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Hundert Wege des Kommunismus

Thomas Gehrig

Er stößt die Mächtigen vom Thron
und erhebt die Niedrigen.
Die Hungrigen füllt er mit Gütern
und lässt die Reichen leer ausgehen.
(Lk. 1,53)

Kaum war in der Zeitschrift express eine Artikelserie zur Debatte um die „Commons“ angelaufen, als sich um einen Begriff, der auch im Titel dieser Artikelserie adjektivisch gebraucht wurde, eine öffentliche Aufregung entwickelte, die diesen Begriff bis auf die Titelseiten der Tagespresse katapultierte. Es handelt sich um einen Begriff, der im Politischen aus guten Gründen gemieden wird, wie vom Teufel das Weihwasser: Kommunismus.1

Insofern die Verwendung dieses Begriffes mehr denn je der Reflexivität, Differenzierung und Explikation bedarf, ist er im politischen Tagesgeschäft nicht zu gebrauchen. Als nun Gesine Lötzsch vom Führungspersonal der Partei »Die Linke« das böse Wort doch verwendete, war Gelegenheit zu öffentlicher Aufregung gegeben. Diese ist jedoch, wie sich zeigt, an Mattigkeit und Durchsichtigkeit kaum zu überbieten.

In der FAZ beispielsweise kritisiert Stefan Dietrich, dass der Begriff Kommunismus verwendet werde, ohne darauf hinzuweisen, was sich mit dieser Tradition verbinde und dass »unter Berufung auf Luxemburg und Liebknecht ganze Völker unterjocht« worden seien. Dietrich unterstellt mechanisch, dass eine solche Berufung gerechtfertigt sei. Er betreibt die altbekannte ideologische Gleichmacherei. Alles, was sich jemals auf Kommunismus (oder Sozialismus) berufen hat, wird zusammengeworfen.2 Dann kommen Pol Pot neben Marx, Feuerbach neben Befreiungstheologen, Stalin neben Luxemburg, Honecker neben Pasolini oder eben Mao neben Lötzsch zu stehen. Solche Gleichmacherei ist angesichts der allseits bekannten Tatsache einer äußerst heterogenen und inflationären Verwendung des Begriffs Kommunismus dumm oder verdummend – in jedem Fall verwerflich. Nur wenige Kenntnisse würden dazu benötigt zu bemerken, dass sich die unterschiedlichsten politischen Richtungen und Fraktionen des Begriffs Kommunismus bedienten, dass beispielsweise Theoretiker wie Karl Marx zu den schärfsten Kritikern bestimmter Formen des Kommunismus gehörten, dass Rosa Luxemburg, in deren Tradition sich Lötzsch offensichtlich verortet, ein äußerst kritisches Verhältnis zu jener Fraktion der Sozialdemokratie hatte, aus der die Protagonisten des geschichtsmächtigen Staatssozialismus (lies: Staatskapitalismus) hervorgingen. Wenn Dietrich schreibt, dass das Eintreten für die Freiheit der Andersdenkenden bei Luxemburg nur für »kommunistische Abweichler« gegolten habe, so ist das Geschichtsfälschung. In dem Text, dem diese Passage entnommen ist, setzt sich Luxemburg für demokratische Freiheitsrechte ein und – ist es vielleicht dies, was die ideologischen Abwehrmechanismen derart provoziert? – für politische Formen, die weitaus demokratischer sind als die des gegenwärtigen Parlamentarismus.

Dass Kommunismus wie Nationalsozialismus sei, ist auch die letzte Weisheit von Reinhard Müller, der auf der Titelseite der FAZ kommentieren darf. Müller spricht dort interessanter Weise von der Finanzkrise als einer Krise, »die sogar Konservative sagen ließ, Marx habe recht gehabt«. Und er behauptet kühn, »das heutige Deutschland« komme »einer klassenlosen Gesellschaft schon sehr nahe«. Findet er das nun gut oder schlecht? Mit seiner Quintessenz, dass da, »wo niemand mehr hungern muss«, das »Gespenst des Kommunismus [!] selbst den ›Verdammten dieser Erde‹ nur noch Angst mache[]«, gibt er sich als Vertreter jener Verelendungstheorie zu erkennen, die auch zum Repertoire eines rohen Kommunismus gehört. Schön wenigstens, dass er die Existenz von ›Verdammten dieser Erde‹ in der gegenwärtigen, besten Gesellschaft aller Gesellschaften zugesteht.

