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Schwerpunktthema: Sozialpolitik als Infrastruktur

 

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Es ist die Forderung, daß allen ihre Existenz gesichert sei

Notizen zur Sozialpolitik als Infrastruktur

Thomas Gehrig

Fast täglich wechseln die Verlautbarungen über die gefühlten Erwartungen der Konjunktur. Die deutsche Wirtschaft stagniert – ein Katastrophenszenario. Der Massenarbeitslosigkeit wird von der Politik mit der Disziplinierung der Arbeitslosen begegnet. Böswillige könnten einen Plan dahinter wittern, den Staat zunächst mittels Überschuldung als handlungsunfähig darzustellen, um sogleich die Entschuldung durch Umverteilung und Repression anzuempfehlen. Alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens kommen so unter das neoliberale, das kapitalistische Funktionsparadigma.

Der Zustand der gegenwärtigen Politik ist gekennzeichnet durch das Fehlen jeglicher sozialdemokratischer Reformperspektive sowie deren politischer Vertretung.1 Mit sozialdemokratischer Reform ist eine Politik gemeint, die darauf abzielt, die unteren Gesellschaftsklassen in den bürgerlichen Staat zu integrieren. Erst die Sozialdemokratie hat die ArbeiterInnenklasse aus der Exterritorialität befreit und sie zu einem Teil der bürgerlichen Gesellschaft gemacht. Heute ist die Position für eine soziale, nicht-repressive Integration der ArbeiterInnenklasse in den bürgerlichen Staat nur noch marginal. BedenkenträgerInnen gegenüber der Weiterführung der neoliberalen Offensive finden sich nur noch vereinzelt, dafür jedoch auch in der konservativen (CDU/CSU) wie der liberalen Partei (Grüne). Wenn der gegenwärtige Kanzlerdarsteller die Mitglieder des linken Flügels seiner Partei angesichts ihrer Bedenken vor drohendem Machtverlust warnt, klingt dies realitätsvergessen. Die parlamentarische Linke verfügt und verfügte nie über Macht, derer sie verlustig gehen könnte! Nicht verschleiert, sondern offen ausgesprochen wird hier in einer theatralischen Geste, dass zur Zeit de facto eine große Koalition, ein breiter bürgerlicher Block regiert, dem alle Fraktionen des Bundestages angehören. Eine faktische Einheitspartei im Agnolischen Sinne. Kritiker dieser Linie werden offen denunziert und sollen mit Mandatsverlust bestraft werden. Demokratische Spielregeln haben eben eine andere Funktion.

Die Politik dieses Blocks ist vor allem offen national. Es wird die Leitfrage vorangestellt, wie ‚wir’ in Deutschland unser Stück vom globalen Kuchen weiterhin abbekommen oder es gar vergrößern können.

Die demokratische Öffentlichkeit zeichnet das passende Bild des Zustands. Klassenspezifische Individualisierung der Verantwortlichkeit bleibt die vorherrschende Antwort auf alle sozio-ökonomischen Probleme. Schuld am Zustand sind nicht unfähige Fachkräfte in den Führungsetagen der Wirtschaft, die falschen Signale eines marktwirtschaftlichen Systems (gerade am Beispiel des Gesundheitssystems), die machtzentrierte Kurzsichtigkeit der politischen Akteure. Es geht nicht um KapitalbesitzerInnen, die nicht bereit sind, ihr Kapital auch mal für eine geringere Profitrate zu investieren, sondern um die Lohnabhängigen, die nicht bereit sind, Billiglöhne, Arbeitsverlängerung etc. umstandslos zu akzeptieren. Wir lernen den Dolchstoß der Gewerkschaften zu fürchten oder den demographischen Faktor als tragisches Schicksal der vermehrungsunwilligen Volksdeutschen. Umverteilungsforderungen im Sinne einer Umverteilung von oben nach unten oder die sozial kaschierte Pfründepolitik der Gewerkschaften wirken in der Öffentlichkeit direkt als gemeiner und interessierter Verrat.

Dieses Bild der Situation bleibt bis weit hinein in die Linke ganz oder teilweise akzeptiert. Es wird die ideologische Formel wiederholt, ‚der Gesellschaft’ gehe ‚die Arbeit’ aus, und diese den politischen Handlungsanleitungen zum Grunde gelegt. Das so genannte neoliberale Denken haben fast alle politischen Gruppierungen verinnerlicht.

