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If things had only got better

Ein Rückblick auf ,New Labour’

Alexander Gallas

Vielen BritInnen kommt wahrscheinlich eine seichte Dance-Pop-Nummer mit dem Titel Things can only get better in den Sinn, wenn sie sich an Nummer-Eins-Hits aus dem Jahr 1997 zu erinnern versuchen. Das war der Song, der die Wahlkampfkampagne der Labour Party für die Unterhauswahlen im selben Jahr beschallte. Nach einem eindeutigen Wahlsieg wurde Tony Blair Premierminister, und die führenden RepräsentantInnen der Partei nahmen nach 18 Jahren in der Opposition wieder auf den Regierungsbänken Platz. Es hatte eine neue Ära auf der britischen politischen Bühne begonnen, denn Labour gewann auch die folgenden zwei Unterhauswahlen – wiederum mit klarem Vorsprung. Das hatte die Partei in ihrer hundertjährigen Geschichte noch nie geschafft.

Im Nachhinein mögen SpötterInnen das fragliche Lied als angemessenen Soundtrack für ein politisches Projekt sehen, dessen ProtagonistInnen nachgesagt wurde, von PR-Maßnahmen besessen zu sein. Aber die Tatsache, dass es ins kollektive Gedächtnis eingegangen ist, zeigt, dass Blairs Amtantritt mit großen Hoffnungen auf Veränderung verbunden war – gerade innerhalb derjenigen Bevölkerungsteile, die unter Margaret Thatcher und ihrem Nachfolger John Major Angriffen ausgesetzt waren.1

Im Mai diesen Jahres wurde mit der Bildung einer konservativ-liberalen Koalitionsregierung unter Führung von David Cameron und Nick Clegg das Ende von ,New Labour’ auch formal besiegelt. Entsprechend ist es an der Zeit, Bilanz zu ziehen und die Frage zu stellen, ob die Zuversicht des Jahres 1997 berechtigt war. Fand unter ,New Labour’ tatsächlich eine Wendung zum ‚Besseren’ statt?

Der Thatcherismus als ,offensiver Schritt’ des britischen Machtblocks

Das politische Projekt ,New Labour’ lässt sich nur verstehen, wenn man sich die Entstehung und die Auswirkungen des Thatcherismus auf Politik und Wirtschaft in Großbritannien vor Augen hält. Dieser entstand als Reaktion auf die „organische Krise“ des Landes ab Mitte der 1970er Jahre (Jessop et al. 1988: 18, übers.), welche wiederum aus drei Komponenten bestand:

  1. eine Wirtschaftskrise, die sich in ,Stagflation’ und Abwertungsdruck auf das Pfund ausdrückte und die chronische Wettbewerbsschwäche der britischen Industrie2 widerspiegelte;
  2. eine ideologische Krise, die das Scheitern von konservativen wie sozialdemokratischen Strategien zur Modernisierung des Nachkriegsarrangement zwischen Kapital und Arbeit anzeigte, das auf dem Wohlfahrtsstaat und auf Vollbeschäftigung beruhte; und
  3. die „doppelte Krise“ des britischen Staats (Jessop et al. 1988: 81; übers.), die einerseits die repräsentative Demokratie und das Schwinden der Unterstützung für das politische ,Duopol’ Labour/Tories betraf, andererseits die korporatistischen Institutionen, deren ohnehin geringe Bindungskraft noch einmal deutlich nachließ.

Thatcher wurde 1979 Premierministerin, indem sie sich einer neoliberalen Deutung der Krise verschrieb. Dieser Deutung zu Folge war Inflation das zu bekämpfende Hauptübel, welches wiederum durch angeblich überhöhte Lohnforderungen und Staatsausgaben hervorgerufen wurde. Thatcher & Co machten entsprechend militante Gewerkschaften sowie nachgiebige, keynesianisch-wohlfahrtsstaatlich orientierte politischen Eliten für die Krise verantwortlich. Dabei ignorierten sie, dass der Lebensstandard der Lohnabhängigen seit Jahren stagnierte, weil auf Grund der Dauerschwäche korporatistischer Institutionen eine industrielle Erneuerung bzw. eine produktivistische Akkumulationsdynamik nach kontinentaleuropäischem Vorbild nicht in Gang gekommen war.

Thatcher & Co verknüpften diese Deutung der Krise mit zwei verzahnten politisch-ökonomischen Strategien: Eine neoliberale ordnungspolitische Strategie, die auf monetaristische Geldpolitik, Steuersenkungen, Privatisierung und Öffnung der Finanzmärkte setzte; und eine klassenpolitische Strategie der Spaltung, die die Aufteilung der britischen Bevölkerung in „zwei Nationen“3 (Jessop et al. 1988) betrieb.4

Im Zentrum der ordnungspolitischen Strategie stand der Versuch, das Land mit Hilfe der Expansion des Finanzsektors auf einen Wachstumspfad zu führen. Die City of London5 sollte zu einem der Hauptknotenpunkte der in Entstehung begriffenen globalen Finanzmärkte werden, was durch hohe Zinsen und antiinflationäre Geldpolitik, die Beseitigung von Kapitalverkehrskontrollen sowie die Liberalisierung des Börsenhandels und des Privatkreditmarktes auch gelang. Allerdings kann von einer mittelfristigen Wachstumstrategie keine Rede sein: Es wurde die Grundlage für mehrfach wiederkehrende Crashs auf dem Finanz- und Immobilienmarkt gelegt, darunter auch der umfassende und bislang nicht bewältigte Einbruch von 2007/08. Ohnehin war die Kehrseite der fraglichen Maßnahmen eine Politik der Deindustrialisierung, die den Niedergang der Industrieregionen in Nordengland, Schottland und Wales beschleunigte. In der Rezession 1980/81 gingen dank hohen Zinsen und neu geschaffenen Möglichkeiten zum Kapitalexport reihenweise Industriebetriebe pleite; die entsprechenden Arbeitsplätze fielen ganz weg oder wurden durch Billigjobs im Dienstleistungssektor ersetzt, deren Entstehung der Liberalisierung des Arbeitsmarkts zu verdanken war.

