Home Archiv Links Intern Editorial Impressum
 
 
Neue Texte
 

Schwerpunkte

Sozialpolitik als Infrastruktur
Ende der Demokratie?
 

Rubriken

Deutsche Zustände
Neoliberalismus und Protest
Bildung
Krieg und Frieden
Biomacht und Gesundheit
Kulturindustrie
Theorie: Empire, Kommunismus und andere Angebote
Rezensionen
 
 

Anzeige

Neoliberalismus und Protest Übersicht

 

  Nur Text    rtf-Datei    pdf-Datei 

Ein Gespenst im Vatikan

Thomas Gehrig

Papst Franziskus hat sich in einer „flammende[n] Programmschrift (SZ 16.12.2013) oder, wie es heißt, „Regierungserklärung“ (Drobinski SZ 26.11.2013) zu sozialen Themen recht deutlich geäußert. Unser – gemeint sind alle katholischen Brüder und Schwestern im Geiste – Papst „macht ernst“ (FR 27.11.2013) und seinem Namenspatron alle Ehre. Die Armutsorientierung des Bettelorden-Gründers Franz von Assisi feiert Auferstehung am hl. Stuhl. „Revolution im Vatikan“! (SZ 27.11.2013). Unser Wirtschaftssystem empfinde der Papst als „in der Wurzel ungerecht“! Unter der den Papst zitierenden Überschrift „Diese Wirtschaft tötet“ wird festgestellt, dass dieser „eine Art Brandrede, in der er das Wirtschafts- und Finanzsystem grundlegend infrage stellt“ (FR 27.11.2013) verfasst habe. „Geradezu linksradikal [...] erscheint des Papstes Kapitalismus- und Reichtumskritik“ (SZ 27.11.2013). „Der Mann ist nicht liberal“ (Drobinski SZ 26.11.2013).

Irgendwie nicht, denn der Papst warnt vor dem, was der Liberalismus auf seine Fahnen geschrieben hat. Er will auf die „blinden Kräfte und die unsichtbare Hand des Marktes“ nicht mehr vertrauen (hier und im Folgenden: Evangelii Gaudium). Er fordert eine Sozialpolitik, die mehr sein soll „als das bloße Sozialhilfesystem“, es soll „würdevolle Arbeit sowie Zugang zum Bildungs- und zum Gesundheitswesen“ für alle geben. Er wendet sich gegen soziale Ungleichheit, die strukturellen Ursachen der Ungleichverteilung der Einkünfte und deren „Ideologien [...], die die absolute Autonomie der Märkte und die Finanzspekulation verteidigen“. Er will Probleme von der Wurzel her lösen, und die Wurzeln liegen für ihn in dieser Ökonomie. Er redet von der „Dichotomie zwischen Wirtschaft und Gemeinwohl“, wo die anderen das eine mit dem anderen identifizieren. Er geißelt jene Ökonomie, die nach den „Kriterien der Konkurrenzfähigkeit und nach dem Gesetz des Stärkeren“ abläuft, „wo der Mächtigere den Schwächeren zunichte macht“. Letzteres gehört zum Wesen des Erfolgs kapitalistischer Ökonomie ebenso wie die daraus resultierende Ungleichheit. „Ebenso wie das Gebot ‘du sollst nicht töten’ eine deutliche Grenze setzt, um den Wert des menschlichen Lebens zu sichern, müssen wir heute ein ‘Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung und der Disparität der Einkommen’ sagen. Diese Wirtschaft tötet.“ Der Papst redet von den „Ausgeschlossenen“ die nicht nur „‘Ausgebeutete’, sondern Müll“ seien. Er denkt, dieses Phänomen sei neu, es ist aber das bekannte Problem der überflüssigen Bevölkerung und so alt wie der Kapitalismus selbst.

Ist das noch unsere Herrschaftsreligion, werden sich jetzt alle „Sklaven einer individualistischen, gleichgültigen und egoistischen Mentalität“ (Evangelii Gaudium) und deren Lohnschreiber fragen.

Laut der biblischen Erzählung des Neuen Testaments spricht deren Protagonist an vielen Stellen sehr eindeutig gegen den Reichtum. Reichtum ist dort eine Art Ausschlusskriterium für die Glaubensgemeinschaft. „Niemand kann zwei Herren dienen: entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird dem einen anhangen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“ (Mt 6,24). Harte Worte! Auch sei an die Stelle mit dem Kamel und dem Nadelöhr erinnert (Lk 18,25), in der das Himmelreich selbst Ausschließung produziert: eben die der Reichen. Recht eindeutige Stellen, genau bedacht. Da aber die Konsequenzen für das Herrschaftssystem nicht tragbar sind, beginnt eine erfolgreiche Geschichte der Textauslegung – bis heute.

