Home Archiv Links Intern Editorial Impressum
 
 
Neue Texte
 

Schwerpunkte

Sozialpolitik als Infrastruktur
Ende der Demokratie?
 

Rubriken

Deutsche Zustände
Neoliberalismus und Protest
Bildung
Krieg und Frieden
Biomacht und Gesundheit
Kulturindustrie
Theorie: Empire, Kommunismus und andere Angebote
Rezensionen
 
 

Anzeige

Deutsche Zustände Übersicht

 

  Text in eigenem Fenster anzeigen    rtf-Datei herunterladen 

„Keine Fundstellen für links im Dokument“

Die Wahlalternative: eine Neugründung zwischen Medienereignis und Gerücht

von Sebastian Gerhardt

Anmerkung der Redaktion: Nicht nur in unserer Redaktion wird das Thema „Gründung einer neuen links-Partei“ kontrovers diskutiert. Auch unter den Beteiligten selbst besteht keineswegs Einigkeit über Sinn und Unsinn einer linken parlamentarischen Opposition. Deshalb wollen wir eine Debatte zum Thema eröffnen und haben verschiedenen interne und externe Beobachter des Geschehens gebeten, die Sache aus ihrer Sicht zu beleuchten. Wie wird dort mit dem Problem „parlamentarische vs. außerparlamentarische Opposition/bzw. Politik“ überhaupt umgegangen? Wie über die Schwierigkeit diskutiert, sich durch die Institutionalisierung als Partei nicht für neoliberale Politik vereinnahmen zu lassen? Welche (unterschiedlichen?) Schlüsse werden aus dem „Weg der Grünen“ gezogen. Welche Konzessionen, Koalitionen, Bündnisse sind denkbar bzw. ausgeschlossen? Und nicht zuletzt, wie sieht die programmatische Planung über den Anspruch, Alternative zu sein, hinaus aus?

Den Anfang der Debatte macht Sebastian Gerhardt, Jahrgang 1968, im Herbst 1989 bei der „Initiative für eine Vereinigte Linke in der DDR“ – Böhlener Plattform. Studium der Mathematik und Philosophie. Heute im Haus der Demokratie und Menschenrechte, der Redaktion von „berlin von unten“ und neuerdings in der Wahlalternative.

14.9.04

Es gibt nicht nur viele Diskussionen über die Wahlalternative „Arbeit und soziale Gerechtigkeit“, es gibt auch viele Diskussionen in der Wahlalternative. Überall da, wo die illusorische Politik eines kontrollierten Wachstumsprozesses mit dem wie auch immer motivierten Engagement vor Ort zusammenstößt, entstehen Diskussionspapiere und Internet-Seiten, die ihre Version der Ereignisse dem interessierten Publikum darbieten. Es gibt auch Stellungnahmen und Analysen, von Beteiligten wie Beobachtern, in verschiedenen mehr oder minder linken Gazetten. Auch der Autor dieser Zeilen hat sich derart versucht (junge welt, 28. und 30.08.2004). Eine Diskussion der Wahlalternative, der Organisation selbst, gibt es jedoch nicht. Die breite Medienpräsenz täuscht nur oberflächlich darüber hinweg, dass der zur Zeit wichtigste linke Neuansatz politischer Organisierung keinerlei innere Strukturen und Medien zur Artikulation von Konflikten und Widersprüchen besitzt.* Selbst die Ideen „ihres“ Bundesvorstandes erfahren die Mitglieder für gewöhnlich aus der Presse. Wohl kann, wie jedes etwas kompliziertere System, selbstverständlich auch die Wahlalternative nicht ohne jede Form von Rückkopplung existieren. Aber diese Rückkopplung trägt einen eher zufälligen Charakter, wie er von Winnie-dem-Puh präzise beschrieben wurde: „Es kann sein, es kann aber auch nicht sein, bei Bienen kann man nie wissen.“

