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Rechte Kapitalismuskritik*

Thomas Gehrig

„Manche Finanzinvestoren verschwenden keinen Gedanken an die Menschen, deren Arbeitsplätze sie vernichten – Sie bleiben anonym, haben kein Gesicht, fallen wie Heuschreckenschwärme über Unternehmen her, grasen sie ab und ziehen weiter. Gegen diese Form von Kapitalismus kämpfen wir.“ (Müntefering in: BamS 16.04.2005).

War das durchsichtiges Wahlkampfmanöver? War es der Versuch den linken Flügel der SPD angesichts der drohenden Niederlage zu beruhigen? Oder will eine beleidigte Regierungspartei jetzt etwa die Parole 'keine Rechte ohne Pflichten' auch auf die Kapitalseite anwenden? Versteht Müntefering seine eigene Politik nicht, oder sieht er gar eine dahinter liegende höhere Moral der Gerechtigkeit?

Der Vorsitzende der SPD Müntefering kritisiert die „wachsende Macht des Kapitals“ und vergleicht Investoren mit Heuschreckenschwärmen. Müntefering läuft damit Gefahr, allen Kredit, den die SPD bei der Wirtschaft mit ihrer neoliberalen Agenda 2010 – diesem „Grundkurs in modernem Kapitalismus“ (HaBla 19.04.05) – gewonnen hatte, zu verspielen. Deren bisherige Wirtschaftspolitik – so fürchtet BDI-Chef Thumann – werde unglaubwürdig (HaBla 25.04.05). Das ist die undankbare Position einer Partei, die, auch wenn sie letztlich alle politischen Sichtweisen und Forderungen der Unionsparteien z.T. übernommen, z.T. sogar 'modernisiert' hat, für die Wirtschaftskreise doch immer nur zweite Wahl sein wird. Die bemühte Kopie und nicht das Original.

Der Chefredakteur des Handelsblatt Ziesemer stellt fest, dass Kanzler Schröder seinen Amtseid nach „Paragraf (sic!) 56 des Grundgesetzes“ verletzt habe (HaBla, 28.04.05): Es gehe ihm nicht darum, Schaden vom Deutschen Volk abzuhalten, sondern statt dessen die Landtagswahl in NRW zu gewinnen. Für letzteres meinte die SPD, gegen ihre eigene Politik agitieren zu müssen.

Nicht Finanzinvestoren, wie Müntefering sagt, gefährdeten unsere Demokratie, sondern Müntefering selbst gefährde mit seiner Kapitalismuskritik die „freiheitliche Ordnung“ (Tichy, HaBla 22.04.05). Kannegiesser (Gesamtmetall) sieht mit der Erwähnung des Staates in Münteferings Kapitalismuskritik bereits wieder die DDR am Horizont heraufziehen (HaBla 25.04.05). Auch EU-Wettbewerbskommissarin Kroes ist enttäuscht, sie glaubte uns bereits in einer „neuen Politikphase“, in der „vor allem Pragmatismus zählt“ (HaBla 25.04.05). Münteferings Äußerungen machen die Marke „Deutschland“ im globalisierten Kampf um Marktmacht und Gewinne schlecht, so die im Arbeitgeberlager verbreitete Auffassung. Sein Ausbruch wird als wirtschaftsfeindlich und klassenkämpferisch eingestuft (Kannegiesser), es sei ein „Rückfall in den Klassenkampf“ (Brüderle, HaBla 14.04.05) – kann es ein vernichtenderes Urteil geben? Arbeitgeberpräsident Hundt, der Müntefering Realitätsferne vorwirft, sieht sich zu einer Klarstellung veranlasst: Davon, dass die Menschen zum Produktionsfaktor verkürzt würden, könne keine Rede sein (HaBla 14.04.05). Wir sind beruhigt!

