Home Archiv Links Intern Editorial Impressum
 
 
Neue Texte
 

Schwerpunkte

Sozialpolitik als Infrastruktur
Ende der Demokratie?
 

Rubriken

Deutsche Zustände
Neoliberalismus und Protest
Bildung
Krieg und Frieden
Biomacht und Gesundheit
Kulturindustrie
Theorie: Empire, Kommunismus und andere Angebote
Rezensionen
 
 

Anzeige

Noeliberalismus und Protest Übersicht

 

  Nur Text    rtf-Datei    pdf-Datei 

Singing in the Rain. Nach dem Arabischen Frühling ein britischer Sommer

Alexander Gallas

Man stelle sich folgendes Szenario vor: Von einem Tag auf den anderen stellt die Bild am Sonntag ihr Erscheinen ein; zahlreiche aktuelle und ehemalige BamS-Journalisten werden verhaftet; die Führungsspitze des Springer-Konzerns muss vor einem Untersuchungsausschuss des Bundestags Rede und Antwort stehen; der BKA-Präsident und sein Stellvertreter treten zurück; und die Bundeskanzlerin befindet sich auf Grund der engen Verbindungen zwischen Springer und der CDU in Erklärungsnot.

Das ist natürlich reine Fiktion, die allerdings zugleich ein Produkt simpler Analogiebildung ist: Die auflagenstärkste Zeitung Großbritanniens, das Sonntagsblatt News of the World (NoW), ist tatsächlich im Juli eingestellt worden. Die Polizei hat zahlreiche JournalistInnen verhaftet, darunter Rebekah Brooks, ehemals Herausgeberin und Presseberichten zu Folge eine enge Freundin David Camerons, und Andy Coulson, zunächst Brooks‘ Nachfolger bei der NoW und später Pressechef des Premierministers. Rupert Murdoch, Vorsitzender des weltumspannenden Medienkonzerns News Corp, zu dessen Imperium die NoW gehörte, musste einem Ausschuss des Unterhauses Rede und Antwort stehen – und ebenso sein Sohn James, der für das Europageschäft des Unternehmens zuständig ist. Paul Stephenson und John Yates, die Nummer eins und zwei bei Scotland Yard, sind zurückgetreten. Und Cameron befindet sich erstmals in seiner Amtszeit in der Defensive.

Der Anlass: die linksliberale Tageszeitung The Guardian enthüllte Anfang Juli, dass die NoW im Jahr 2002 Sprachnachrichten auf dem Handy eines vermissten Mädchens abgehört hatte, der 13-jährigen Milly Dowler. Dowler war zu diesem Zeitpunkt bereits ermordet worden; die NoW-Mitarbeiter löschten Nachrichten, um ein Verstopfen der Mailbox zu verhindern und weiter Informationen abfangen zu können. Das wiederum nährte Hoffnungen auf Seiten der Familie von Milly, dass das Mädchen noch am Leben sei.

Es bedurfte dieser Enthüllung, um eine öffentliche Debatte um die Aktivitäten der News Corp und ihrer Verbindungen zu Polizei und Politik anzustoßen. Eigentlich war schon seit Jahren bekannt, dass NoW-MitarbeiterInnen Handymailboxen von Prominenten, Royals und PolitikerInnen abgehört hatte. Scotland Yard blieb untätig, wohl auf Grund der engen Verbindungen zwischen Polizeiführungsspitze und News Corps; und auch Cameron spielte die Angelegenheit zunächst herunter.

Be careful what you wish for...