In der neuesten Botschaft kommt sie wieder hervor, die andere, die gemeine Seite des Christentums. Für die aufgescheuchten liberalen WelterklärerInnen bedeutet dies, sich mal wieder im Zurechtrücken zu üben. Mehrere bemühen sich um genau das. Zunächst wird der Angriff des Stellvertreters Gottes eingestanden und darauf verwiesen, dass das Christentum eben auch jene unliebsame Tradition aufweist. Sie reicht von den urchristlichen Gemeinden, in denen die Jesusgeschichte erfunden wurde, über Kirchenväter wie Johannes Chrysostomus bis hin zu den Sozialenzykliken unserer Tage. „Zum Unglück hat sich mit der Industrie ein System verbunden, das Profit als den eigentlichen Motor des gesellschaftlichen Fortschritts betrachtet, den Wettbewerb als das oberste Gesetz der Wirtschaft, Eigentum an den Produktionsgütern als absolutes Recht, ohne Schranken, ohne entsprechende Verpflichtung der Gesellschaft gegenüber” (Papst Paul VI, Enzyklika 1967).

Papst Franziskus greift auf diese Tradition zurück. Er vertrete dabei jedoch, so Reiner Hank, „einen besonders grobschlächtigen Antikapitalismus“ (hier und im Folgenden Hank FAS 01.12. 2013) – und hier fangen die Distanzierungen an. Der Papst scheint ihm von der „spätmarxistischen ‚Theologie der Befreiung’„ angesteckt. Er redet offenbar einer „Umwälzung der Wirtschaft in Richtung einer sozialistischen Gesellschaft der Gleichen“ das Wort und pflegt das „antikapitalistische Ressentiment“.

Leider konnte offenbar noch kein Endsieg errungen werden gegen jene „große Verführungskraft“, die die alte „Utopie eines christlichen Kommunismus“ ausübe. In seiner Panik gehen Hank die historischen Gäule durch, und er meint, dass „das Christentum“ immer schon ein äußerst distanziertes Verhältnis zum privaten Eigentum“ gehabt habe und Reichtum „verabscheute“. Dies jedoch war bis heute in der Geschichte des Christentums weitgehend Ideologie – Armuts-Ideologie, Herrschaftsinstrument und nur in wenigen Ausnahmefällen ernst gemeinte Opposition. Opposition gerade auch gegen eine Kirche als Institution der Macht. Die Bewegung der Bettelorden führte ins gesellschaftliche Abseits oder auf die christlichen Scheiterhaufen. Und auch die so genannte Theologie der Befreiung, die Hank selbst für gescheitert hält, ist nicht gerade hegemonial in christlichen Kirchen.

Papst Franziskus lasse „keinen Zweifel“ (Hank 2013) daran, dass jene Konstrukte, die, wie der Papst es ausdrücke, „die absolute Autonomie der Märkte und die Finanzspekulation verteidigen“, „Ideologien“ (Evangelii Gaudium) seien, die er verabscheue. Er halte jene Theorien „für irrig“ (Hank 2013), „die davon ausgehen, dass jedes vom freien Markt begünstigte Wirtschaftswachstum von sich aus eine größere Gleichheit und soziale Einbindung in der Welt hervorruft“ (Evangelii Gaudium). Genau jene Perspektive ist aber die der liberalen VerteidigerInnen des Kapitalismus.

Der Papst sei „wahrlich“ kein „Verteidiger des Privateigentums“ (Hank 2013). Nein, denn er sieht im Eigentum Diebstahl und zitiert Johannes Chrysostomus (um 350-407): „Die eigenen Güter nicht mit den Armen zu teilen bedeutet, diese zu bestehlen. Die Güter, die wir besitzen, gehören nicht uns, sondern ihnen“ (Evangelii Gaudium).