Ausländisches Kapital zerstört deutsche Arbeitsplätze. Gesunde deutsche Firmen werden platt gemacht, Geschäftemacher stopfen sich die Taschen voll, und der Staat soll dabei zusehen? „Staatsskepsis ist ein Irrweg“, so Müntefering (HaBla 14.04.05). SPD-Wirtschaftspolitiker Wend steht ihm bei (HaBla 14.04.05): Die rücksichtslose Orientierung am kurzfristigen Profit sei für den Standort Deutschland problematisch. Beklagt wird, dass Unternehmer neben Renditezielen keine gesellschaftlichen Unternehmensziele mehr hätten – nur ist das Renditeziel bereits ihr wahres und einziges gesellschaftliches Unternehmensziel. Dies dürfen sie bei Strafe des Untergangs nicht verfehlen!

Der SPD, derzeit bundesweit in den Umfragen deutlich unter 30 Prozent, strategische Spiele zu unterstellen, liegt nahe. Im SPD-Keller scheint noch ein ranziger Eimer rotschimmernde Klassenkampffarbe gefunden, mit der die Politik fürs Kapital kurzfristig übertüncht wird – bis sie vom ersten Regen nach der Wahl wieder abgewaschen ist. Und dies für alle offensichtlich, um – im Rahmen einer parteiinternen Rollenteilung – die abwandernde traditionelle SPD-Klientel zu bedienen. Doch der argumentative Eimer, aus dem Müntefering sich bedient, ist der konservativer Kapitalismuskritik. Sie ist zutiefst nationalistisch, moralisch und bedient im Antisemitismus virulente Bilder.

Zurecht vergleicht Porsche-Chef Wiedekind Münteferings Kapitalismuskritik mit der unseres Papstes – der Unterschied sei, dass Letzterem mit glänzenden Augen zugejubelt werde (HaBla 28.04.05). Das Handelsblatt erinnert daran, dass die Agitatoren des Judenpogroms von 1819 auch die Metapher der „Heuschrecken“ benutzten. Bezeichnender Weise wird in der gleichen Ausgabe der Zeitung FDP-Chef Westerwelle mit den Worten zitiert: „Die Gewerkschaftsfunktionäre sind das Unglück und die eigentliche Heuschreckenplage unseres Landes“ (HaBla 28.04.05). „Antisemitischer Mob hier, Klassen sprengender Kapitalismus dort, Antisemitismus und Antikapitalismus marschieren im gleichen Schritt“ (Ziesemer, HaBla 13.05.05). Die alten antisemitischen Vorurteile verbänden sich mit den modernen „gegen internationale Wirtschaftsbeziehungen, Börsengeschäfte und globale Kapitaltransaktionen“. Das Wall Street Journal schreibe zu Recht über Münteferings Botschaft: „'Gutes deutsches Kapital' schaffe Arbeitsplätze, während 'ausländisch-jüdisches Kapital' Jobs vernichte.“ Der Leitartikel der WamS sieht es ähnlich: „Antikapitalismus und Antisemitismus liegen dicht beieinander. Müntefering vermischt diese Ressentiments. Sein Gebräu würzt er mit Isolationismus und Nationalismus“ (WamS 01.05.05). Beschrieben wird „Münteferings nationaler Sozialismus“ (WamS) bzw. sein „völkischer Antikapitalismus von Links“ (hagalil.com 09.05.05).

Die SPD-Linke, die angesichts von Münteferings Ausfall nun „Maßnahmen“ fordert wirkt fast beängstigend! Fatal wird Politik, wenn die Politiker selbst sie glauben! Ihre Replik bleibt jedoch ebenso unglaubwürdig wie Müntefering selbst, indem sie trotz aller Kritik den einigenden Treueschwur zu Partei, Vaterland und Agenda 2010 ablegt.