Inzwischen sieht der Guardian-Kolumnist Jonathan Freedland bereits eine „sehr britische“, da stille Revolution am Werk und diskutiert sie im Zusammenhang mit dem ‚arabischen Frühling‘. Der Grund: Im Juni letztens Jahres startete die News Corp einen Versuch, die Kontrolle über die Bezahlfernsehsenderkette BSkyB zu erlangen, an der sie bereits einen Minderheitenanteil hielt. Dies führte auf Seiten von Wettbewerbern aus dem Zeitungsgewerbe zu Protesten, da die News Corp auch die auflagenstärkste Tageszeitung Großbritanniens, die Sun, kontrolliert, und zudem die Times. Die konservativen Mitglieder der Koalitionsregierung schienen jedoch gewillt, den BSkyB-Deal durchzuwinken. Angesichts der öffentlichen Empörung drehte sich der Wind nun. Oppositionsführer Ed Miliband schloss sich der Forderung nach einer Rücknahme des Übernahmeangebots an, und schließlich machte sich auch die Regierungskoalition diese Auffassung zu eigen. Wenig später nahm die News Corp ihr Angebot zurück.

Freedlands Revolutionsrhetorik speist sich also nicht lediglich aus der Skandalisierung journalistischer Recherchepraktiken, sondern thematisiert eine vermeintliche Verminderung des Einflusses der News Corp auf politische EntscheidungsträgerInnen. Es besteht die Einschätzung, dass der Konzern seit Jahren der britischen politischen Klasse unter Androhung von ,schlechter Presse‘ eine rechtskonservativ-marktextremistische Agenda aufzwingt, und dass es den britischen PolitikerInnen endlich zu gelingen scheint, Einschüchterungsversuche der News Corp abzublocken.

Richtig an dieser Einschüchterungstheorie ist, dass die News Corp eine solche politische Agenda hat, und richtig ist auch, dass die Regierungen Blair und Brown geradezu besessen von der medialen Wahrnehmung ihrer Maßnahmen waren und die Murdochs entsprechend hofierten. Richtig ist zudem, dass die News Corp vor direkter politischer Einflussnahme nicht zurück schreckt. Ein Beispiel: Traditionell dienen die Parteitage vor einer Unterhauswahl den drei großen Parteien dazu, ihre Kandidaten und ihr Programm zu profilieren. Während des Labour-Parteitags 2009 erklärte die Sun am Tag nach Gordon Browns Parteitagsrede mit einem untrüglichen Gespür für Timing, bei den Wahlen 2010 die Konservativen und nicht – wie zuvor – Labour zu unterstützen.

Trotzdem ist die Einschüchterungstheorie letztlich nicht überzeugend, zumindest wenn es um die Regierung Cameron geht. Klar ist zunächst, dass der Premierminister enge Verbindungen zur News Corp hat. So hat er seit seiner Amtseinführung im Mai 2010 nach eigenen Angaben 26-mal führende RepräsentantInnen des Konzerns getroffen. Cameron traf Murdoch bereits in den ersten 24 Stunden nach seiner Amtsübernahme in Downing Street No 10. Auch lud er Coulson noch auf seinen offiziellen Landsitz Chequers ein, nachdem dieser auf Grund der Abhörmaßnahmen bei NoW bereits von seinem Regierungsjob zurückgetreten war. Zudem ist bekannt, dass Cameron sich in der Vergangenheit immer wieder mit Brooks getroffen hat, so z.B. auf privaten Dinnerparties. Es wird also davon ausgegangen, dass Brooks zum persönlichen Freundeskreis der Camerons gehört.

Aber nicht nur die Existenz persönlicher Freundschaften spricht gegen die Einschüchterungstheorie. Sie setzt auch voraus, dass die News Corp Cameron eine Agenda überhilft, die nicht seinen Überzeugungen entspricht. Aber dafür gibt es keine Anhaltspunkte; im Gegenteil: die rechtslastigen politischen Instinkte der Murdoch-Presse entsprechen weitgehend der autoritär-marktextremistischen, neothatcheristischen Agenda der Regierung (s. mein Artikel in AK 555).

Entsprechend überkreuzen sich die Interessen beider Seiten: Im Sommer 2009, noch unter der Regierung Brown, hielt James Murdoch eine vieldiskutierte Rede, in der er die vermeintliche Dominanz der gebührenfinanzierten BBC anprangerte und die Regulierungsinstitution Ofcom angriff. Gleichzeitig wollten die Murdochs ihr Imperium in Großbritannien durch die vollständige Kontrolle von BSkyB absichern. Nun stehen Marktliberalisierung und die Untergrabung öffentlicher Institutionen ganz oben auf der Agenda der Tory Party. Und David Cameron brauchte Presseunterstützung im Wahlkampf. Insofern spricht viel für die Existenz eines informellen Bündnisses zwischen Seiten.