Zum Hoffnungsträger einer Religion der Vernünftigen werden dagegen für Hank die Pfingstgemeinden. In ihnen würden „harter Fleiß und die Fähigkeit zu sozialem Aufstieg religiös prämiert und nicht befreiungstheologisch diskreditiert“ (Hank 2013) – warum nicht gleich Scientology, könnte man Hank fragen. Der Papst dagegen nehme nicht zur Kenntnis, dass sich in Lateinamerika „im Gefolge marktwirtschaftlicher Reformen Armut und Ungleichheit verringert haben“. Heute hungerten in der Welt eine Milliarde Menschen weniger als vor zwanzig Jahren. „Verantwortlich dafür sind die Wachstumserfolge einer kapitalistischen Wirtschaft“ (Hank 2013). Das übliche Teller-Gewäsch an den Tafeln der immer schon Aufgestiegenen. Als leuchtendes Vorbild des Kapitalismus wird an dieser Stelle Deng Xiaoping gelobt.

Auch Jörg Bremer hält in der FAS fest, dass der neue Papst eben aus Lateinamerika kommt, kommt aber zu einem etwas anderen Schluss als sein Kollege, denn dort sei „Soziale Marktwirtschaft ein Fremdwort“ geblieben. Gerade deshalb halte dieser „das Wirtschaftssystem des Westens pauschal für ‘in der Wurzel ungerecht’„ (Bremer FAS 01.12.2013).

Hank schließt resümierend, der Papst habe „den Armen“ wie Mutter Teresa „nur Barmherzigkeit und Almosen anzubieten“, wo er ihm eben noch Umverteilung, Sozialismus und Kommunismus vorgeworfen hat. Was er eigentlich sagen will, ist sein persönlicher Glaubensartikel: [d]ass es zur Überwindung der Armut Marktwirtschaft und Kapitalismus braucht“, und dies „kann dieser Papst“ – in seiner spätmarxistischen Verblendung – „nicht sehen“ (Hank 2013). Im Gegenteil, er durchschaut diese Ideologeme und verwirft die „‘Überlauf’-Theorien (trickle-down Theorie), die davon ausgehen, dass jedes vom freien Markt begünstigte Wirtschaftswachstum von sich aus [...] soziale Einbindung [...] hervorzurufen vermag“ (Evangelii Gaudium). Diese Ansicht sei, wie der Papst feststellt, nie durch Fakten bestätigt worden.

Ein Einschub zur alltäglichen liberalen ‘Armutsbekämpfung’: Mit der Ironie der Oberen wird in derselben FAS hinterfragt, ob Deutschland wirklich das „Land der sieben Millionen armen Schlucker“ ist (wie es der Datenreport 2013 nahelegt), und gefragt, ob Deutschland nun Care-Pakete brauche (Petersdorf 2013). Beklagt wird die statistische Berechnung, das Konzept der relativen Armut. Dabei komme nicht zum Ausdruck, dass Menschen in relativer Armut gut leben könnten, dass es allen ja immer besser gehe, wenn die Wirtschaft voranschreite. „Man arbeitet mit einem politisch deformierten Armutsbegriff“ (Petersdorf 2013). Nur zur Klärung: Als armutsgefährdet gilt, wer weniger als 60 Prozent des Median-Einkommens zur Verfügung hat. Das sind 2011 in Deutschland 980 Euro.

Wer steckt nun hinter diesen Taschenspielertricks? Antwort: Der Sozialstaat! „Denn solange Armut statistisch dargestellt werden kann, gibt es eine Legitimation für den Ausbau des Sozialstaats“ (Petersdorf 2013). Die Befunde könnten positiver dargestellt werden: „Die gleiche Tatsache würde sich zumindest [sic!] ganz anders lesen, wenn man der staunenden Welt verkündete: In Deutschland müssen knapp drei Viertel der Armen nicht auf regelmäßige Fleischmahlzeiten verzichten“ (Petersdorf 2013). 40 Prozent können sich einen Urlaub, 70 Prozent ein Auto und 85 Prozent einen Computer leisten. „Und nur drei Prozent der Leute sagen, sie kommen mit ihren monatlichen Einkünften nicht aus“ (Petersdorf 2013) – das sagen sie jedoch nach Erhalt der Sozialtransfers, die hier in Frage gestellt werden sollen.

Die Armutsberechnung basiert – und das ist durchaus sinnvoll – auf der Erfassung relativer Armut und beschreibt damit soziale Ungleichheit. Intention von AutorInnen wie Petersdorf ist es, diese Ungleichheit als akzeptabel erscheinen zu lassen vor dem Hintergrund, dass die als armutsgefährdet eingestuften 6,7 Mio. Menschen eben nicht oder nur zu einem sehr kleinen Teil am Hungertuch nagen. Was wollt ihr, selbst die Unteren können Auto fahren, Computer spielen etc.