Womit früher jeder neue Verein selbstverständlich begann, die Gründung eines passenden Zentralorgans, ist nicht in Sicht. Einige Internetseiten, Foren und newsletter können den fehlenden Raum für Debatten nicht schaffen. Infolge dessen erweitert die moderne Technik von email und Netzzugang auch innerhalb der WASG nur die materiell-technische Basis einer alten Kommunikationsform: des Gerüchtes. Es kursieren Verschwörungstheorien aller Art. Sowohl als letztes Aufgebot einer sozialdemokratischen Apparatefraktion zur Rettung der SPD wie als Einfallstor orthodoxer Kommunisten zur Ausbeutung der bunten sozialen Bewegungen oder als Verlängerung gescheiterter Alternativ-Karrieren – keine mögliche oder unmögliche Interpretation der WASG, die nicht schon irgendwo allen Ernstes vertreten wurde.

Bezugspunkt der bisherigen Diskussionen und Organisierungsbemühungen sind die Vorstellungen der Initiatoren, wie sie sich in zwei programmatischen Papieren niedergeschlagen haben. Ihre Mischung aus guter „Interessenvertretung für die kleinen Leute“-Rhetorik, der Verzicht auf allzu anstrengende sozialistische Fernziele und die Aussicht auf viele wohlmeinende Mitstreiter aus Ost und West haben aber einen bunten Laden zusammengeführt. Der Konsens „solidarische Sozialstaatsverteidigung“ ist bestimmt genug, rechte Positionen auszuschließen. Zur politischen Bestimmung der nächsten praktischen Schritte tragen die Programmtexte jedoch nichts bei. Sie werden auch nicht dazu benutzt. Sie enthalten einen – mehr oder weniger detaillierten – Wunschzettel menschenfreundlicher Zustände. Sie enthalten aber keine Hinweise, wer mit wem, gegen wen und auf welche Weise diese Zustände herbeiführen soll. Die im Titel zitierte Meldung der Suchmaschine des Acrobat-Reader charakterisiert beide Texte erschöpfend: „Links? Was ist das?“ Da haben sich im Jahr 2004 einige Linke aufgemacht, aus dem Zerfall der ehemaligen reformistischen Parteien von SPD bis PDS, aus dem politischen Scheitern der Gewerkschaften wie der Globalisierungskritiker einen Ausweg zu suchen, und präsentieren sich dabei als Vertreter des kleinen Mannes, der schweigenden Mehrheit. Als Menschen, die alles Gute und Schöne wollen, nur „links“ wollen sie nicht geheißen werden. Ein Projekt von Linken – aber ja kein linkes Projekt. Ein absurder Widerspruch, der seine Lösungsform im höchst unterschiedlichen Aufbau des Vereins finden wird. Es entstehen heute regionale Gruppen mit sehr unterschiedlichem, ja gegensätzlichem politischen Profil – teils links von der PDS, teils weit rechts von ihr.

Sogar im Rahmen des verkehrstechnisch recht gut erschlossenen Einzugsbereiches des Landes Berlin gibt es nur wenige zusammenhängende Debatten. Eine praktisch geschlossene Mailingliste mit ca. 50 Usern ist der einzige Ort, an dem die meisten wichtigen Informationen innerhalb weniger Tage tatsächlich eintreffen, wo Positionen deutlich gemacht und Voraussetzungen für inhaltliche Diskussionen geschaffen werden. Alles, was darüber hinaus geht, obliegt der Privatinitiative von einzelnen. Die letzte öffentliche großberliner Versammlung von Interessenten für die Wahlalternative fand am 15. Juli statt – mit ca. 300 Teilnehmern. Offiziell soll es inzwischen etwa 300 eingeschriebene Mitglieder der Organisation geben. In 6 thematischen Arbeitsgruppen treffen sich linke und „alternative“ Aktivistinnen und Aktivisten, die in gleicher oder ähnlicher Besetzung schon länger zusammenarbeiten. Dagegen sind die meisten der 7 regionalen Gruppen geprägt von eher älteren arbeitslosen Männern mit überdurchschnittlichem Bildungsabschluss, die noch nie – oder seit langem nicht mehr – politisch aktiv waren, und aus ihrer Vereinzelung heraus mit einer gewissen Heilserwartung zur Wahlalternative stoßen. Die hier geäußerten Vorstellungen schöpfen den Verfassungsbogen fast lückenlos aus – bis zu den Rändern. An den Versammlungen alle 2 bis 3 Wochen nehmen je Gruppe zwischen 20 und 40 Menschen teil. Die Fluktuation ist hoch. Günstiger sieht es aus, wo der harte Kern von linken Kleingruppen geprägt wird, die einen gewissen modus vivendi gefunden haben. Eine Ausnahme bilden zudem die Gruppen mit einem hohen ostberliner Anteil. Hier ist eine klare Entscheidung gegen das Engagement in der PDS vorausgegangen – damit verbunden sind bisher ein vergleichsweise hoher politischer Anspruch an sich und andere, hohe Präsenz und ein mehrheitlich explizit linkes Selbstverständnis.