Die umfassenden Liberalisierungsschritte bedeuteten keineswegs den Rückzug des Staats, sondern die Verlagerung von dessen zentralen Aufgabenbereichen. So wurden einerseits korporatistische Institutionen beseitigt, Staatsbetriebe im großen Stil privatisiert, Managementmethoden aus dem Privatsektor und marktähnliche Resourcenverteilungsmechanismen eingeführt und die Kommunalverwaltungen beschnitten; andererseits aber auch die repressiven Staatsapparate ausgebaut und der politische Prozess so zentralisiert, dass Thatcher sich umfassende Entscheidungsvollmachten aneignen konnte. Beides hing offensichtlich zusammen: Die Aushebelung von Verhandlungsforen und lokalen Entscheidungsebenen, die der direkten Kontrolle durch die Premierministerin entzogen war, war die Voraussetzung für die Aushebelung von Widerständen gegen die geplanten Umstrukturierungen. Der Politikwissenschaftler Andrew Gamble brachte dies mit der Formel „freie Wirtschaft und starker Staat“ (1988; übers.) auf den Punkt. Thatcher & Co koordinierten also einen „neoliberalen Regimewechsel“ (Jessop 2002: 85, übers.), im Zuge dessen das politisch-ökonomische Arrangement der Nachkriegszeit und die sie es unterstützenden Institutionen beseitigt wurden.

Die Thatcherites flankierten ihre ordnungspolitischen Maßnahmen durch eine klassenpolitische Strategie, die darauf zielte, vermeintliche LeistungsträgerInnen gegen vermeintliche LeistungsverweigerInnen auszuspielen und letzteren die Verantwortung für die Krise in die Schuhe zu schieben. Auf der Ebene des Diskurses ergriffen Thatcher & Co Partei für die angeblich hart arbeitende, am materiellen Fortkommen interessierte Bevölkerungsmehrheit. Sie stellten diese einer illustren Gruppe gegenüber, die vermeintlich unverdient vom Fleiß anderer profitierte. Diese Gruppe umfasste nicht nur BezieherInnen staatlicher Transferleistungen, streikbereite GewerkschafterInnen und Staatsbeschäftigte mit niedrigen und mittleren Qualifikationen, sondern auch aristokratische Kreise, hochrangige Staatsbedienstete, vermeintlich kompromisslerische und ausgabenfreudige PolitkerInnen sowie angeblich ständisch organisierte Berufsgruppen im Rechts-, Finanz-, Bildungs- und Gesundheitswesen.

Die diskursive Teilung der Bevölkerung wurde insofern materiell unterfüttert, als ein Projekt mit dem Titel ,popular capitalism’ aufgelegt wurde, das Aufstiegorientierungen bestätigen und marktfreundliche Haltungen institutionell absichern sollte. Zentraler Bestandteil war die Privatisierung von Sozialwohneinheiten, die ihrer BewohnerInnen zu Dumpingpreisen angeboten wurden. Zugleich wurde der Zugang zu Hypotheken und anderen Privatkrediten erheblich ausgeweitet. Die fragliche Klassenpolitik beruhte also einerseits auf „privatisiertem Keynesianismus“ (Crouch 2009), d.h. der Ausdehnung des Konsumniveaus der Bevölkerung über Privatverschuldung; andererseits ging die Regierung gegen die Arbeiterbewegung vor. Hier spielten nicht nur Privatisierung und Deindustrialisierung eine zentrale Rolle, sondern auch die Einführung drakonischer Antiarbeitskampfgesetze und die Ausführung direkter Angriffe innerhalb des Staatssektors. Die Angriffen fanden ihren Höhepunkt, als die Regierung den fast einjährigen Bergarbeiterstreik von 1984/85 provozierte, an dessen Ende die weitgehende Zerschlagung der Kohleindustrie und die Ausschaltung der National Union of Mineworkers stand, die die Speerspitze der militanten Arbeiterbewegung darstellte.

Hinter dem Thatcherismus stand also ein Klassenbündnis, das den traditionell von der City kontrollierten britischen Machtblock mit auftiegsorientiert-individualistischen subalternen Milieus zusammen brachte, also vornehmlich mit Selbstständigen und ArbeiterInnen und Angestellten in Betrieben ohne starke Gewerkschaftspräsenz. Ergebnis der von diesem Bündnis gestützten Strategie der Spaltung war eine Explosion der Einkommensunterschiede, die Großbritannien zum einem der sozial ungleichsten Länder in Westeuropa machte. Ein von der Expansion der City angeschobener Boom in der Region um London, von dem auch die regierungsnahen subalternen Gruppierungen profitierten, stand Massenarbeitslosigkeit und Verarmung in den (ehemaligen) Industrieregionen gegenüber. Dadurch wurden über Klassengrenzen hinweg verlaufende politische Bindungen gestärkt und Spaltungen innerhalb der Lohabhängigen vertieft. Zugleich beraubte der Thatcherismus eine der kampferprobtesten Gewerkschaftsbewegungen in Westeuropa ihrer Handlungsfähigkeit und nahm somit den Lohnabhängigen die Perspektive einer Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse durch kollektives, solidarisches Handeln. Die neoliberale Wende in Großbritannien entsprach also einem „offensiven Schritt“ (Poulantzas 1970/1973) des dortigen Machtblocks, der die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse deutlich zu dessen Gunsten verschob.