Zurück zu Hank. Kardinal Reinhard Marx widerspricht Hank in der darauffolgenden FAS explizit: „Nein, die Kirche verachtet die Reichen nicht“ (hier und im Folgenden: Marx 2013). Die Kritik am Papst laufe hinaus auf den „Vorwurf, die Kirche verstehe [...] den Kapitalismus nicht, der doch letztlich die Welt besser gemacht habe“. Kardinal Marx dagegen sieht das anscheinend nicht so und verteidigt den Appell des Papstes, „über den Kapitalismus hinauszudenken“. Die mit dem Kapitalismus einhergehende Armut sei nicht nur „karitativ, sondern strukturell zu bekämpfen“. Der Kardinal erinnert Hank daran, dass es der heutige „Finanzkapitalismus“ war, der in eine „katastrophale Krise“ geführt (und somit auch getötet) habe. „Der Kapitalismus“, so Kardinal Marx, „darf nicht zum Gesellschaftsmodell werden“. Er wendet sich gegen die „Auswüchse primitiven Kapitalismus“ und die fortschreitende „Ökonomisierung“ der Welt, die nichts anderes bedeute, als „den Rhythmus der Gesellschaft von den Verwertungsinteressen des Kapitals abhängig zu machen“. Der Kapitalismus werde „zum globalen und ganzheitlichen Maßstab“. Kapitalismus werde „wie ein urwüchsiges Geschehen betrachtet“ – also als alternativlos angesehen. Fortschritt als „Evolution dieses Kapitalismus“ aufzufassen sei Ideologie, ebenso wie „die Vorstellung, es gäbe [...] reine Märkte, die das Gute in einem freien Wettbewerb hervorbringen würden“. „Nicht der Kapitalismus ist die Zukunft“.

Soweit, so antikapitalistisch. Doch jetzt folgt bei Marx das bekannte Spiel ‘böser Kapitalismus – gute Marktwirtschaft’: Der Begriff Kapitalismus führe „in die irre wie alle ‚-ismen’, die vorgeben, das ganze Leben von einem bestimmten Punkt aus definieren zu können“ – wie etwa Katholizismus, Protestantismus, Konservatismus, Liberalismus? Aber, „Kapitalismus und Marktwirtschaft sind nicht dasselbe“. Die Kritik des Papstes habe nichts mit einer „Ablehnung der Marktwirtschaft“ zu tun, diese sei „notwendig“ und „vernünftig“. Worin liegt jedoch der Unterschied? Im sozialdemokratischen Staat, der nach moralischen Kriterien lenkt, während Gott denkt? Damit können die strukturellen Ursachen für Armut, Ausbeutung und Ausgrenzung, die in der kapitalistischen Produktionsweise wurzeln, jedoch prinzipiell nicht beseitigt werden.

Ein wachsweiches Glaubensbekenntnis, das in seiner vordergründigen Nachbeterei hauptsächlich bestrebt ist, Wasser in den Wein der päpstlichen Botschaft zu schütten, liefert Heribert Prantl in der SZ („Kapitalismus tötet?“, 07.12.2013). Auch er spielt das abgegriffene Spiel ‘böser Kapitalismus gegen gute Soziale Marktwirtschaft’: „Franziskus meint nicht die Soziale Marktwirtschaft, er meint den radikalen Kapitalismus“. Nur der tötet – vielleicht. Die Botschaft des Papstes sei nur „Mahnung“. Klar, „der Kapitalismus ist nicht per se gut“, er hat „Schwächen“, sogar „strukturelle Schwächen“. Den „Radikalkapitalismus“ kann Prantl eine „primitive Glaubenslehre“ nennen. Er ermahnt angesichts der Auswüchse und kann so das Ganze retten. Fraglich bleibt auch hier, was ‘strukturell’ bedeutet. Sind strukturelle Schwächen durch vernünftige Politik und Reformen in den Griff zu bekommen? Ist die Soziale Marktwirtschaft ein strukturell veränderter Kapitalismus, und welches System haben wir zurzeit? Für den Papst geht es in seiner Kritik um die „Wurzel“ des Systems. Was das bedeuten würde, das will sich der Bürger nicht ausmalen.