Dafür spricht auch die Medienpolitik der Regierung Cameron vor dem Bekanntwerden des Dowler-Vorfalls: Im Nachtragshaushalt 2010, der das großangelegte Sparprogramm der Koalitionsregierung ausbuchstabierte, fand sich der Entschluss, das Budget von Ofcom über vier Jahre um knapp 30% zu kürzen und die Rundfunkgebühren sechs Jahre lang einzufrieren, was einer faktischen Senkung des BBC-Budgets um 16% gleichkam. Dabei ist zu beachten, dass zumindest letztere Maßnahme keineswegs den Staatshaushalt entlastete, was als übergeordnetes Ziel der Haushaltsplanungen ausgegeben wurde. Zudem ließ der konservative Kulturminister Jeremy Hunt, zuständig für die Prüfung des BSkyB-Angebot, bald durchblicken, dass einer Übernahme nichts im Wege stehe. Und David Cameron hat inzwischen faktisch eingeräumt, nach seiner Amtseinführung mit RepräsentantInnen von News Corp über BSkyB gesprochen haben.

Angesichts der Guardian-Enthüllungen vollzog Cameron eine Kehrtwende vollzogen. Er machte sich nun öffentlich dafür stark, die Verantwortlichen für die Abhörtätigkeit strafrechtlich zu verfolgen und forderte News Corp auf, das Übernahmeangebot zurückzunehmen. Der Einschüchterungstheorie zu Folge liegt hierin der revolutionäre Charakter der Situation: Ist der Tyrann erst einmal gestürzt, müssen sich die PolitikerInnen ihm nicht länger im vorauseilenden Gehorsam beugen. Angesichts von Camerons Verstrickungen mit dem Murdoch-Clan ist allerdings eher davon auszugehen, dass er aus Sorge um seine Außenwahrnehmung schlicht seine PR-Strategie geändert hat. Und das macht keine Revolution, im Gegenteil. Die Koalitionsregierung hat die globale, durch Marktextremismus à la Thatcher hervorgebrachte Wirtschaftskrise genutzt, um Begründungen für ihren neothatcheristischen Maßnahmenkatalog zu schaffen – und an dieser Stelle droht sich das fragliche Muster im Kleinen zu wiederholen: Cameron hat einen Untersuchungsausschuss mit weitreichenden Befugnissen eingesetzt, der ausdrücklich auch die Tätigkeit der BBC sowie von koalitionskritischen Tageszeitungen wie dem Guardian, dem Independent und dem Daily Mirror unter die Lupe nehmen soll. Angesichts des allseitig zu vernehmenden Rufs nach Reregulierung der Medien fühlt man sich an ein gängiges englisches Sprichtwort erinnert: Be careful what you wish for.

Das gilt ebenso, wenn man sich anschaut, wer in die von der NoW hinterlassene Lücke rückt. Am ersten Wochenende nach Einstellung der Zeitung profitierte neben dem Labour-nahen Boulevardblatt Sunday Mirror vor allem der Daily Star Sunday, der seine Auflage um 50% auf ca. 1 Million Exemplare erhöhen konnte. Der Daily Star hatte Anfang des Jahres Schlagzeilen bei der Konkurrenz produziert, als er sich offen für die von Hooligans gegründete, islamophob-rassistische English Defence League stark machte, die für gewalttätige Straßenmobilisierungen bekannt ist. 2009 bot Star-Besitzer Richard Desmond Rupert Murdoch £1 Milliarde für die Sun, und ließ nach der Ablehnung seines Angebots durchblicken, dass er weiterhin an seinem Übernahmeplan festhält. Zudem halten sich Gerüchte, dass die Murdochs eine ‚Sun on Sunday‘ lancieren wollen.