Kern der seit Jahren geplanten und begonnenen sozialpolitischen Reformen ist eine Politik der Lohnsenkung, der Umverteilung nach oben, der gesellschaftspolitischen Entsolidarisierung bis in die harmlosesten Bereiche der Gesundheitsversicherung. Das ratrace ist überall eröffnet. In den Bereichen Gesundheit, Rente, ‚Besitzstandswahrung’ in Zeiten ohne Lohnarbeit etc. wird mit der Grundsicherungsideologie die Spaltung der Gesellschaft vorangetrieben.

Die Wahlbevölkerung selbst optiert inzwischen mehrheitlich für jene Parteien, die die sozialpolitischen Reformen auch, jedoch noch strikter unter dem Umverteilungsaspekt (nach oben) durchsetzen wollen. Kritisiert wird eher das ungeordnete Auftreten der derzeitigen Regierung. In einer gesellschaftspolitischen Situation, in der selbst sozialdemokratische Reformperspektiven fehlen, immer und überall die Systemfrage zu stellen, kann durchaus als „einigermaßen müßig“ (Hirsch) erscheinen, wenn dies auch meiner Ansicht nach grundsätzlich nicht unbedingt unfruchtbar sein muss. Zur Frage steht: Wie kann sich eine linke Opposition unter diesen Bedingungen positionieren?

Mit dem Entwurf einer Sozialpolitik als Infrastruktur wird die verschüttete Idee sozialdemokratischer Reformen wieder aufgenommen und in gewisser Weise zugespitzt. Als solche könnte sie ein Stachel im Fleisch der gegenwärtigen sozialpolitischen Diskussion werden. Es lässt sich eine menschlichere, sozialere Gesellschaft denken – ohne Systemwechsel (gemeint ist hier der des Gesellschaftssystems). Ein reformiertes Sozialsystem figuriert als deren Instrument. Entgegen der neoliberalen Tendenz wird hier auf den allgemeinheitlichen, staatlichen Aufgabencharakter sozialpolitischer Veranstaltungen verwiesen, auf ihren Infrastrukturcharakter. Die Idee einer egalitären und wirksamen Grundsicherung, wie sie z.T. bereits in den Existenzgeldforderungen formuliert wurde, wird dabei auf den Bereich der sozialen Sicherungssysteme ausgedehnt.2 Allen soll voraussetzungslos der Zugang zum Gesundheitssystem offen stehen, ebenso sollen alle ausreichend im Fall von Alter, Erwerbslosigkeit etc. finanziell abgesichert sein. Insofern hat soziale Infrastruktur auch (entgegen der Formulierung im links-netz Papier) in jedem Fall Umverteilungsprozesse zur Folge. In einer reichen Gesellschaft scheint es zunehmend absurd, erst durch Teilnahme an den verschiedensten diskriminierenden Veranstaltungen an bescheidene Mitteln zur Bedürfnisbefriedigung gelangen zu können - wenn es denn überhaupt gelingt. Dies thematisiert die Infrastrukturleistung Sozialpolitik: Es ist „ein Vorschlag, Sozialpolitik von anderen Grund-Voraussetzungen her zu denken“ (AG links-netz). Bisweilen erinnert so die bisherige administrativ reglementierte Fürsorge-Sozialpolitik an die Museumseinnahmen, die die Kosten für den Verkauf der Tickets nicht decken.

Gefordert wird „die umfassende Teilhabe an der Gestaltung der Gesellschaft“, die über jene im Sozialhilferecht verbürgte hinausgeht. Es geht dabei um „ein vernünftiges gesellschaftliches Leben für alle“.

Letztlich wird hier die bürgerliche Gesellschaft selbst an ihr Allgemeinheitsversprechen erinnert. Insofern wird dabei gerade am widersprüchlichen Charakter bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften angesetzt, der bürgerlichen Gesellschaft ihre Ideale entgegengehalten. Es wird auf der Grundlage der Überzeugung formuliert, dass die Gesellschaft und ihre Organisationen den Menschen zu dienen haben, dass sie Zweck sein müssen – nicht ein (zeitweise überflüssiges) Mittel.