Die Anfänge von New Labour

Für die Entstehung des politischen Projekts ,New Labour’ wird bisweilen die Unterhauswahl 1992 verantwortlich gemacht. Neil Kinnock gab einen sicher geglaubten Sieg aus der Hand, und Thatchers Nachfolger John Major wurde im Amt bestätigt. Die Enttäuschung war groß, weil die Bedingungen für einen Regierungswechsel optimal schienen. Die Mängel der neoliberalen Ordnungspolitik der Thatcherites hatten sich offenbart, als die Blasen auf dem Aktien- und Immobilienmarkt Ende der 1980er bzw. Anfang der 1990er Jahre geplatzt waren und Großbritannien eine weitere tiefe Rezession durchlebte. Zugleich waren die Konservativen tief zerstritten: Thatcher war 1990 auf Grund ihrer starren Haltung in der Europapolitik zum Abgang gezwungen worden; strikt antieuropäische und pragmatischere Tories konnten sich infolgedessen aber nicht auf einen gemeinsamen Kurs einigen.

Zwei Jahre nach der Wahlniederlage 1992 wurde Tony Blair Labour-Parteichef und verkündete einen Kurs der radikalen Erneuerung.6 Tatsächlich geht die programmatische Neuausrichtung der Labour Party und ihre Aneignung neoliberaler Politikinhalte allerdings bis in die Zeiten der ideologischen Krise der 1970er Jahre zurück: Im Zuge der Sterlingkrise 1976 handelte der Labour-Schatzkanzler Denis Healey mit dem IWF einen Kredit zur Stützung des Pfunds aus und begann im Anschluss daran, direkte Maßnahmen zur Beschränkung der Geldmenge zu ergreifen. Damit machte er sich die von dem neoliberalen Vordenker Milton Friedman propagierte monetaristische Strategie in der Geldpolitik zu Eigen. Am Anfang des Kurswechsels der Labour Party stand also die frühe Bereitschaft führender Mitglieder, sich neoliberale Rezepte der Krisenbearbeitung zu eigen zu machen – noch bevor Thatcher überhaupt im Amt war.

Die Wahlniederlage 1979 schien diesem Flirt mit dem Neoliberalismus vorerst ein Ende zu setzen, denn nun wurde nicht etwa Healey Parteichef, sondern der der Parteilinken zugerechnete Michael Foot. Allerdings sorgte dessen Wahl für einen Richtungstreit, der in einer Austrittswelle von führenden RepräsentantInnen des rechten Parteiflügels und der Gründung der Konkurrenzorganisation Social Democratic Party (SDP) gipfelte. Bei den Unterhauswahlen 1983 kandidierte Foot auf Grundlage eines linkssozialdemokratischen Wahlprogramms, das als ,längste Selbstmordbekanntmachung aller Zeiten’ in die politische Folklore einging. Thatcher gewann mit dem Sieg im Falklandkrieg und einer konjunkturbedingten wirtschaftlichen Aufhellung im Rücken eindeutig; Labour lag nur knapp vor der ,Allianz’ aus SDP und Liberalen.

Daraufhin wurde Neil Kinnock Parteichef, der einen vermeintlich ,realistischen’ Kurs propagierte. Kinnock setzte darauf, die neoliberalen Umstrukturierungen der Regierung Thatcher lediglich umzugestalten und nicht vollständig rückgängig zu machen, und trieb die Marginalisierung des linken Parteiflügels voran. Wenn eine Wahlniederlage also für die neoliberale Wendung von Labour verantwortlich gemacht werden kann, ist es die aus dem Jahr 1983.

Daraus folgt auch, dass die Wahl Blairs zum Parteichef nicht etwa den ersten, sondern den letzten Schritt in der Neuausrichtung der Partei darstellt. Er bedeutete nicht so sehr den Bruch mit deren Zielsetzungen, sondern mit deren Kommunikationsstrategien. Blair stand also für das ‚Rebranding’ von Labour, das auf der Behauptung fußte, die Partei werde nun endlich modernisiert. Augenscheinlichstes Beispiel dafür ist der Ausdruck ,New Labour’ selbst, der erstmal im Jahr 1994 in Erscheinung trat. In diesem Jahr wurde der Labour-Parteitag unter das Motto ,New Labour, New Britain’ gestellt. Blair unterstrich damals den vornehmlich symbolischen Neuanfang auch durch die Forderung, die ,Clause 4’ aus der aus dem Jahr 1918 stammenden Parteisatzung zu streichen. In ihr verschrieb sich Labour einem sozialistischen Projekts auf Grundlage der Verstaatlichung der Produktionsmittel. Der Parteiapparat entsprach Blairs Forderung und ersetze sie durch ein nicht weiter spezifiziertes Bekenntnis zum ,demokratischen Sozialismus’.