Burying bad news

Angesichts der medialen Aufregung um die Abhöraffäre rückt in den Hintergrund, dass die Regierung weiterhin ihr Projekt einer grundsätzlichen Verschiebung des Verhältnisses zwischen Staat und Wirtschaft verfolgt. Dies wurde noch einmal im einem Weißbuch bekräftigt, das die Regierung auf dem Höhepunkt der Abhöraffäre Mitte Juli vorlegte: Ihr mittelfristige Ziel bleibt es, den gesamten öffentlichen Sektor für private Anbieter zu öffnen; lediglich die Kernbereiche von Streitkräften, Polizei und Justiz sollen verschont blieben. Der Journalist Neil Clark kommentierte, dass das „neoliberale Streben nach einem vollständig privatisierten Großbritanniens in sein Abschlussstadium eintritt“.

Entsprechend kündigte die Regierung etwa zur selben Zeit an, bislang durch den staatlichen Gesundheitsdienst erbrachte Leistungen im Wert von £1 Milliarde zu privatisieren. Auch dies ging angesichts der Aufregung um die Murdoch-Presse in der Öffentlichkeit weitgehend unter. ‚Burying bad news‘ sagt man in Großbritannien zu dieser Form der Anti-PR.

Grundsätzlich offenbaren die Verstrickungen zwischen der Führungsspitze der Tory Party und der News Corp sicherlich eine Krise der britischen Demokratie, und verweisen darüber hinaus auch auf eine existenzielle Gefahr für kapitalistische Ordnungen: Sind ökonomische und politische Herrschaft nicht unterscheidbar, gibt es tendenziell weder eine Marktwirtschaft noch einen Rechtsstaat. Und damit sind die Produktionsverhältnisse grundsätzlich gefährdet. Nun bedeutet der neothatcheristische Kurs der Regierung allerdings, dass eine Trennung der Herrschaftsebenen in Zukunft tendenziell noch schwerer aufrecht zu erhalten ist. Camerons Vorgehen gleicht also dem Löschen eines Brandes bei gleichzeitiger Entfernung von Brandschutzmaßnahmen. In Großbritannien schwelt eine ökonomische wie auch politische Dauerkrise.

‚We heard no alternative‘

Wie aber reagieren regierungskritische politische Kräfte auf die Situation? Auf der politischen Bühne scheint die Labour Party erstmals seit der Wahl im Mai 2010 Aufwind zu verspüren: Parteichef Ed Miliband nutzt die Gunst der Stunde, um Cameron recht offensiv anzugehen, und sammelt damit offensichtlich bei der Bevölkerung Punkte. Eine Grundsatzdebatte um die Zersetzung der Demokratie durch den Neoliberalismus kann allerdings schon deshalb nicht von Labour angestoßen werden, weil die Regierungen Blair und Brown weitreichend an der ,Neoliberalisierung‘ Großbritanniens beteiligt war. Die Partei würde sich sofort des Vorwurfs der Heuchelei und der Unglaubwürdigkeit aussetzen.

Entsprechend kritisiert die Labour-Führungsspitze den Regierungskurs – allerdings im halbherzigen Stil des ,Ja, aber‘. Ihr Verhältnis zu den Massenmobilisierungen gegen Kürzungen im öffentlichen Sektor ist zwiespältig. Zwar trat Miliband auf einer Großdemo im März in London auf, an der nach Presseangaben mehr als eine Viertel Million Menschen teilnahmen. Im Juni aber distanzierte er sich von einem Streiktag der Gewerkschaften im öffentlichen Dienst gegen die Anhebung des Rentenalters und die Kürzung der Renten, an dem wiederum Hundertausende im ganzen Land beteiligt waren.

Milibands Herumeiern zum Trotz regt sich also durchaus Widerstand innerhalb der Bevölkerung, der von den Gewerkschaften sowie von aktivistischen Kreisen koordiniert wird. Wichtig dabei ist, dass beide Seiten inzwischen versuchen, zu einem gemeinsamen Agieren zu finden. Denn der Protest ist umso wirksamer, wenn es gelingt, die Mobilisierungskraft der Gewerkschaften mit der Fähigkeit der AktivistInnen zur Erzeugung von Medienaufmerksamkeit zu bündeln.