Münteferings Position war von Anfang an populistisch und zutiefst unglaubwürdig: Über Forderungen der Partei-Linken nach höheren Belastungen für Reiche bzw. einer Vermögenssteuer konnte er sich bis vor kurzem noch öffentlich amüsieren. Auch dass Fonds ja auch das Geld von Arbeitnehmern verwalten, kam ihm in den Sinn! Konzernsteuersätze werden reduziert, Firmenerben von der Erbschaftssteuer befreit. Die Kapitalismuskritik nach der Agenda 2010 wird bereits als Eingeständnis von Politikunfähigkeit und die Einstimmung auf die nächste Oppositionszeit interpretiert (Hanke, HaBla 19.04.05). In der WamS wird darauf verwiesen, dass auch die SPD-geführte Regierung Firmen an „Wagnisfinanziers“ verkauft habe (Bundesdruckerei, Autobahndienstleister Tank & Rast). Müntefering habe das „Geld der angloamerikanisch-jüdischen Kapitalisten gern genommen“ (WamS 01.05.05).

Michael Hüther (DIW) sieht den Samen der Kapitalismuskritik immer wieder aufkeimen, solange sich Menschen „durch den Mangel an Orientierung und Erklärung allein gelassen“ fühlten. Auch nach 57 (!) Jahren sei die marktwirtschaftliche Ordnung immer noch nicht selbstverständlich akzeptiert. „Dass Demokratie und Marktwirtschaft gleichermaßen aus der Entscheidung für die Freiheit und der Fähigkeit zur Verantwortung des Individuums resultieren, ist für viele Bürger immer wieder eine Überraschung“ (Habla 13.05.05). Die Ökonomen werden aufgefordert, endlich gute „Argumente für die zwangsläufige Moral“ des offenen Systems Marktwirtschaft zu liefern. Alle sollen ihre faire Chance zum Mitmachen erhalten. Roland Tichy, Chefkolumnist des HaBla, erinnert an den liberalen Ökonomen Friedrich August von Hayek. Dieser meinte, Freiheit sei als umfassendes Prinzip in der ganzen Gesellschaft zu verwirklichen – was Tichy wiederum als eine Bestätigung seiner These ansieht, die Marktwirtschaft sei eine unabdingbare Voraussetzung für Demokratie. Tichy folgt Hayek auch in dessen Einschätzung, dass es der Zusammenschluss von rechten und linken antikapitalistischen Kräften, „die Verschmelzung des radikalen mit dem konservativen Sozialismus“ gewesen sei, die die Liberalität aus Deutschland vertrieben habe. So kann – dank Münteferings Kapitalismuskritik – der Kapitalismus als Wahrer von Freiheit und Demokratie gefeiert werden! Ein Offenbarungseid linker Parteipolitik.

Wenn die linke politische Satire meint, sie fände heutzutage jede Menge dankbares Material, zeigt dies nur die Grenze ihrer eigenen Auffassung. Eigentlich ist sie des Zerreißens des Schleiers überhoben, da dieser bereits weitläufig als solcher gewusst wird. Die bürgerliche Presse 'entlarvt' nicht nur den Konservatismus und Nationalismus der Regierung, ihren Populismus, sondern auch die Konturlosigkeit der bürgerlichen Opposition. Was bleibt ist Zynismus.

Die bürgerliche Opposition – so wird festgestellt – unterscheide sich nur in Nuancen von der rotgrünen Regierung (Habla 13.05.05). Das Handelsblatt porträtiert Kandidat Rüttgers als inhaltsleeres Nichts: ein Mann ohne Eigenschaften, „bis zur Unkenntlichkeit sympathisch“, mit zentralen „Wahlkampfslogan(s) von bestürzender Inhaltslosigkeit“ und konkreten Aussagen aus dem „Zettelkasten der Unverbindlichkeit“ (HaBla 20.05.05). Rüttgers gelte als Gegner eines „kalten, unsozialen Neoliberalismus und Turbokapitalismus“, jemand, der sich im Wahljahr 2000 noch als „Sprecher der Herz-Jesu-Gemeinde“ präsentiert und sich als „Treuhänder des kleinen Mannes verkauft“ habe. Heute zählt Friedrich Merz zu seinen Beratern, und Rüttgers, der „immer alles und das Gegenteil zugleich“ sei, inszeniert die Arbeitsteilung zwischen Turbokapitalismus-Merz und Sozial-Laumann. Gelegentlich wird beklagt, wenn sich auch bei den Konservativen eine antiliberale Grundstimmung finden lässt (HaBla 19.04.05).