Die Entstehung von ,New Labour’ bezeichnet also nur insofern die neoliberale Wendung der britischen Sozialdemokratie, als unter der Führung Blairs der Unterschied zwischen grundsätzlicher programmatischer Ausrichtung und taktischen bzw. strategischen Konzessionen an politisch-ideologische Dominanzverhältnisse verschwamm. Healey hatte im Nachhinein bekannt, ein „,ungläubiger Monetarist’“ (zit. n. Stephens 1996: 11, übers.) gewesen zu sein; von den Führungsfiguren von ,New Labour’ sind distanzierende Äußerungen dieser Art nicht bekannt.

Ordnungspolitische Kontinuität

Bei Amtsantritt bemühte sich die Regierung Blair sofort darum, Kontinuität auszustrahlen und die Finanzmärkte durch umfassende Konzessionen ruhig zu halten. Also verkündete Gordon Brown, der neue Schatzkanzler, die Budgetplanungen der Regierung Major zwei Jahre lang nicht anzutasten. Zugleich räumte er der Bank of England Autonomie im Bezug auf die Geldpolitik ein und setzte damit eine Forderung um, die zunächst aus konservativen Kreisen gekommen war. Die Verwandlung von Geldpolitik in ein vermeintlich endpolitisiertes, technisches Verfahren zur Inflationsbekämpfung zeigte an, dass die neue Regierung gewillt war, die Interessen der City gegen demokratische Ansprüche aus der Bevölkerung zu verteidigen. Entsprechend wurde mit der Schaffung der Financial Services Authority zwar ein neues Aufsichtsgremium für die Finanzmärkte etabliert; dies aber blieb unter dem Motto ,light touch regulation’ dem Laissez-Faire verpflichtet: Die Marktakteure regulierten sich auf Grundlage bestimmter Prinzipien selbst. Damit wurde sicher gestellt, dass massenhaft Kapital in die City floß, um Transaktionen durchzuführen, die anderswo von Aufsichtsbehörden unterbunden wurden. Das britische Regulierungsregime wurde zum Wettbewerbsvorteil für die City, deren Stellung als weltweit wichtigster Finanzplatz neben der Wall Street somit gefestigt wurde.7

Die Regulierungspolitik von ,New Labour’ eignete sich also wie die der konservativen Vorgängerregierungen bestens dafür, Finanzblasen entstehen zu lassen und die Voraussetzungen für einen großen Crash zu schaffen. ,New Labour’ war entsprechend nicht gewillt, die Vormachtstellung der City in der britischen Wirtschaft anzugreifen oder auch nur industriepolitische Gegenakzente zu setzen. Im Gegenteil: der Niedergang der britischen Industrie setzte sich ungebrochen fort. Überziehen sich Labour und Tories heute angesichts der Krise mit gegenseitigen Schuldzuweisungen, erinnert das an zwei Komplizen in Untersuchungshaft, die sich beim Verhör auf Kosten des jeweils anderen zu entlasten versuchen.

Insgesamt standen also die Zeichen also auf ordnungspolitische Kontinuität: Die neoricardianische Annahme, der britischen Wirtschaft sei vor allem durch die Öffnung nach außen geholfen, wurde von der Vorgängerregierung übernommen; ebenso die Überzeugung, dass die City als Zugpferd fungieren sollte und Industriepolitik vernachlässigenswert oder gar schädlich sei. In Sonntagsreden wurde zwar die Notwendigkeit der Schaffung einer ,wissenbasierten Ökonomie’ beschworen. Dennoch entschied ,New Labour’, eine Austiegsklausel für Großbritannien aus der EU-Arbeitszeitdirektive auszuhandeln. Blair betonte entsprechend, dass sein Land „den am wenigsten regulierten Arbeitsmarkt aller führenden Volkswirtschaften auf der Welt“ (zit. n.Wood 2010: 13) habe. Das zeigt, dass die Regierung nicht ernsthaft gewillt war, einen Bruch mit dem thatcheristischen Ansatz herbei zu führen, die Konkurrenzfähigkeit der britischen Wirtschaft durch einen liberalisierten Arbeitsmarkt und Billigjobs abzusichern.

Auch die Ordnungspolitik ,New Labours’ sollte im übrigen nicht als Zurückdrängung des Staates gesehen werden. Die Privatisierung von Staatsbetrieben und -aufgaben setzte sich zwar ebenso fort wie die Ausweitung von marktähnlichen Mechanismen und Managementmethoden im Staatssektor. Aber Blair und Brown bauten die repressiven Staatsapparate weiter aus und regierten im autoritären, zentralisistischen Stil ihrer VorgängerInnen.

Klassenpolitische Diskontinutität

Hat der Regierungswechsel 1997 überhaupt eine politisch-ökonomische Bedeutung, wenn die Kontinuität zwischen Labour und Konservativen so stark war? Ein Bruch wird insbesondere dann deutlich, wenn man sich den Bereich der Klassenpolitik vor Augen hält. Denn ,New Labour’ trat mit dem Versprechen an, die von den Thatcherites erschaffenen ,zwei Nationen’ wieder zu vereinigen, und traf damit den Nerv der Bevölkerung. Meinungsumfragen ab Ende der 1980er Jahren zeigten, dass die große Mehrheit der BritInnen über die Spreizung der Einkommen besorgt war. Zudem war man bereit, Steuererhöhungen zu akzeptieren, falls diese in die Erneuerung des Wohlfahrtsstaats flossen.

Nimmt man das Bekenntnis ,New Labours’ zu ,einer Nation’ mit der Unterstützung für die City zusammen, ging es also darum, die Einbindung subalterner Kräfte in das neoliberale Projekt umzugestalten. Beispiele dafür sind die beiden Vorzeigeprojekte Gordon Browns: der ,New Deal’ auf dem Arbeitsmarkt und die Einführung von ,Working Families Tax Credits’.