Nachdem die für britische Verhältnisse erstaunlich militanten StudentInnenproteste mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Verdreifachung der Studiengebühren erst einmal abgeebbt sind, hat die Kampagne ‚UK Uncut‘ für Aufsehen gesorgt. Ausgangspunkt war die auch für konservativ-kleinbürgerliche Milieus kaum abzulehnende Forderung, dass auch Großkonzerne ihre Steuern zu entrichten haben – und dass sie an deren Hinterziehung bzw. am Ausnutzen von Schlupflöchern gehindert werden müssen. Dank Enthüllungen des Guardians bezüglich der Umgehungspraktiken einschlägiger Telekommunikationskonzerne, Bekleidungsketten sowie Großbanken fand sich schnell ein geeignetes Feld für effektive Protestaktionen. Dabei stellten die UK Uncut-AktivistInnen den Zusammenhang zwischen der Steuerfrage und dem Kürzungsprogramm der Regierung her: Sie besetzen Banken sowie Handy- und Klamottenläden kurzerhand während der Öffnungszeiten und widmeten sie kurzzeitig in selbstverwaltete Schulen, Universitäten und Gesundheitszentren um. Somit wurde es möglich, die Ausgangsfrage zu radikalisieren und die üblichen Grenzziehungen zwischen Privat-, Staats- und öffentlichen Eigentum anzufechten.

Auf zwei anderen Feldern haben Proteste aus der Bevölkerung bereits kleine Erfolge zu verbuchen. Erstens machte die Regierung ihren Plan rückgängig, die Wälder im Staatsbesitz zu privatisieren, weil sich schnell ein breites Antiprivatisierungsbündnis bildete, das so unterschiedliche Gruppen wie die Landschaftsschutzorganisation National Trust und die trotzkistische Socialist Workers Party zusammen brachte. Zweitens wurden Pläne zur umfassenden Umstrukturierung und Privatisierung des nationalen Gesundheitsdienstes zumindest abgebremst, als deutlich wurde, dass man sämtliche im Gesundheitsbereich tätigen Berufsgruppen gegen sich aufgebracht hatte.

Es sei aber auch festgehalten, dass der Protestbewegung ein positives politisches Projekt wie auch ein Sprachrohr auf der politischen Bühne fehlt. Somit wird es schwierig, Darstellungen in Regierungsverlautbarungen und in der Rechtspresse entgegen zu treten, die die Bewegung als Destruktivkraft beschreiben, welche sich vermeintlich unausweichlichen Restrukturierungsmaßnahmen in den Weg stellt. ‚We have heard no alternative‘, spottete Margaret Thatcher einst.

Nun ist es durchaus möglich, dass die Regierungskoalition auseinanderbricht – z.B. auf Grund des der durch die Kürzungsmaßnahmen weiter geschwächten Wirtschaft, die seit einem dreiviertel Jahr stagniert. Aber dann droht eine Labourregierung, die allenfalls eine Entschleunigung der bereits in Gang gebrachten Umstrukturierungsmaßnahmen anbietet. Und das könnte durchaus ausreichen, um Teile der Gewerkschaften wieder einzubinden.

Fazit: An den Sommer in Großbritannien sollte man keine allzu hohen Erwartungen stellen – insbesondere dann, wenn man an mediterrane Hochwetterlagen gewöhnt ist. Normalerweise stellt er lediglich einen leichten Temperaturanstieg bei ähnlichen Niederschlagswerten dar, und trotz Klimawandels hat es auch heuer wieder viel geregnet. Aber bekanntlich ist Meteorologie eine unpräzise Wissenschaft.