Die SPD-PDS-Koalition hatte schon seit Herbst 2001 eine Umgruppierung der politischen Landschaft erzwungen. Im Sommer 2003 setzte die Landesregierung mit dem sogenannten Solidarpakt ihren Sparkurs gegenüber den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes durch: Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich – Lafontaine lässt grüßen. Die Gewerkschaften wurden erfolgreich erpresst. Besonders drastisch traf es den Bildungsbereich, dem sogar Mehrarbeit bei Gehaltskürzung verordnet wurde. Parallel summieren sich die Streichungen bei Sozialleistungen (z.B. Sozialticket, Blindengeld). Die entstandene Verwirrung fasste der Vorsitzende der Berliner GEW in ein Bild: nach den Zeiten der Gegenüberstellung von „rot“ und „schwarz“ wären die abhängig Beschäftigten „am Ende der Farbenlehre“ angekommen. Keine politische Vertretung sei mehr in Sicht, bei der ihre Interessen gut aufgehoben sind. Aus dieser Situation entstanden eine Initiative zur vorfristigen Auflösung des Landesparlaments, getragen von der GdP, der Landesdelegiertenkonferenz der GEW und einem Teil des Berliner Sozialbündnisses, der gleichzeitig mit dem Gedankenmodell einer „Berliner Wahlalternative“ spielte. Das von diesen Gruppen begonnene Volksbegehren für Neuwahlen hat keinerlei realistische Chancen. Es bot aber in den Sommermonaten diesen Jahres eine Mobilisierungsstruktur, deren Aktivisten ein gewichtiges Wort bei der Formierung der Wahlalternative in Berlin mitsprechen wollten und über eine Anfangsmehrheit unter den Interessenten verfügten.

Das sehr selbstbewusste Auftreten dieser Gruppe musste den Gründerkreis der bundesweiten Wahlalternative um so mehr schockieren, als die linksalternative Bewegungspolitik und ihre Legitimation durch Aktivität mit einem seriösen Parteiaufbau nur schwer vereinbar schienen. Aber alle Vorsicht und offizielle Kritik kann nichts daran ändern, dass das Wunschmitglied der Wahlalternative in Berlin nur schwer zu finden ist: der treue und ehrliche sozialdemokratische Gewerkschafter ist in beiden Teilen der Doppelstadt nur als seltenes lebendes Fossil anzutreffen. Denn die Frontstadt Westberlin hatte immer eine etwas rechtere SPD als anderswo – soweit es hier linke Gewerkschafter gibt, haben sie zumeist keinen sozialdemokratischen, sondern einen eher „nichtrevisionistischen“ oder SEW-Hintergrund. Die politische (und kulturelle) Differenz war unvermeidlich, doch anstatt den politischen Konflikt politisch auszutragen, reagierte der Bundesvorstand bürokratisch. Er setzte dem unruhigen Berliner Landesverband einen disziplinierten und wohlmeinenden Landeskoordinator vor die Nase, dessen glückloses Agieren vorhersehbar war. Und obwohl die ursprünglichen Streitfragen sich erledigt haben, da keiner mehr an eine baldige Neuwahl in Berlin glaubt, lassen die gegenseitigen Verdächtigungen nur langsam nach. Kennzeichnend für die Situation ist die fraktionstypische Zuschreibung von politischen Positionen: die Befürworter des Volksbegehrens kritisieren die PDS scharf, also, folgern sie, kann es sich bei ihren Kritikern aus der bayrischen IG-Metall-Riege nur um böse Parteigänger eines prinzipienlosen Bündnisses mit den ostdeutschen Ex-Sozialisten handeln. Dass gerade die Initiative ASG um den Aufbau auch ostdeutscher Gruppen bemüht war – wenn auch ohne großen Erfolg – wird gar nicht wahrgenommen.