Der ,New Deal’, ein ,Welfare-to-Work’-Programm, war insofern typisch für ,New Labour’, als es auf der Neuinterpretation neoliberaler Grundannahmen aus der Sicht einer paternalistischen Sozialdemokratie basierte: Einerseits verschrieb sich Brown der marktautoritären Idee, dass die Auszahlung von Transferleistungen keinesfalls die Bereitschaft von Lohnabhängigen schmälern sollte, ihre Arbeitskraft jederzeit zu vorfindlichen Bedingungen zu veräußern. Entsprechend knüpfte er die volle Auszahlung von Unterstützungsleistungen an jüngere Arbeitslose an deren vermeintliche Bereitschaft, in ein Lohnarbeitsverhältnis einzutreten. Andererseits versuchte er das Zwangsmoment dafür zu nutzen, um die Qualifikationen der fraglichen Arbeitskräfte zu verbessern und damit ihre Stellung auf dem Arbeitsmarkt aufzuwerten.

Ähnlich die ,working families tax credits’: arme Familien, deren Bereitschaft zur Lohnarbeit insofern unstrittig war, als mindestens ein Familienmitglied arbeiten ging, konnten von nun an mit staatlichen Lohnzuschüssen rechnen. Diese wurden über das Finanzamt in Form einer negativen Einkommenssteuer ausgezahlt. Im Bezug auf das Management der öffentlichen Meinung bestand der Vorteil darin, dass die fraglichen Umverteilungsmaßnahmen intrasparent blieben und vergleichsweise geringe Aufmerksamkeit von der Opposition und den der Regierung feindlich gesonnenen Zeitungen auf sich zogen. Zugleich subventionierte ,New Labour’ so den Niedriglohnsektor und verstärkte den Arbeitszwang.

Weitere Maßnahmen waren ein niedriger und insofern weitgehend wirkungsloser Mindestlohn, sowie die Steigerung staatlicher Ausgaben für Gesundheits- und Erziehungswesen und die damit einhergehende Schaffung neuer Jobs im öffentlichen Sektor, die gerade die Arbeitsmärkte in den (ehemaligen) Industrieregionen entlasteten. Der ,Privatkeynesianismus’ der Vorgängerregierungen blieb ohnehin erhalten, ebenso die drakonischen Antiarbeitskampfgesetze. Gleichzeitig begann ,New Labour’ aber regelmäßige Gespräche mit den Gewerkschaften. Diese ließen sich nach jahrelanger Mißachtung durch die Tory-Regierungen mit den fraglichen geringfügigen Konzessionen wieder weitgehend ins Boot holen. So unterzeichneten die direkt an Labour angebundenen Gewerkschaften vor den Unterhauswahlen 2005 eine an kleinere Auflagen gebundene Unterstützungvereinbarung mit der Parteiführung.

Sozialpolitisch ist die nationale Vereinigungsstrategie von ,New Labour’ mit den Stichwörtern ,sozialer Einschluss’ und ,Chancen für alle’ beschrieben, die von Blair, Brown & Co auch immer verwendet wurden. Das erste Stichwort lässt auf ein kreisförmiges gesellschaftliches Feld mit Zentrum und Peripherie schließen; Sozialpolitik besteht folglich darin, die Menschen am Rande ins Zentrum zu führen. Das zweite Stichwort beschreibt eine Wettbewerbsgesellschaft, in der Reichtum und gesellschaftliche Stellungen im Prinzip leistungsgerecht verteilt sind. Sozialpolitik besteht in diesem Fall darin, für faire Startbedingungen zu sorgen bzw. wettbewerbsverzerrende Privilegien auszuhebeln. Beide Sprechweisen beschreiben Gesellschaft als ein im Prinzip ebenes Spielfeld, dessen Umzäunung abzubauen und das an einigen Stellen auszubessern ist. Soziale Ungleichheit wird damit ebenso entnannt wie Klassenplatzierungen und –auseinandersetzungen sowie die diese hervorrufenden systemischen Effekte der kapitalistischen Produktionweise.

Verteilungs- und Sozialpolitik war unter ,New Labour’ entsprechend in erster Linie ein Instrument der Armutsbekämpfung, nicht aber der Verminderung von Einkommens- bzw. Reichtumsunterschieden. Peter Mandelson, einer der führenden Vertreter von New Labour und zuletzt Vizepremier und Wirtschaftsminister unter Gordon Brown, brachte die dahinter stehende Haltung auf den Punkt: „Wir sind angesichts der Tatsache, dass Leute pervers reich werden, vollkommen entspannt – solange sie jedenfalls ihre Steuern bezahlen.“

Trotz der Weigerung, gesellschaftliche Ungleichheit als Problem zur Kenntnis zu nehmen, konnte ,New Labour’ ein neues Klassenbündnis schmieden, dass den Machtblock unter Vorherrschaft der City trug. Nun wurden auch die Beschäftigten im öffentlichen Dienst sowie die gewerkschaftlichen organisierten ArbeiterInnen an das neoliberale Projekt gebunden, indem die in der Thatcher-Ära entstandenen sozialen Verwerfungen ein wenig abgefedert und weitere Verschlimmerungen abgewendet wurden. Die historische Bedeutung ,New Labours’ lag also in der Normalisierung des Neoliberalismus; auf der Ebene der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse drückte sich dies als Konsolidierung der thatcheristischen Offensive aus. ,New Labour’ verankerte also den Neoliberalismus in Großbritannien noch fester, und das zu einem Zeitpunkt, als sich die Unterstützung für die Thatcherites auf Grund ihrer kompromisslosen Haltung und ihrer Unfähigkeit zu Konzessionen erheblich abschwächte.