Postskriptum

Diesen Artikel habe ich kurz vor dem Ausbruch der Unruhen im Sommer geschrieben, die insofern noch keine Berücksichtigung fanden. Deshalb eine kurze Nachbemerkung zur politischen Bedeutung dieses für die gegenwärtige Situation in Großbritannien sicherlich wichtigen Ereignisses. Der Artikel erschien in gekürzter Fassung in der Zeitschrift AK – Analyse & Kritik, und zwar kurz nachdem die Unruhen für mehrere Tage die Schlagzeilen auch in Deutschland beherrscht hatten. Er wurde von den HerausgeberInnen mit einem Trailer versehen. In diesem sprach man von einem „Aufstand der Abgehängten – geeint im Hass auf Eliten und Polizei“. Ähnlich bezeichnete auch Benjamin Opratko in einem Beitrag für die Zeitschrift Perspektiven die Unruhen als „Aufstand der englischen Jugendlichen“.

Dazu sei festgehalten, dass das Wort ‚Aufstand‘ mir nicht wirklich geeignet scheint, um die Situation im Sommer zu beschreiben. Denn es suggeriert m.E., dass es zu einem kollektiven Agieren mit ökonomisch-politischen Zielsetzungen bzw. zu aktivem Widerstand gegen vorherrschende ökonomisch-politische Arrangements kommt. Und dies war meiner Einschätzung nach nicht der Fall. Es geht mir dabei nicht um Wortklauberei, sondern um eine wichtige politische Fragestellung: Haben die Ereignisse ein emanzipatorisches Potential? Sind sie gar Ausdruck einer ‚Protestwelle‘, die sich, von Nordafrika ausgehend, inzwischen auf die arabische Halbinsel, nach Spanien, Griechenland, Israel, Chile und sogar in die USA ausgedehnt hat?

Zweifelsohne stehen die Unruhen nicht außerhalb des politischen Feldes stehen. Sie sind Symptom einer mit der ökonomischen Krise verknüpften sozialen Krise, die vor allem Jugendliche und junge Erwachsene hart trifft. Offiziellen Statistiken sind zu Folge sind knapp eine Million der 16-24jährigen BritInnen ohne Job; und im zweiten Quartal 2011 waren von 80.000 neuen Arbeitslosen 77.000 in der fraglichen Altersgruppe. Gleichzeitig hat die Koalitionsregierung einen Zuschuss für SchülerInnen ab 16 aus armen Familien abgeschafft und die Studiengebühren von ca. £3.000 (€3.477) auf ca. £9.000 (€10.430) im Jahr angehoben. Die Unruhen sind sicherlich auch ein Resultat der Wirtschaftskrise und einer Form von Krisenpolitik, die sich gegen die Armen richtet.

Allerdings folgt daraus nicht, dass die Unruhen einen zumindest vorpolitischen Kampf gegen den Status Quo darstellen. Anders gesprochen haben sie ökonomische und politische Ursachen, und sie sind auch Gegenstand politischer Interventionen – aber sie sind nicht die Vorstufe zu einem politischen Projekt ‚von unten‘ und sind insofern anders zu bewerten als die Wellen sozialen Protesten in anderen Teilen der Welt. Warum?

Zunächst ist zu berücksichtigen, dass die ‚Hauptaktivität‘ der an den Unruhen beteiligten nicht die Konfrontation mit der Polizei und somit mit der Staatsgewalt gewesen zu sein scheint, sondern die Plünderung von Geschäften. Auslöser war zweifelsohne die Erschießung des schwarzen Familienvaters Mark Duggan durch die Londoner Polizei, und die Tatsache, dass offizielle Stellen fälschlicherweise suggerierten, dieser habe das Feuer eröffnet. Eine daraufhin angesetzte Demonstration gegen Polizeigewalt im Londoner Stadtteil Tottenham führte zu ersten Auseinandersetzungen. Allerdings koppelten sich die darauf folgenden Unruhen schnell von diesem Auslöser ab: Sie gingen nicht von Demonstrationen aus; es wurden keine Parolen gerufen oder Forderungen artikuliert; und auch von ‚race riots‘ kann nicht wirklich die Rede sein, denn viele der Beteiligten waren weiß.