Die besondere Lage Berlins ergibt sich aus der Tatsache, dass die Stadt nur juristisch die Hauptstadt der ganzen Bundesrepublik, sozial und ökonomisch aber die Hauptstadt des Ostens ist. Seit dem 16. August gibt es auch in Berlin wöchentlich Demonstrationen, die selbst durch die stalinistischen Sektierer von der MLPD nicht kaputt zu kriegen sind. Damit ist Berlin die einzige Stadt, in der eine relevante Ausweitung der Montagsdemos über das Gebiet der DDR hinaus gelang. Wie in Leipzig ist die Organisation in Berlin weitgehend in den Händen von Menschen, die der Wahlalternative angehören oder ihr „nahe stehen“. Aber wie in Leipzig ergibt sich dies nicht aus der Stärke der neuen Organisation, sondern aus der politischen Herkunft ihrer Aktivisten. Jenseits einer verbalen Unterstützung hat die Wahlalternative keine Position zu den Montagsdemos, und kann sie deshalb auch nicht instrumentalisieren. Sie wüsste gar nicht, wofür. In Leipzig sorgen WASG- Mitglieder für den Auftritt von Lafontaine – in Berlin greifen WASG- Mitglieder auf den Demos die Landesregierung für eine Lafontainsche Politik scharf an. Man muss schon beim Netzwerk „Linksruck“ in die Schule gehen, um solche dialektischen Wendungen widerspruchslos nachvollziehen zu können.

Die beiden, für die Wahlalternative praktisch entscheidenden Fragen betreffen das Verhältnis zu den Gewerkschaften und das Verhältnis zur PDS. Zur Beantwortung dieser Fragen taugen die bisherigen Programmtexte nicht. Es wird eine Debatte der Wahlalternative noch geben müssen, je früher umso besser. Praktizierende Marxisten sollten dazu ihren Beitrag leisten. Nicht in der Art der Juso-Positionen der 70er Jahre, deren allgegenwärtiger Marxbezug sich auch ersatzlos streichen lässt und die heute – ohne dieses folkloristische Ornament – in den Papieren der Wahlalternative wiederkehren. Sondern in der Analyse der Verhältnisse, mit Vorschlägen, wie zu ihrer Veränderung verfahren werden kann.

Anmerkungen

  1. Um Missverständnissen vorzubeugen: der Superlativ „wichtigste“ ist an eine Relativierung geknüpft – „zur Zeit“. Sicher ist die Wahlalternative nicht die historisch notwendige Antwort auf die aktuelle Krise des Kapitalismus, wie es früher so schön hieß. Sie ist nicht ein Vorhaben, an dem nun alle braven Linken mittun müssen, wenn sie ihre historische Bestimmung nicht verfehlen wollen. Im Gegenteil. Weniges wäre gefährlicher, als die wenigen vorhandenen arbeitsfähigen Gruppen für diesen Versuch zu instrumentalisieren. Wer aber auf ein Projekt warten will, welches endlich, vom Weltgeist persönlich gesalbt, der geteilten Linken im vereinigten Deutschland eine politische Identität garantieren könnte, der wartet vergebens. Politisch ist ein Organisationsversuch wohl erst dann, wenn man nicht mehr alle Beteiligten persönlich kennt. Anders als die meisten Ansätze auf der Linken der letzten Jahre erfüllt die WASG diese Bedingung. The proof of the pudding ... (Nebenbei: man kann auch ohne Illusionen anfangen zu tun und zu machen.) Zurück zur Textstelle
© links-netz Oktober 2004