Im Prinzip war ,New Labour’ also erfolgreich bei der Modernisierung kapitalistischer Herrschaft in Großbritannien. Entsprechend gelang es Blair, Brown & Co auch, den politischen Gegner für lange Zeit zu marginalisieren. Allerdings unterlief der Regierung Blair ein kapitales Fehlurteil im Bereich der Außenpolitik, nämlich die Einschätzung, dass sich eine unterwürfige Haltung gegenüber der Bush-Administration bezahlt machen würde. Dies betraf natürlich vor allem Blairs Entscheidung, britische Truppen am Irakkrieg teilnehmen zu lassen, der aller Wahrscheinlichkeit nach hunderttausenden Menschen das Leben kostete (vgl. Burnham et al. 2006). Die Folge waren Massendemonstrationen und ein dauerhafter Ansehensverlust Blairs in weiten Teilen der Bevölkerung.

Die auf Krieg und gewaltsame Regimewechsel setzende Außenpolitik wurden von einer angeblich gegen ,Terror’ gerichteten Innenpolitik flankiert, die die seit Thatcher vorherrschenden autoritären Tendenzen in der Staatspolitik noch verstärkten. So hebelte ,New Labour’ Grundrechte aus, indem man es den Ermittlungsbehörden ermöglichte, Terrorverdächtige für bis zu 28 Tage zu inhaftieren, ohne dass ein Verfahren eröffnet werden musste. Der Polizei räumte man im Rahmen der ,Terrorbekämpfung’ zudem die Möglichkeit ein, Leute ohne konkreten Verdacht anzuhalten und zu durchsuchen. Das wurde von dieser auch bald dafür genutzt, um unliebsame DemonstrantInnen einzuschüchtern.

,New Labour’ in der Krise

Die Unbeliebtheit Blairs mag dazu beigetragen haben, dass Brown ihn mit Hilfe seiner Verbündeten innerhalb der Führungsspitze von ,New Labour’ 2007 zum Rücktritt zwingen konnte. Kurze Zeit nachdem Brown das Amt des Premierministers übernommen hatte, wurde seiner Regierung mit voller Wucht von der gegenwärtigen Wirtschaftskrise getroffen, und zwar dank eines ,Runs’ auf die in Zahlungsschwierigkeiten geratene Hypothekenbank Northern Rock. Die Krise bedeutete faktisch das Ende des politischen Projekts ,New Labour’, weil sie ihm die ökonomischen Grundlage entzog. Die finanzgetriebene Akkumulationsstrategie, auf die Thatcherites wie auch Blairites und Brownites gesetzt hatten, erwies sich als hochgradig disfunktional. Zwar gab es nach der Rezession zu Beginn der 1990er Jahre eine außergewöhnlich lange Wachstumsperiode, diese mündete aber schlussendlich in der längsten Schrumpfungsperiode seit Beginn der Aufzeichnung von Konjunkturdaten in den 1950er Jahren.

Brown setzte wie schon Blair 1997 darauf, den Status Quo durch Kehrtwenden an einzelnen Punkten zu verteidigen. Seine Regierung genehmigte die Gründung von ,Bad Banks’ zur Auslagerung von ,Giftpapieren’, stellte den Banken Kapital zur Verfügung und vergab Kreditgarantien. Gleichzeitig ergriff sie Maßnahmen zur Stützung der Nachfrage, z.B. die vorübergehende Senkung der Mehrwertsteuer und die Bereitstellung einer Abwrackprämie. Zugleich dehnte die Bank von England die Geldmenge durch den Ankauf von Staatspapieren (,quantitative easing’) aus. Der augenfälligste und drastischste Eingriff war aber die Verstaatlichung in etwa der Hälfte des britischen Bankensektors, die dessen Zusammenbruch verhindern sollte. Teile der Presse sprachen von einer Rückkehr zum Keynesianismus, was aber schon deswegen nicht überzeugte, weil die Regierung das neugeschaffene Bankensteuerungsgremium UK Financial Investments (UKFI) nicht nutze, um eine engere Kontrolle der Geschäftspolitik der verstaatlichten Institute durchzusetzen. Ohnehin wurde das Personal von UKFI zum guten Teil direkt aus der City rekrutriert; in öffentliche Verlautbarungen betonte man stets, dass UKFI sich auf Abstand vom Management der jeweiligen Bankkonzerne bewegen würde.

Brown ging es also in der Krise nicht nur darum, seine eigene Handlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen und damit seine inner- und außerparteilichen KritikerInnen mundtot zu machen, sondern auch darum, dass neoliberale Projekt insgesamt zu verteidigen. Er vergab somit eine einmalige Chance zur Etablierung demokratischer Kontrollmechanismen über die Finanzmärkte – wohl deshalb, weil er sich angesichts der hohen Zahl von HausbesitzerInnen in der Bevölkerung ein Zusammenbrechen der Hypotheken- und Immobilienmärkte sowie ein entsprechendes Einbrechen der Hauspreise politisch nicht leisten konnte. Stattdessen wählte er eine Strategie, die die Krise insofern ausweitete, als sie nun den Staat ergriff: Das Ergebnis der brownschen Kriseninterventionen ist die annähnernde Verdoppelung der Staatsschuld innerhalb weniger Jahre und ein Haushaltsdefizit, das derzeit das von Griechenlands übersteigt. Diese Zahlen zeigen an, dass mit der Krise die Konsolidierungsphase des britischen Neoliberalismus unter ,New Labour’ zu einem jähen Ende gekommen ist.

