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Die Partei, die Partei...

Alternativen zur Wahl statt Wahlalternativen

Thomas Gehrig

Es war einmal vor weit über hundert Jahren, da formulierte die radikale Linke in Gestalt von Herrn Karl Heinrich M. eine umfassende Kritik an der in Deutschland sich formierenden sozialdemokratischen Wahlalternative. Er kritisierte entnervt das Gothaer Programm der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands. Inhaltlich getroffen war damit die deutsche Sozialdemokratie. Hier sei nichts sozialistisch! Sie sei von der „parlamentarischen Krankheit“1 befallen. Ein „Untertanenglauben [...] an den Staat“2 verpeste ihr Programm.

Partei bezeichnete nicht mehr nur eine gemeinsame politische Orientierung. Die Partei war nun eine Institution im repräsentativ-parlamentarischen System und damit zugleich Wahlverein. Mit der Kritik an der Programmatik der Partei wird auch die Beschränktheit einer radikalen linken Politik in der Form von Parteipolitik deutlich.

Karl Korsch spießt in der von ihm herausgegebenen Ausgabe der ›Randglossen‹ ein sehr instruierendes Zitat von Bebel auf. Dieser schreibt in seinen Lebenserinnerungen über das Vereinigungsprogramm und die Kritik daran: „Was bei uns kluge Berechnung, geschickte Taktik war, das sahen sie [Marx und Engels] als Schwäche und unverantwortliche Nachgiebigkeit an, schließlich war doch die Tatsache der Einigung [mit den Lassalleanern] die Hauptsache.“3 Berechnung, Taktik und Tatsachen als Ausdruck der Orientierung auf die Wege der parlamentarischen Demokratie schieben leicht die Marxsche Kritik am Inhalt beiseite. Sie werden selbst zum Inhalt.

Die Arbeit im herrschenden politischen System ist immer nur die unter dem System. Die Spielregeln zu respektieren bedeutet, sie sich zu eigen machen. Der Rest ist Anpassung – an die Herrschenden oder an die herrschende Meinung. Letztere wesentlich zu beeinflussen, scheitert in Formen von Parteipolitik. Parteien sind Produkte einer Marktgesellschaft, sie sind wie Waren auf einem Markt. Parteien sind Mittel der Politik und nicht ihr Subjekt, wie viele es sich nur zu gerne einbilden.

Die Differenzen zwischen den Parteien, sind sie erst einmal an der Regierung, bleiben marginal. Johannes Agnoli sprach von der virtuellen Einheitspartei als Kennzeichen der repräsentativen Demokratie. Spezifische gesellschaftliche Interessen setzen sich durch, egal mit welchem Programm gestartet wurde. Dies gilt in Deutschland nicht nur für die Sozialdemokratie der Anfangsjahre, sondern auch für die Farce nach der Tragödie – die Grünen. Oder auch aktuell für die PDS, die ›Hartz‹ dort umsetzen muss, wo sie an der Regierung ist, und ansonsten in Opposition macht. Merke: Wenn du nicht an der Regierung bist, kannst du erst mal alles fordern – darin besteht das derzeitige ›Volksfronteinverständnis‹ zwischen CDU und PDS, über das sich unser Kanzler aufregt.

Der staatstragende und im Kern bürgerliche Charakter der Sozialdemokratie konnte sich weiterentwickeln. So weit, dass es 1914 für einen Weltkrieg ausreichte, und um nach der Katastrophe die Macht im Staate zu übernehmen und dabei das System beibehalten zu können (in Russland staatsautoritär modifiziert). Die Geschichte brachte die entsprechenden Spaltungen der Sozialdemokratie mit sich: in Deutschland USPD und später KPD. Die Spaltung war auch Ergebnis einer politischen Entwicklung, an deren Ende die Sozialdemokratie politisch und moralisch für eine radikale Linke diskreditiert war. Die beiden neuen Parteien konnten aber nur für einen Augenblick eine eigenständige Wahlalternative darstellen.

Es bleibt kurzsichtig, die Sozialdemokratie über ohnehin vage Vorstellungen von Gerechtigkeit zu bestimmen und nicht über ihre Rolle im bürgerlichen System. Sie soll Integrationskraft gegenüber linker Systemkritik sein. Sicher eine Rolle, in der sie hin und wieder versagt und damit Wahlalternativen produziert, die dann ihrerseits versuchen diese Aufgabe zu erfüllen.

