost bestritten werden. Allerdings weckt die jüngere wie ältere Geschichte der Labour Party ebenso gewichtige Zweifel daran, dass die Parteiführung überhaupt willens ist, sich in einer Krisenkonstellation ernsthaft auf die Seite der Subalternen zu stellen.

Die Proteste aus der Bevölkerung sind bislang vor allem als Suchbewegungen zu sehen, denen der Kristallisationspunkt fehlt, an dem sich eine umfassende Auseinandersetzung eröffnen lassen würde. Dringend gefragt ist sicherlich die Einmischung der Gewerkschaften, die ob der Regierungspläne zwar einen heißen Herbst angekündigt hatten, aber sich bislang nicht durch breite Mobilisierungen hervorgetan haben. Eine Demonstration von GewerkschafterInnen und StudentInnen anlässlich der Verkündigung des Nachtragshaushalts in London war mit 3.000 TeilnehmerInnen eher schwach besucht. Aktives Agieren in den Betrieben wird allerdings durch drakonische Antiarbeitskampfgesetze behindert – gerade dann, wenn es um Solidaritätsstreiks oder gar politische Streiks geht. Hinzu kommt die grundsätzlich feindliche Stimmung, die von den meisten Presseorganen gegen Arbeitskämpfe verbreitet wird. Bleibt zu hoffen, dass die derzeitigen Proteste der StudentInnen als Initialzündung dienen können. Die angekündigte Erhöhung der Studiengebühren hat immerhin 50.000 Leute zu einem Massenprotest in London veranlasst, der in der Stürmung und zeitweisen Besetzung des Gebäudes gipfelte, in dem sich die Parteizentrale der Konservativen befindet. Es wäre zu hoffen, dass hier der fragliche Kristallisationspunkt entsteht.

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Anmerkungen

* Eine gekürzte Printfassung dieses Artikels ist in Analyse&Kritik Nr. 555 (19.11.2010) erschienen.Zurück zur Textstelle

  1. Es wird eine mietunabhängige, absolute Obergrenze für das Wohngeld festgesetzt, und das Leistungsniveau für MieterInnen von Privatwohnungen wird von 50% auf 30% der verfügbaren Wohneinheiten abgesenkt. Zudem bekommen Arbeitslose 10% pro Jahr des Bezugs von Arbeitslosenhilfe gestrichen (Williams 2010). Der konservative Bürgermeister von London, Boris Johnson, bemerkte angesichts der Pläne und der hohen Mieten in der britischen Hauptstadt, dass eine Vertreibung der Armen aus dem inneren Stadtgebiet verhindert werden müsse. Er sprach in diesem Zusammenhang von der Gefahr von „sozialen Säuberungen im Kosovo-Stil“ (zit. n. Mulholland 2010c, übers.).Zurück zur Textstelle
  2. Beim Gesundheitswesen handelt es um einen Anstieg von nominal 1,3%, was angesichts der alternden Bevölkerung und steigender Aufwendungen für Behandlungen einer Senkung der Leistungen pro Patient gleichkommt.Zurück zur Textstelle
  3. Die Beteuerung der Regierung, die Schulen zu verschonen, stimmt nur insoweit, als die absoluten Ausgaben im Schulbereich nicht sinken werden. Auf Grund steigender Schülerzahlen wird zu einer realen Senkung der Investitionen pro Kopf kommen (Harrison 2010).Zurück zur Textstelle
  4. Die Liberaldemokraten wurden in der britischen Öffentlichkeit zumindest bis zur Wahl bei weitem nicht so eindeutig mit Wirtschaftsliberalismus identifiziert wie beispielsweise die FDP in Deutschland. Das ist einerseits auf die Programmatik der Partei zurückzuführen. In ihrem Wahlprogramm machte sie sich für die Umverteilung von „Macht und Reichtum“ und für die Bekämpfung der „schlimmsten Auswüchse gesellschaftlicher Ungleichheit durch Besteuerung“ stark (LibDems 2010: 9). Andererseits hängt ihre Wahrnehmung eng mit ihrer Entstehungsgeschichte zusammen. Sie geht auf die ‚Allianz‘ aus Liberal Party und Social Democrat Party (SDP) zurück, die in den 1980er Jahren bestand. Bei der SDP handelte es sich um eine Abspaltung der Labour Party aus dem Jahr 1981 (vgl. Gallas 2010). Die Liberal Party war wiederum programmatisch von den Haltungen zweier ihrer prominentesten Mitglieder geprägt: William Beveridge, dem Architekten des britischen Wohlfahrtsstaats, und John Maynard Keynes.Zurück zur Textstelle
  5. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass eine Koalition zwischen Labour und LibDems über keine absolute Mehrheit an Sitzen im Unterhaus verfügt hätte und insofern auf die Unterstützung durch regionalistische Kleinparteien aus Nordirland, Schottland und Wales angewiesen gewesen wäre.Zurück zur Textstelle
  6. Cameron konnte dabei auf seine Erfahrungen als ehemaliger Mitarbeiter in einem PR-Unternehmen zurückgreifen. Er beklagte entsprechend immer wieder, dass es sich bei Großbritannien um eine „gebrochene Gesellschaft“ handle, besuchte öffentlichkeitswirksam Armensiedlungen, fuhr mit dem Fahrrad zur Arbeit und verkündete seine Verehrung für die Indieband The Smiths. All diese Maßnahmen zielten sicherlich auch darauf, Camerons Herkunft aus der Oberklasse und seine Ausbildung an den elitärsten Bildungseinrichtungen des Landes, dem Privatinternat Eton und der Universität Oxford, in den Hintergrund zu drängen.Zurück zur Textstelle
  7. Nach dieser legen die WählerInnen eine Präferenzreihenfolge der KandidatInnen fest, die zum Tragen kommt, wenn niemand eine absolute Mehrheit an Erststimmen erreicht.Zurück zur Textstelle
  8. Beispiele sind eine vorübergehende Senkung der Mehrwertsteuer, temporäre Steuerbefreiungen für HauskäuferInnen und eine Abwrackprämie nach deutschem Vorbild. Zurück zur Textstelle
  9. Diese Behauptung ist angesichts der fragilen Konjunktur äußerst fraglich. Aktuelle Daten jedenfalls deuten nicht darauf hin, dass es derzeit zu Neueinstellungen im großen Stil kommt (Groom 2010) – und das zu einem Zeitpunkt, wo die Auswirkungen der Sparpläne auf die Konjunktur noch nicht zu erkennen sind.Zurück zur Textstelle
  10. Diese Bezeichnung ist schon deshalb absurd, weil Miliband aus Gordon Browns innerstem Beraterzirkel kommt und unter Brown auch als Minister tätig war.Zurück zur Textstelle
  11. Der Vater der Miliband-Brüder, Ralph, war einer der bedeutendsten britischen marxistischen Intellektuellen der Nachkriegszeit und einer der profiliertesten Kritiker der Labour Party von links.Zurück zur Textstelle
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