Auf Spiegel online wird Jan Fleischhauer losgelassen. Auch hier üblicher Durchschnittsantikommunismus: »Klassenwahn« endet in »Rassenwahn« (was würde er zu Müllers ›fast‹ klassenlosem Deutschland sagen?), Kommunismus ist wie Nationalsozialismus, Kommunismus ist Kuba, Kambodscha, die chinesische Kulturrevolution, Stalin und die Mauer, und »die marxistische Idee« führt in der Wirklichkeit zu Umerziehungslagern. »Gier und Egoismus« auszumerzen – für Fleischhauer offensichtlich die Quintessenz des Kommunismus – setze auf »die Verbesserung des Menschengeschlechts« (übrigens ein Schlachtruf der Aufklärung). Da sich der Mensch jedoch nicht von selbst bessere, müsse »man von Staats wegen nachhelfen«, was zum Terror führe. Was sagt uns dies über Fleischhauers Menschen- und Politikverständnis? Hegel hatte bereits herausgefunden, dass der Terror das notwendige Ende ist, allerdings nicht des Kommunismus, sondern des losgelassenen bürgerlichen Selbstbewusstseins (siehe Französische Revolution).

Nach Fleischhauer gehen »auf das Konto des praktischen Marxismus« 90 Millionen Tote, die »Umsetzung der marxistischen Theorie« führe zu Verbrechen. Auf den Wegen zum Kommunismus seien, so Dietrich, »jedes Mal Tausende von Toten« zurückgeblieben.

Lassen wir die Differenzierung des Kommunismus – so notwendig sie ist – an dieser Stelle ruhen: Das Faktum der Toten ist eines, das, ist die Definition nur weit genug gewählt, ›den Kommunismus‹ trifft, wie alle historischen Bewegungen, die an der Veränderung oder Verteidigung der gesellschaftlichen Verhältnisse arbeiten. Nicht zuletzt deshalb muss es Aufgabe einer sich als kommunistisch bezeichnenden Bewegung – solange sie besteht – sein, sich mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen. Gerade auch daraus könnte sie Stärke gewinnen. Darüber hinaus ist es angesichts der Geschichtlichkeit der sozialen Bewegungen zur Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft grundsätzlich unangebracht, sich um den Begriff ›Kommunismus‹ herumzudrücken.

Vielleicht hat Müller Recht, dass im Namen des Kommunismus »keineswegs weniger Menschen hingemetzelt wurden als unter der Chiffre [!] ›Nationalsozialismus/Faschismus‹«. Sein Bindestrichungetüm lässt jedoch die Frage aufkommen, warum er nicht von ›Chiffren‹ im Plural redet. Der Satz könnte dann mit einer Aufzählung solcher ›Chiffren‹ auslaufen: ›Nationalsozialismus‹, ›Faschismus‹, ›Christentum‹, ›Freiheit‹, ›Menschenrechte‹, ›Nation‹ oder auch einfach ›Deutschland‹ (gerade, wo er doch in der »Zeitung für Deutschland« schreibt). Historisch hat sich gezeigt, dass im mordwütigen 20. Jahrhundert im Zusammenhang mit letzterer ›Chiffre‹ Menschen zu Tode gebracht wurden, deren Anzahl alles andere in den Schatten stellt.

Letztlich macht es wenig Sinn, Opfer zu relativieren oder aufzurechnen. Die Ursachen von Gewaltherrschaft dürfen nicht dadurch verdeckt werden, dass Gewaltherrschaft lediglich als Problem der Umsetzung einer speziellen Idee oder Theorie (Nationalsozialismus, Kommunismus) hingestellt wird. Niemandem fällt es ein zu fordern, Begriffe wie Deutschland, Christentum oder Kapitalismus immer und sogleich mit diversen Erklärungen und Differenzierungen zu umkränzen. Und jenseits der Gewalt autoritärer Herrschaftsformen haben auch soziale Kämpfe, nicht nur jene, die in irgend einer Weise mit der kommunistischen Bewegung verknüpft sind, Opfer gekostet und werden Opfer kosten. Diesen historischen Fragen ist nicht durch Schuldzuweisungen beizukommen – im Gegenteil.