Im Sinne einer undogmatischen Linken argumentiert Johannes Agnoli in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts gegen linke Parteipolitik und ihre parlamentarisch-demokratischen Illusionen. Dies auch angesichts der in den 1970er Jahren sprießenden Wahlalternativen. Für Agnoli gilt: „Das theoretisch-revolutionäre Erkenntnisinteresse (Kritik der Politik) muss dem materiellen Interesse (›Politik als Beruf‹) den Platz räumen.“4 Die Verkehrung in der parlamentarischen Demokratie (und in der Funktion des Politikers) besteht darin, dass nicht mehr die Interessen des Volkes, sondern Interessen gegenüber dem Volk vertreten werden. Die Rhetorik des Sachzwangs – das Kokettieren mit der institutionellen Ohnmacht – und die Politik alternativer Parteien, ihre Autonomie gegenüber dem Wahlvolk, gehen Hand in Hand.

Noch während der Schmidt’schen Kanzlerschaft wurde breit über eine neue USPD nachgedacht. Die 1982 neugegründete DS (Demokratische Sozialisten) um die Bundestagsabgeordneten Coppik und Hansen kam allerdings nie auf die Beine.5

Kurz zuvor (1980) brach bereits das parteipolitische Grün aus den Zweigen. Die Alternativen schritten zur Wahl. Die politischen Kaderorganisationen der Linken, die den Grünen zu ihrem Parteiapparat verhalfen, konnten die begehrten Posten inhaltlich nur für ein kurzes Zwischenspiel füllen. Der rechte Rand gab auf, und die Alternativen transformierten sich zu Parteipolitikern erster Güte.

Wolf-Dieter Narr und Klaus Vack formulierten 1980 ihre Einschätzung linker Politik als Parteipolitik so: „Wenn wir unseren Erfolgsmaßstab von den Herrschenden übernehmen, dann sind wir nicht aus einem linken Grenzbezirk in die Gesellschaft ›eingebrochen‹, vielmehr sind wir ein gefährliches Stück weit in der bestehenden Gesellschaft aufgegangen. Wir hätten dann wie der alte Krösus ein Land ›erobert‹ und gar nicht bemerkt, daß es unser eigenes gewesen ist, das erobert wurde, das wir also verloren haben.“6

Joachim Hirsch argumentierte anlässlich der grünen Hoffnungen ähnlich skeptisch: Er kritisiert die Linke, die auf die Wirksamkeit politischer Parteien jenseits eines Staatsreformismus setzt, als staatszentriert. Eingebunden in die herrschenden politischen Formen gehe es um die Herstellung der Bedingungen zur Kapitalverwertung.7

Die Wende von 1989 schenkte uns Deutschen (jeweils) eine zweite sozialdemokratische Partei. Wie sich bald herausstellte, konnte die östliche nicht nur deshalb überleben, weil die autoritären Cordhütchen-Sozialisten auf ihre alten Tage nichts anderes mehr wählen wollten, sondern auch, weil die westliche sich etwas übersozialdemokratisiert hatte. Fürs Vaterland und dass dessen kapitalistisches System auch ordentlich funktioniere, dass alle bei der Stange bleiben mit sozialpolitischer Fürsorge, Arbeitnehmersparen und Verdammung jeglichen ›linken Radikalismus‹. Sie hatte alle Wahrheiten der bürgerlichen Welt eingesehen und vertrat daraufhin den Neoliberalismus des kleinen Mannes, ohne ihn auch nur kaschieren zu wollen. Im intellektuellen Sumpf der SPD hält die Suche nach einer neuen Ideologie weiterhin an (jüngst glossiert von Heinz Steinert im links-netz) einer Ideologie, die sie als Volkspartei unterscheidet von anderen Volksparteien, die Integrations- und Anschlussfähigkeit einerseits und Differenz und Unterscheidbarkeit andererseits zugleich gewährleisten muss, die es auch möglich macht, Notwendigkeiten „dem Volk“ zu „kommunizieren“ – ein modernes Image für die Marke SPD eben.

Zu was will die jetzige Alternative eine Alternative sein? Sie bleibt eine innerhalb des Systems, unter den alten Mechanismen des Systems, mit den alten Rezepten und mit der alten Naivität und ohne den reflektierten Ballast von über hundert Jahren linker Wahlalternativen und ihrer Kritik. Vielleicht mit dem möllemannisierten Lafontaine an der Spitze? Nicht ernsthaft!