Diese Intervention in die Sozialstaatsdebatte wird vor dem Hintergrund formuliert, dass die Beschränktheit und der herrschaftliche Charakter von Sozialpolitik längst dargelegt und kritisiert wurde. Der Sozialstaat ist letztlich „Mittel, gesellschaftliche Kämpfe still zu stellen und politische Selbstorganisation zu verhindern“. Insofern ist Sozialpolitik in ihrer bisherigen Erscheinungsform auch nicht gescheitert, sondern sie gilt als schlicht nicht mehr notwendig.

Im Bewusstsein dieser Einsichten müssen die Grenzen einer solchen reformerischen Intervention bedacht werden:

Es muss geklärt werden: Warum wird hier eine konkrete Reformperspektive eröffnet, obwohl gerade in den Analysen des Gegenwartszustandes immer wieder betont wird, dass staatliche Reformpolitik immer und systematisch an der Lösung struktureller Probleme des Kapitalismus gescheitert ist. Mit ihr wurde die Sozialpolitik gerade als einer radikalen Überwindung der Zustände entgegengesetzt begriffen und als Sozialstaatsillusion gekennzeichnet.

Wird die Idee einer sozialen Infrastruktur statt zur kritischen Provokation zur realen Petition an den Staat oder gar zur Basis einer „andere[n] Vergesellschaftung“, diskreditiert sie sich.

Ausgegangen wird davon, dass wir in einer Gesellschaft leben, die ausreichende Mittel zur Verfügung hat, Gesundheit, Altersversorgung, Sicherung des Lebensunterhalts auch außerhalb von Lohnarbeitsverhältnissen zu sichern. Diese Mittel werden aber durch eine immer noch kapitalistisch funktionierende Ökonomie bereitgestellt.

Lohnarbeitsformen verschwinden, werden destruiert – dies zu beklagen bedeutet nicht unbedingt, sogleich dem sozialistischen Arbeitsfetisch zu verfallen. Die Zeiten von ‚Die Arbeit hoch’ sollten überwunden sein.3

Es ist jedoch genauer zu betrachten, was da ‚verschwindet’. Arbeitsbeziehungen werden unter dem Diktat kapitalistischer Verwertungsbedingungen umgeformt. Sie wandeln sich teilweise in neue Formen – zum Teil in Formen, die schon seit den Frühzeiten des Kapitalismus bekannt sind (Verlagsarbeit). Das, was verschwindet, ist das ‚fordistische’, vertraglich geregelte und dauerhafte Verhältnis der Lohnarbeit. Prekarisierung und Flexibilisierung sind die Stichworte.4 Die Zahl der auch immer wieder kurzfristig Arbeitslosen bleibt auf hohem Niveau, in bestimmten Bereichen bietet es sich an, fordistische Lohnarbeitsverhältnisse in freie Arbeitsverhältnisse (von den Freiberuflern über die formal Selbständigen bis hin zur Ich-AG) zu transformieren. Frauen können dabei zwischen prekärer Arbeit und Herd wechseln, sie werden erst in ein paar Jahren wieder verstärkt nachgefragt werden wegen des erwarteten völkischen Engpasses.

An diese fordistischen Lohnarbeitsformen war auch das soziale Sicherungssystem Westdeutschlands gekoppelt, es wurde durch diese finanziert. Insofern sind hier ökonomischer Umbruch und staatliche Krise miteinander verbunden. Dass in einer Gesellschaft, in der die Lohnarbeitsverhältnisse die Finanzierungsbasis der Sozialsysteme bilden, gleichzeitig jedoch die Menschen aus diesen Lohnarbeitsverhältnissen gedrängt werden und diese Lohnarbeitsverhältnisse selbst marginalisiert werden, das System von der Finanzierungsseite her Probleme bekommen muss, ist klar. Dass die Sozialversicherungssysteme strukturelle Probleme haben, ist bereits vor Jahren nachgewiesen worden.5 Auch die Mittel zu ihrer Beseitigung (im reformerischen Rahmen) stehen seit langem bereit. In diesen Zusammenhang fällt auch die Grundsicherungsideologie.