Ziel der antikommunistischen Propaganda ist es, die Suche nach Alternativen zu diskreditieren. Sie ignoriert oder rechtfertigt damit die Opfer, die das herrschende System kostete und täglich kostet – von den ertrinkenden MigrantInnen über die kollateralen und nicht-kollateralen Schäden des sogenannten »nation-building« bis hin zu den gigantischen Leichenzügen der Verhungernden weltweit.

Der Begriff ›Kommunismus‹ allein war und ist sehr unspezifisch, er ist darüber hinaus historisch abgegriffen und zu oft missbraucht worden, um mit dem plakativen Wort alleine auskommen zu können. Es muss einer Bewegung, die die bürgerliche Gesellschaft in emanzipatorischer und selbstbestimmter Perspektive aufzuheben sucht, deshalb darum gehen, sich einen differenzierten Kommunismus-Begriff anzueignen und zu explizieren. Auch die oben angesprochene Auseinandersetzung mit den »Commons«-Vorstellungen will einen Beitrag dazu leisten.

Für Marx war Kommunismus nie ein Zustand. Solche Vorstellungen wurden von ihm unter Utopieverdacht gestellt und kritisiert. Die Mär davon, dass es einen kommunistischen Zustand – gar in Form eines Staates – im Sinne von Marx gegeben habe, dient durchsichtigen Zwecken oder ist staatssozialistische Ideologie. Kommunismus ist nichts als die Bewegung der Aufhebung der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse in emanzipatorischer Perspektive. (Diesen Kommunismus-Begriff müsste sich auch Frau Lötzsch erst noch erarbeiten.) Marx hat für den Kommunismus keinen Masterplan entwickelt, sondern im Wesentlichen negative Kriterien im Rahmen seiner Darstellung und Kritik des Kapitalismus.

Bereits 1842 thematisierte Lorenz von Stein das Gespenst des Kommunismus als angstbesetzte Chimäre der Herrschenden. Daran hat sich wenig geändert. Der Begriff Kommunismus wird mit seiner Geschichte auf alle Zeit Bürde der linken antikapitalistischen Bewegungen bleiben – er zwingt sie somit auch zur kritischen Reflexion, um das Marx’sche Kriterium zu erfüllen, dass in dieser Bewegung die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller sein muss.

Erschienen in: express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, Nr. 1/2011, www.express-afp.info

Literatur:

Stefan Dietrich: »Radikale Realpolitik«, FAZ, 5. Januar 2011

Stefan Dietrich: »Scheppern bei der Tonprobe«, FAZ, 8. Januar 2011

Jan Fleischhauer: »Utopie und Terror«, Spiegel online, 10. Januar 2011

Eike Hennig: »Nicht spätmarxistisch, sondern dumm«, FAZ, 12. Januar 2011

Reinhard Müller: »Wacht auf«, FAZ, 10. Januar 2011

Anmerkungen

  1. Der folgende Beitrag entstand im Zusammenhang mit dieser Artikelserie zur Debatte um die »Commons« (Gemeingüter), in der der Versuch einer historisch-kritischen Rekonstruktion des Commons-Begriffs unternommen wird. Diese Rekonstruktion ist, so der Untertitel der Artikelserie, als »kommunistische Rückeroberung« des Commons-Begriffs angelegt, bei der ›Commons‹ (›Gemeingüter‹) als ›Gütergemeinschaften‹ interpretiert wird. Solche ›Gütergemeinschaft‹ (›Communauté‹), die vor allem auch die gemeinsame Produktion und den gemeinsamen Besitz der Produktionsmittel einschließt, zählt zu den Kernbestandteilen der kommunistischen Idee.Zurück zur Textstelle
  2. Eike Hennig stellt im Zusammenhang mit der K-Wort-Debatte seinen Antikommunismus in einem ebenso ideologischen wie uninformierten Leserbrief zur Schau und bringt ausgerechnet Locke – den Nicht-Demokraten – gegen das kommunistische Manifest in Stellung, in dem es heißt, dass der »erste Schritt in der Arbeiterrevolution [...] die Erkämpfung der Demokratie ist«.Zurück zur Textstelle
© links-netz Februar 2011