Macht die Regierung Cameron sich jetzt an Ausgabenkürzungen, ist das nichts anderes als eine gigantische Umverteilungsmaßnahme zu Gunsten der City, die deren dominierende Stellung zementiert. Allerdings ist bislang nicht zu erkennen, wie das Festhalten an einer finanzgetriebenen Akkumulationsstrategie und an neoliberaler Ordnungspolitik Großbritannien auf einen Wachstumpfad zu führen vermag. Die Kreditversorgung stockt, die Banken sind nach wie vor unterkapitalisiert und die Staatsfinanzen in einem maroden Zustand. Es ist gut möglich, dass eine Ära des „Zombie-Neoliberalismus“ (Peck 2010; übers.) bevor steht, d.h. des Festhaltens an hochgradig disfunktionalen politisch-ökonomischen Rezepten und der dauerhaften Reproduktion des Krisenzustands.

Eine Wendung zum Besseren?

Wie ist vor diesem Hintergrund die Frage zu beantworten, ob sich mit ,New Labour’ die Dinge tatsächlich zum Besseren gewendet haben? Das kommt natürlich auf Standpunkt und Kriterium an. Sicherlich lässt sich die Frage letztlich nur sinnvoll beantworten, wenn man eine gesamtgesellschaftliche Sichtweise einnimmt, und sich nicht auf einzelne Politikfelder beschränkt. Aus der Perspektive materialistischer Staatstheorie besteht diese in der Betrachtung der Entwicklung gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zwischen Machtblock und Subalternen. Dazu ist zunächst festzuhalten, dass ,New Labour’ die Verschiebung der Kräfteverhältnisse zugunsten des Machtblocks in der Ära des Thatcherismus gerade dadurch stabilisiert hat, dass man zu geringfügigen materiellen Konzessionen bereit gewesen ist und die vorherrschenden ideologischen Anrufungen erneuert hat. Zugleich haben die Regierungen Blair und Brown dafür gesorgt, dass politisch-ökonomische Interventionsräume für subalterne Kräfte dauerhaft geschlossen geblieben sind. Dies zeigt ihr Umgang mit der Antiarbeitskampfgesetzgebung der Thatcherites.

Entsprechend hat sich die gesellschaftliche Ungleichheit in Großbritannien unter ,New Labour’ auf hohem Niveau stabilisiert, aber keineswegs verringert. Dagegen nehmen sich die Konzessionen an Subalterne insgesamt blass aus, auch wenn sie für bestimmte Milieus sicherlich positive Effekte hatten. Natürlich lässt sich nicht abstreiten, dass ,New Labour’ bestimmte soziale Härten der thatcheristischen Ära abgefedert hat, und es zudem zu einer gesellschaftspolitischen Liberalisierung gekommen ist. Aber das ist immer auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass ,New Labour’ entscheidend daran mitgewirkt hat, den Subalternen die Perspektive auf kollektives Handelns und auf gesellschaftliche Transformation dauerhaft zu nehmen. Insofern bleiben für diejenigen, die 1997 auf ,better things’ gehofft hatten, am Ende vor allem Enttäuschungen.

Die Zukunft der Labour Party

Das Ergebnis der Unterhauswahlen im Mai diesen Jahres hätte kaum uneindeutiger ausfallen können: Die Konservativen waren klar stärkste Partei, aber blieben eindeutig unter der in Großbritannien traditionell anzuvisierenden absoluten Mehrheit der Parlamentsitze; der Hype um den Chef der Liberal Democrats, Nick Clegg, führte nur zu geringfügigen Stimmenzuwächsen bei seiner Partei, die letztlich weniger Sitze als 2005 bekam; und Labour erzielte nach dem Zweiten Weltkrieg nur 1983 ein schlechteres Ergebnis, übertraf aber die düstere Prognosen mancher DemoskopInnen, dass die Partei nach Stimmanteilen auf den dritten Platz zurück fallen würde. Nach der Bildung der konservativ-liberalen Koalition unter Cameron lassen sich also alle drei Parteien wahlweise zu Gewinnern oder Verlierern der Wahl erklären. Im Moment sind also bestenfalls ,educated guesses’ im Bezug auf die mittelfristigen Folgen des Wahlergebnisses und die Zukunft der Labour Party möglich.