Der politische Kommentar hat es schwer, wenn die Absurdität und Widersprüchlichkeit der politischen Eliten offen zur Schau stehen. Münteferings wahltaktisches Manöver wird überall als ein solches erkannt – ein Kommentar von links scheint in gewisser Hinsicht überflüssig. Der politische Kommentar, der es sich zur Aufgabe macht aufzuzeigen, welchen Interessen Politik folgt, muss sich mühen, Bedeutung zu erlangen. Im Lichte brutalstmöglicher Öffentlichkeit wird nur noch die Frage gestellt, wie konsequent sich Politik – gerade auch jene, die mit einem erweiterten Allgemeinwohl argumentiert – in die Logik der Herrschaft einfüge.

Das Elend gegenwärtiger sozialdemokratischer Opposition ist: Der Neoliberalismus wirkt offenbar nur, wenn er pur verabreicht wird. Abgewählt wird ein halbherziger Neoliberalismus, der keine Ergebnisse zeigt und zugleich auch keine andere Orientierung eröffnet. Erinnert sei an ein altes Kanzlerwort: Wer Visionen hat, solle zum Arzt gehen. Das Weltbild „Marktwirtschaft“ ist breit akzeptiert. Vor diesem Hintergrund wird endlich Wirkung gesucht, nicht Schonung.

Deutschland braucht keine teuren Arbeiter mehr. Braucht Deutschland überhaupt noch welche? Wir sind am Markt eben anders aufgestellt! Unsere Volkswirtschaft soll des allgemeinen nationalen Wohlstands willen am internationalen Markt billigst zu habende Arbeit teuer entlohnen? Warum? Es lebe der Internationalismus! Parolen von gestern wie die von der sozialen und ökologischen Verantwortung, die einzuhalten sei, wirken hilflos. Ausbeutung – das ist es, was uns voranbringt! Wer sagt, dass Kapitalismus allen Spaß machen soll! Akkumuliert! Das ist Moses und die Propheten! Was nützt der Jammer über historische Notwendigkeit?

Literatur:

Rainer Brüderle „Rückfall in den Klassenkampf“, in: HaBla 14.04.05

Karl Doemens: SPD will wieder mehr Staat machen, in: HaBla 14.04.05

Thomas Hanke: Spalten statt versöhnen, in: HaBla 19.04.05

Karl Doemens, Max Steinbeis: SPD-Linke fordert von Müntefering nun Taten, in: HaBla 19.04.05

Roland Tichy: Demokratie braucht freie Märkte, in: HaBla 22.04.05

Münteferings Kapitalismus-Kritik entzweit Wirtschaft und SPD, in: HaBla 25.04.05

Thomas Sigmund, Max Steinbeis: Schartau distanziert sich vom Aktionismus in seiner Partei, in: HaBla 28.04.05

Bernd Ziesemer: Vergessener Amtseid, in: HaBla 28.04.05

Karl Doemens: Münte macht mobil, in: HaBla 29.04.05

Christoph Keese: Münteferings zerstörerisches Werk, in: WamS 01.05.05

Ingolf Seidel: Müntefering, Metall und Co.: Völkischer Antikapitalismus von Links, in: hagalil.com 09-05-2005

Bernd Ziesemer: Antikapitalismus und Antisemitismus, in: HaBla 13.05.05

Michael Hüther: Die Chance der Kapitalismuskritik, in: Habla 13.05.05

Rüdiger Scheidges: Der Politiker ohne Eigenschaften, in: HaBla 20.05.05

Karl Marx: Das Kapital, MEW 23, S. 621

Anmerkung

* Zuerst erschienen in „express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit“ Nr. 5/2005, S. 4.Zurück zur Textstelle

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