Das fordistische Lohnarbeitsverhältnis war – daran ist zu erinnern – ein durch die ArbeiterInnenbewegung erst erkämpfter sozialer Fortschritt.6

Jenseits dieser Umwandlungsprozesse bleibt die kapitalistisch funktionierende Ökonomie die Finanzierungsbasis jeglicher Sozialpolitik. Insofern ergibt sich der Widerspruch, dass eine auch nur menschenwürdige Sozialpolitik die Grundlagen der kapitalistischen Ökonomie angreifen und somit ihre eigene Basis auflösen würde. Damit ist aber noch kein Sprung in eine andere Art vor Vergesellschaftung gemacht.

Dieses als Ambivalenz betitelte Dilemma hat bereits die Existenzgeldkampagne mitgeschleppt. Und auch eine infrastrukturelle Grundsicherung, bei der „jede Person dazuverdienen oder sonst erwerben kann, was sie will“, kann nur kontrafaktisch formuliert werden. Die Reform frisst die Mittel, die zur Umsetzung gebraucht würden. Merkliche Reformen im Sinne einer Umverteilung von oben nach unten benötigen Mittel, die gerade in der Krise nicht vorhanden sind, die Akkumulation lahmt, und es muss nun wohlfeile Arbeitskraft in ihr Feuer geworfen werden, auf dass sie nicht verlösche.

Ist die Idee des Grundeinkommens zunächst auf den Bereich der Sozialversicherungssysteme erweitert, müsste in einer weiteren Zuspitzung auch darüber hinausgegangen werden: es müsste sich dann auch auf die Bereiche Wohnen und Nahrung erstrecken! Ausreichender Wohnraum müsste zur Verfügung stehen genauso wie unvergiftete Nahrungsmittel.

Die Forderung nach einer solchen Sozialpolitik als Infrastruktur ist die Forderung nach dem guten Leben. Kaum etwas kann sympathischer sein! Sie kann ihr kritisches Potential jedoch nur dann entfalten, wenn sie sich ihrer Grenzen bewusst ist, wenn sie weiß, dass sie – dieser dürftigen Zeit entsprechend – zuweilen nur eine ketzerische Frage ist und nicht die Fahrkarte zur Revolution. Wenn es um Reform geht, folgt oft das Dilemma. Eine Reform eine Utopie zu nennen bedeutet lediglich, das eine für das andere auszugeben. Eine ausbuchstabierte Utopie ist Utopismus – sie verliert ihren letzten kritischen Gehalt. Linke Politik sollte mehr sein.

Anmerkungen

  1. Von Reformen wie Arbeitszeitverkürzungen scheinen noch nicht einmal die Betroffenen selbst überzeugt. Gesetzlicher Mindestlohn ist kein Thema. Weitergehende soziale Standards in internationalem Rahmen festzulegen, ist bis heute schon im Ansatz gescheitert – nicht zuletzt, weil es für die gewerkschaftlichen Organisationen nicht so dringlich ist wie Standortsicherung.Zurück zur Textstelle
  2. Letztlich müsste diese Infrastruktur als verrechtlichte gedacht werden. Siehe dazu die Debatte um soziale (Grund)Rechte (express, Widersprüche, auch ak).Zurück zur Textstelle
  3. In der Tat richtet oft die „Produktion im Lohnarbeits-Modus [...] mehr Schaden als Nutzen an“ – das trifft jedoch auch auf andere Arbeitsformen unter kapitalistischen Verhältnissen zu!Zurück zur Textstelle
  4. Auch Schwarzarbeit, die Arbeit der ‚Illegalen’ ist rechtlich ungesichertere Arbeit.Zurück zur Textstelle
  5. Barbara Riedmüller/Thomas Olk (Hg.) (1994): Grenzen des Sozialversicherungsstaates, Opladen, Leviathan Sonderband 14; Wolfgang Müller/Christel Neusüß (1970): Die Sozialstaatsillusion und der Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital, in: Sozialistische Politik Nr. 6/7, Juni 1970. Zudem sollte festgehalten werden, dass das sog. Gesundheitssystem jenseits seiner Zugänglichkeit und Finanzierung kein besonders humanes ist.Zurück zur Textstelle
  6. Siehe dazu: Robert Castel (1995): Die Metamorphosen der sozialen Frage, Konstanz 2000. Auch hier – wie bei fast allen sozialen Reformen – gelten solche Fortschritte nur für bestimmte Gruppen, in der Regel treffen sie die männlichen Facharbeiter.Zurück zur Textstelle
© links-netz Oktober 2003