Zunächst vermute ich, dass die neue Regierung eher schwach dastehen wird – und zwar deshalb, weil die britische Wirtschaft von der Krise heftig getroffen wurde. Die angekündigte radikale Sparpolitik wird Großbritannien in der nächsten Zeit kaum auf einen Wachstumspfad zurück führen, sondern dürfte die ohnehin schwache Konjunktur abwürgen. Das Kürzungsprogramm liegt erst in groben Umrissen vor, aber es ist bereits klar, dass es einer vollständigen Abwälzung der Krisenkosten auf die Subalternen gleichkommt. Damit dürfte an der linksliberalen Basis des kleineren Koalitionspartners bald Unruhe ausbrechen. Insofern könnte sich die Labour Party möglicherweise auf Kosten der Liberal Democrats profilieren und sich somit letztlich als Wahlgewinner erweisen. Dieses Szenario setzt allerdings voraus, dass schnell eine neue Parteiführung gebildet wird, die zugleich die verschiedenen Parteiströmungen zusammen halten kann. Klar ist angesichts der neuen politischen Konstellation, dass Labour nur gewinnen kann, wenn die Partei nach links rückt; große Fragezeichen bestehen allerdings, ob der Blair-Flügel gewillt ist, einen Kursschwenk vorzunehmen bzw. mitzutragen. Bislang ist der Hauptunterschied zwischen Regierung und Opposition, dass letztere das Timing, den Umfang und die Ausrichtung der Kürzungspläne kritisiert. Ein ernsthafter Versuch, die Abwälzung der Krisenkosten auf die Subalternen zu behindern, ist jedoch nicht zu erkennen. Ob sich diese Zaghaftigkeit politisch bezahlt macht, darf erst einmal bezweifelt werden.

Literatur

Burnham, G., R. Lafta, S. Doocy und L. Roberts (2006): „Mortality after the 2003 invasion of Iraq. A cross-sectional cluster sample survey“, in: The Lancet 368(9545), 1421-1428.

Crouch, C. (2009): „Privatised Keynesianism. An Unacknowledged Policy Regime“, in: The British Journal of Politics and International Relations 11(3), 382-399.

Disraeli, B. (1845): Sybil, or the Two Nations, Leipzig: Bernhard Tauchnitz Junior.

Gamble, A. (1988): The Free Economy and the Strong State. The politics of Thatcherism, London: Macmillan.

Gowan, P. (2009): „Crisis in the Heartland. Consequences of the New Wall Street System“, in: New Left Review II.10(55), 5-29.

Hobsbawm, E. J. (1968): Industry and Empire, Harmondsworth: Penguin.

Jessop, B. (2002): The Future of the Capitalist State, Cambridge: Polity Press.

Jessop, B., K. Bonnett, S. Bromley and T. Ling (1988): Thatcherism. A Tale of two nations, Cambridge: Polity.

Peck, J. (2010): „Zombie neoliberalism and the ambidextrous state“, in: Theoretical Criminology 14(1), 104–110.

Poulantzas, N. (1970/1973): Faschismus und Diktatur. Die kommunistische Internationale und der Faschismus, München: Trikont.

Stephens, P. (1996): Politics and the Pound. The Tories, the Economy and Europe, London: Macmillan.

Wood, T. (2010): „Editorial. Good Riddance to New Labour“, in: New Left Review II.11(2), 5-28.

Anmerkungen

  1. Hierunter fallen bspw. die gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnen, die Bediensteten im öffentlichen Sektor, die Arbeitslosen und Armen und die ethnischen Minderheiten.Zurück zur Textstelle
  2. Eric Hobsbawm (1968: 178) zu Folge fand sich die britische Industrie gegenüber der internationalen Konkurrenz bereits während der zweiten Welle der Industrialisierung im späten 19. Jahrhundert im Hintertreffen.Zurück zur Textstelle
  3. Diese innerhalb des britischen politischen Diskurses gängige Formulierung geht auf den Benjamin Disraeli zurück, einem Tory-Politiker und Premierminister aus 19. Jahrhundert. Disraeli veröffentlichte 1845 einen Roman mit dem Titel Sybel, or the Two Nations, der die Spaltung Großbritanniens in „Arme“ und „Reiche“ monierte (1845: 69f.). Wohlfahrtsstaatlich orientierte Tories werden entsprechend bis heute als ,one nation conservatives’ bezeichnet.Zurück zur Textstelle
  4. Unter Ordnungspolitik verstehe ich staatliche Intervention, die direkt auf das Verhältnis von staatlichen und ökonomischen Institutionen einzuwirken und günstige Bedingungen für Kapitalakkumulation zu schaffen versuchen. Mit Klassenpolitik bezeichne ich hingegen staatliche Maßnahmen, die direkt auf die Reproduktion kapitalistischer Klassenherrschaft zielen, also auf die Absicherung der Kontrolle der Kapitalistenklassen über den Produktionsprozess.Zurück zur Textstelle
  5. Wenn in Großbritannien von der ,City of London’ oder der ,City’ die Rede ist, meint man damit die Londoner Finanzwelt, die seit Jahrhunderten in einem etwa eine Quadratmeile großen Gebiet in der Innenstadt angesiedelt ist.Zurück zur Textstelle
  6. Der zu diesem Zeitpunkt ebenfalls hoch gehandelte Gordon Brown ließ Blair eigenen Angaben zu Folge den Vortritt bei der Besetzung des Spitzenpostens – der Preis dafür war angeblich das Versprechen von Blair, zu einem späteren Zeitpunkt zurückzutreten und seinen Mitstreiter bei der Übernahme der Parteiführung und des Premierministeramtes zu unterstützen.Zurück zur Textstelle
  7. Peter Gowan (2009: 15f., übers.) erklärt, wie es der City gelang, Kapital aus New York anzulocken: „Einer der grundlegensten Verschiebungen war die Erschaffungen eines ausgedehnten, neuen Schattenbanksystems in London, das neben dem ,offiziellen’, reguliertem Sektor existierte. (...) Für New York wurde London somit das, was die Bucht von Guantánamo für Washington ist: Ein Platz außer Landes, wo man das tun konnte, was zu Hause nicht möglich war; in diesem Fall ein Ort für Ausnutzung von Regulationsgefällen.“Zurück zur Textstelle
© links-netz Juli 2010