Ein von AugenzeugInnen verfasster Bericht in der Manchester Mule, einer linken Lokalzeitung, beschreibt die Plünderungen in der größten nordenglischen Stadt. Er bringt die Widersprüchlichkeit der Unruhen auf den Punkt. Sie haben eine politischen Gehalt, sind aber nicht wirklich politisch motiviert: „An jenem Abend war die Innenstadt ein angsteinflößender Ort. Häufig verhielten sich die Unruhestifter und Plünderer rücksichtslos und achteten weder auf ihre eigene körperliche Unversehrtheit noch die anderer Leute. Ein paar von ihnen wollten einfach andere Leute verletzten, und als es dunkel wurde, trieben sich hartgesottene Banden auf den Straßen herum, um die Situation auszunutzen. Niemand kann das wollen. Aber diejenigen, die dabei mit Schrecken von weitem zuschauten, haben höchstwahrscheinlich ein falsches Bild von der Atmosphäre, die ein wenig früher herrschte. Die Stimmung hatte eine merkwürdig-humoristische Seite. [There was an odd sense of humour to it.] Zwar gab es keine klare politischen Zielsetzungen oder eine eindeutige Botschaft, aber das heißt nicht, dass diejenigen, die sich beteiligten, sich wie wilde Tiere aufführten, die um jeden Ramsch kämpfen. Es handelte sich im Großen und Ganzen um Freundeskreise mit allgegenwärtiger Unbekümmertheit, die high davon waren, die Lage im Griff zu haben, und die nichts zu verlieren hatten. Nicht alle haben bei der Zerstörung und beim Diebstahl mitgemacht; viele waren wegen des Spektakels an einem Ort an, an dem sie normalerweise nicht willkommen sind, weil sie kein Geld haben. Fast alle hatten einen frenetischen Hass auf die Polizei, die als Instanz wahrgenommen wird, die sie – und auch ihre Freunde und Familien – tagtäglich drangsalieren. Manche erklärten, dass die Kürzungsprogramme [der Regierung Cameron] Auswirkungen auf sie hätten und ihre Lebensziele einschränkten, und dass die Leute ‚frustiert‘ und ‚wütend‘ seien. Sie akzeptierten nicht notwendigerweise alles, was [im Zuge der Unruhen] passierte, aber sie verstanden es. Andere sagten, sie seien nur da, um Geld zu machen – eine Widerspiegelung der Werte der gesellschaftlichen Elite.“

Eindeutig politisch war hingegen die Reaktion der Regierung Cameron auf die Unruhen. Natürlich nützt es keiner Regierung, wenn sie für mehrere Tage die Kontrolle in Teilen des Landes verliert. Aber Cameron hatte schnell eine Deutung parat, die jegliche Verbindung der Unruhen zu Krise und Krisenpolitik leugnete. Er sprach von „Kriminalität in Reinform“, vom „Zusammenbruch der Moral“, vo0n einem Sozialsystem, das zur „Faulheit“ anhält, und von versagenden Eltern. Gleichzeitig machte er sich dafür stark, die an den Unruhen Beteiligten ins Gefängnis zu stecken.

Die Regierung hat also die Ereignisse genutzt, um die Legitimationsmuster für ihren Angriff auf die Armen zu erneuern. Im Hinblick auf Camerons Anmerkungen zum Sozialsystem sei darauf hingewiesen, dass die Arbeitslosenhilfe in Großbritannien maximal £67,50 (€78) pro Woche beträgt. Zum Vergleich: Fred Goodwin, Bankrotteur der inzwischen verstaatlichten Royal Bank of Scotland, bekommt £13.519 (€15.667) pro Woche in Form einer von den SteuerzahlerInnen garantierten Pension.

Die Reaktion der britischen Bevölkerung auf die Unruhen gibt nicht zu der Hoffnung Anlass, dass Camerons Deutung auf taube Ohren stößt. Umfragen zufolge bröckelte die Unterstützung für die Konservativen über den Sommer nicht; offensichtlich sprach sich eine große Mehrheit der Befragten zudem dafür aus, dass Verurteilungen für die Beteiligung an den Unruhen über das normale Strafmaß hinaus gehen sollen. Der Sommer in Großbritannien brachte also keinen Sonnenschein, sondern eine heftige Gewitterfront. Und nun steht ein harter Winter bevor.

© links-netz November 2011