Der SZ-Wirtschaftschef Marc Beise weist dagegen die Kritik von Papst Franziskus an der absoluten Autonomie der Märkte zurück. Wohltuend ehrlich!

Die Redaktion der Frankfurter Allgemeinen hat sich sicherlich gefragt: Was können wir angesichts eines solchen apostolischen Schreibens für unsere Leserinnen und Leser tun, damit ihnen ihr Seelenheil nicht schwerer auf den Magen schlägt als etwa Gans und Börsenkurse? Für jene Leserinnen und Leser also, die in der Vorweihnachtszeit ausgerechnet die Sonntagsausgabe – vor oder nach dem Kirchgang – glattgebügelt auf den Frühstückstisch bekommen... Zu diesem Zweck lässt sie Papst Franziskus und Londons konservativen Bürgermeister Boris Johnson in einem fiktiven Gespräch gegeneinander antreten.

„Ebenso wie das Gebot „Du sollst nicht töten“ eine deutliche Grenze setzt, um den Wert des menschlichen Lebens zu sichern, müssen wir heute ein „Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung und der Disparität der Einkommen“ sagen“ (Evangelii Gaudium). Dieser Einlassung des Papstes wird Johnsons Realitätssinn entgegengestellt: „Ding Dong! Marx is dead! Ding Dong! Communism’s dead!“ (Johnson). Ungleichheit ist notwendig, und der Markt, unser Herr, hat sie gemacht, in Ewigkeit Amen. Der Mensch ist eben kein Weltverbesserer, der Mensch ist ein egoistischer Drecksack (ein Nutzenmaximierer, ein homo oeconomicus) – und das kombiniert hervorragend mit unserem Wirtschaftssystem. „Ich glaube nicht, dass ökonomische Gleichheit möglich ist, ein Maß an Ungleichheit ist unabdingbar für den Geist des Neides, der, wie die Gier, ein wertvoller Ansporn ist für ökonomische Aktivität“ (Johnson).

Und wenn alle nach ihrer inneren Gier agieren, dann macht allein die natürliche Erstausstattung den Unterschied – die einen haben eben bessere Gene, die sie fit machen für das Surviveltraining im Kapitalismus, das andere Leben nennen. „Was auch immer Sie von IQ-Tests halten – in einer Diskussion über Gleichheit ist es relevant, dass 16 Prozent unserer Spezies einen IQ unter 85 haben, während zwei Prozent einen über 130 haben“ (Johnson). Am Ende empfiehlt Johnson den ZuhörerInnen seiner Margaret Thatcher Lectures die „Mentalität der stolzen Piraten“, „für die es keine Schande war, reich zu sein, sondern genau das Gegenteil“ (Johnson). Und die Schwachen gehen über die Planke!

Nicht nur für das Christentum, sondern auch für das Bürgertum bleibt das Dilemma bestehen, den Kapitalismus nicht grundsätzlich in Frage zu stellen und zugleich auf seine systembedingten unmenschlichen gesellschaftlichen Folgen reagieren zu wollen, das sie mit der sozialen Reform lediglich bemänteln. ChristInnen haben dafür ein Wort: Scheinheiligkeit. Die Widersprüche dieser Gesellschaft kann man damit leider nicht auflösen.

Werden wir nun gewahr, dass die katholische Kirche von einer Horde Antikapitalisten durchsetzt ist? Ruhe bewahren: Der Papst ist Gott sei Dank kein Kommunist. Er transportiert die notwendigen Ambivalenzen einer Herrschaftsideologie in modernem Gewand, vielleicht mit einer stärkeren Betonung des Sozialen angesichts des offensichtlichen Erfolgs der neoliberalen Konkurrenzreligion, was Reaktionen beim Bürgertum hervorruft. Für den Papst ist eben nicht nur die „Tätigkeit eines Unternehmers [...] eine edle Arbeit“ (Evangelii Gaudium). Er bleibt bei der moralischen Empörung über das Verhältnis von Arm und Reich, hat kein Verständnis von kapitalistischer Ausbeutung. Und wenn er denn politisch gelesen würde, wäre die Frage, was aus der Wurzel-Kritik folgt und was von ihr bleibt – außer politischen Reformen. In dieser Hinsicht gäbe es durchaus noch die ein oder andere Differenz selbst zu den politischen Statthaltern auf Erden, vom Kommunismus ganz zu schweigen:

Die Emanzipation der Frau etwa war für andere Maßstab gesellschaftlicher Emanzipation. Andere Programmschriften begreifen, dass mit der herrschenden Gesellschaft deren Ketten bleiben, wenn sie auch golden sind und ihre Spannung lockerer wird. Selbstbestimmung ist in solcher Perspektive wesentliche Orientierung. Religion dagegen – auch da, wo sich ihre Vertreter, wie der Papst, gegen den ‘Fetisch Geld’ wenden – bleibt selbst in fetischisiertem Bewusstsein befangen. Religion ist Ausdruck der Unfreiheit. Die Kritik der Religion ist der Anfang aller Kritik. Im Anschluss an die Marx’sche Theorie geht es darum nicht um eine Theologie der Befreiung, sondern um die Befreiung von der Theologie.

„Die Ideologie des Marxismus ist falsch“, betont Franziskus in einem Gespräch mit der italienischen Zeitung La Stampa (SZ 16.12.2013). Zu Recht! Der Marxismus, dort, wo er zur Ideologie wird, hat keinen Wahrheitsanspruch einzulösen, ebensowenig wie die Theologie und die Ökonomie des Kapitals. Die Marx’sche Theorie ist dagegen vor allem Kritik und orientiert auf Selbstbefreiung. „Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (Marx 1844: 385).

Nachtrag

In der Abteilung „Geld & Mehr“ der FAS vom vierten Advent darf Thomas Mayer noch seinen berufslebenserfahrungsgeschwängerten Senf zur Debatte dazugeben. Er findet, dass Benedikt XVI. „wirklich gute Bücher“ schreibt und dass er Franziskus gern als väterlichen Ratgeber hätte – vielleicht in Fragen der Empfängnisverhütung? Und auch ihm gilt der Kapitalismus als beste aller Welten: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem hat in den vergangenen dreißig Jahren Milliarden Menschen aus der Armut geholt, in die sie das sozialistische System gebracht hatte.“ Wovon redet er? Wo finden wir die zahllosen Beispiele dafür, dass ein sozialistischer (resp. staatskapitalistischer) Staat Menschen arm gemacht hat?

Die Regulierungsliebe des Papstes teilt Mayer selbstverständlich nicht, denn „woher will man dann wissen, dass neue Regulierungen die Sache besser machen würden? Das Phänomen der Gier ist schließlich so alt wie die Menschheit selbst“. Meint er die genetische Gier nach Erfolg, gemessen in der Währung des herrschenden Systems? Er kommt einer Selbsterkenntnis recht nahe, wenn er seine Kirchensteuerzahlungen mit modernem Ablasshandel assoziiert. Sie dienen heute nicht dem Einzug in den Himmel, soviel müsste ihm als Protestant klar sein, sondern dem gesellschaftlichen Ausweis von Anpassung und Affirmation. Ernsthafte Auseinandersetzung mit dem, was Glaubensinhalt einer christlichen Religion sein könnte, ist dafür vollkommen irrelevant. Seht Eure Gier an, sie ist dazu gemacht, dass der Kapitalismus funktioniere.

Literatur

Bremer, Jörg: Buenos Aires 2014 und Assisi 1200, in: FAS 01.12.2013

Der Kapitalismus, Wurzel des Bösen?, in: FAS 01.12.2013

Drobinski, Matthias: Reformvorschläge von Papst Franziskus. Nett, bescheiden, radikal. In: SZ 26.11.2013

Dobrinski, Matthias: Revolution im Vatikan. In: SZ 27.11.2013

Evangelii Gaudium, siehe: www.vatican.va

Hank, Rainer: Die Kirche verachtet die Reichen. In: FAS 01.12.2013

Kerner, Regina: „Diese Wirtschaft tötet“. In: FR 27.11.2013

Papst verteidigt sich gegen Marxismus-Vorwürfe. In: SZ 16.12.2013 www.sueddeutsche.de

Petersdorff, Winand von: Das Land der sieben Millionen armen Schlucker. In: FAS 01.12.2013

Prantl, Heribert: Kapitalismus tötet?. In: SZ 07.12.2013

Marx, Karl (1844): Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: MEW 1

Marx, Reinhard: Wider die Dämonen des Kapitalismus. In: FAS 15.12.2013

Mayer, Thomas: Kirche und Kapital. In: FAS 22.12.2013

Eine Kurzfassung dieses Textes erschien im express 12-2013

© links-netz Dezember 2013