Positiv denken

Denken wir strategisch: Welchen Nutzen bringt eine neue Partei? Bringt sie Unruhe in das Lager der neoliberalen Sozialdemokratie, zwingt sie sie zu Reformen an den Reformen? Schwächt sie die Sozialdemokratie und bringt sie damit dem Untergang näher? Bei allem Wohlwollen für eine linke Kritik an der neoliberalen Sozialdemokratie, für all dies fehlt Entscheidendes: War es in der Gründungszeit der Grünen vielleicht Einigen noch eine Überlegung wert, ob die Bewegung sich einen parlamentarischen Arm verschaffen solle – heute fehlt die Bewegung zur Partei. Und all das, was sich heute anschickt, sich zu bewegen, wird erstickt werden im Formalismus der Partei. Die Heterogenität der Anschauungen im Protest gegen die gegenwärtige Sozialpolitik wird unter die leicht zu biegenden allgemeinen Frontsätze der Einigung unter dem Primat der Organisation gebracht. Dies galt bereits für die Grünen. Ist eine linke Bewegung so stark, dass sie sich nicht mehr durchs Parlament kompromittieren ließe, braucht sie kein Parlament mehr. Partei bedeutet für eine linke Bewegung Eingliederung und Ruhigstellung, Beruhigung in der parlamentarischen Illusion. Niemandem sollen Erfahrungen verboten werden, aber es wurden auch schon einige gemacht. Diesen zum Trotz hält sich die parlamentarische Illusion jedoch so hartnäckig wie die des Sozialstaats.

Taktisch gedacht, wird die Wahlalternative der anderen Sozialdemokratie den entscheidenden Prozentpunkt zum Einzug ins Hohe Haus abnehmen.

Nachspiel

Warum also eine neue Partei? Joachim Bischoff bringt es auf den Punkt: „Eine Wahlalternative muss insoweit eine Partei bilden, als das Wahlgesetz vorschreibt, dass zur Bundestagswahl nur Parteien antreten können.“8 Genial! Er bedauert an der bisherigen Politik, dass „wir“ durch Steuersenkungswettbewerb „nicht zu einem höheren qualitativen Wachstum“ kommen. Aber WIR brauchen doch Wachstum! Gnädigerweise stellt Bischoff fest: „Grundsätzliche Kritik des Kapitalismus und Diskussionen über Möglichkeiten seiner Überwindung haben ihren Platz in diesen Wahlalternativen“ und fügt sogleich die Widerrufung an: „sollen aber nicht die gemeinsame politische Arbeit dominieren“. Was will uns der Autor damit sagen?

Bodo Zeuner macht deutlich, warum er Pole besetzen will: „Letztlich geht es bei dem Projekt um die Verteidigung von Politik“ – und nicht etwa um ihre Kritik. Der Feind ist ausgemacht (die Finanzmärkte und Geldvermögensbesitzer), und zugleich ist damit auch klar, dass sich die neue Partei eben auch als Wahlalternative zu rechtsradikalen Parteien präsentiert, um „soziale Unzufriedenheit in rationalere Bahnen lenken“ zu können.9 Klassenantagonismus bei Zeuner ist: „Die Differenz zwischen den auf Solidarität und gerechte politische Gestaltung angewiesenen Bürgerinnen und Bürgern und denen, die als Privatleute ihr Eigentum mehren und ihre wirtschaftliche Macht nutzen können.“

Bürgersolidarität und diffuse Gerechtigkeit gegen Bürger – und nichts anders meint Privatleute – und deren Recht auf Freiheit, Gleichheit, Eigentum. Letztlich denkt Zeuner nichts anderes als die mittelalterliche Gegenüberstellung von Arm und Reich.

Anmerkungen

  1. Marx-Engels-Werke, Bd. 19, Berlin 1978, S. 157Zurück zur Textstelle
  2. MEW 19, S. 31Zurück zur Textstelle
  3. K. Korsch, Gesamtausgabe, Bd. 3, Amsterdam 1993, S. 135Zurück zur Textstelle
  4. J. Agnoli: „Die Transformation der Demokratie und andere Schriften zur Kritik der Politik“, Freiburg 1990, S. 187Zurück zur Textstelle
  5. Nach einem Treffen im März 1982 in Recklinghausen kam es im November desselben Jahres in Münster zur Gründung der DS. Das Misstrauensvotum gegen Schmidt im Oktober 1982 beendete die sozialdemokratische Regierungsphase. Die DS trat bei den hessischen Landtagswahlen im September 1983 an und erreichte 0,1 Prozent. Neben der DS gab es bei den Sozialdemokraten noch die „Unabhängigen Sozialdemokraten“ (USPD), die vergeblich versuchten, sich links von der SPD zu etablieren.Zurück zur Textstelle
  6. W.-D. Narr / K. Vack: „Form und Inhalt der Politik“, in: Links, Nr. 122/49Zurück zur Textstelle
  7. J. Hirsch: „Kapitalismus ohne Alternative“, Hamburg 1990Zurück zur Textstelle
  8. J. Bischoff: „Die Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit will einen radikalen Politikwechsel“, Kommentar auf der Sozialismus-Website vom 9. August 2004Zurück zur Textstelle
  9. B. Zeuner: „Der linke Pol muss wieder besetzt werden“, in: Frankfurter Rundschau, 23. Juli 2004Zurück zur Textstelle
© links-netz November 2004