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Schwerpunktthema: Sozialpolitik als Infrastruktur

 

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Neoliberale Globalisierung und Transformation des Nationalstaats.

Rahmenbedingungen für den „Umbau des Sozialstaats“

Christoph Görg*

Was wir gegenwärtig in den meisten Industrieländern als Um- oder Abbau sozialstaatlicher Regelungen beobachten können, das wird im erheblichen Umfang mit Verweis auf die „Gesetze der Globalisierung“ und ihre Folgewirkungen gerechtfertigt. Allerdings ist keineswegs klar, inwieweit es sich dabei wirklich um einen von Außen induzierten Veränderungsdruck handelt, oder ob dieser Verweis nicht vielmehr eine rein ideologische Legitimationsfunktion hat – und inwiefern beides möglicherweise miteinander verbunden ist. Mit dieser Frage hängt eine andere eng zusammen, nämlich die nach dem Charakter des Umbaus: Haben wir es schlicht mit einem Abbau einmal erkämpfter sozialer Sicherungssysteme zu tun, die, aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen – eben der Globalisierung – und veränderter sozialer Kräfteverhältnisse nun zur Disposition gestellt werden? Oder werden einfach die repressiven und disziplinierenden Elemente, die in sozialstaatlichen Sicherungssystemen immer schon angelegt waren, angesichts steigender Massenarbeitslosigkeit und sozialen Desintegrationserscheinungen nun verstärkt zum Einsatz gebracht? Wobei der Verweis auf die Globalisierung eben rein legitimatorisch/ideologisch zu verstehen ist. Handelt es sich also tatsächlich um eine „Krise des Sozialstaats“, oder tritt nicht vielmehr seine Herrschaftsfunktion nur stärker in den Vordergrund?

Diese Frage hat ersichtlich sehr viel damit zu tun, wie die Auswirkungen der Globalisierung auf nationale Gesellschaften und Nationalstaaten eingeschätzt werden. Bekanntlich glaubt die Mehrzahl der professionellen BeobachterInnen schon seit Jahren eine schwindende Handlungsfähigkeit des Staats erkennen zu können. Der Kerngehalt dieser Botschaft ist klar: Wenn der Nationalstaat durch die Globalisierung geschwächt wurde, dann kann er einfach nicht mehr die sozialen Sicherungsleistungen wie zuvor erbringen. Raus aus dem Schneider, also. Wenn aber etwas so schön als Legitimationsfloskel zu gebrauchen ist, dann ist dies allemal ein Grund dafür, hier noch mal genauer nachzufragen. Schaut man sich aber den Zusammenhang zwischen einer neoliberal vorangetriebenen Globalisierung und der Veränderung der sozialen Sicherungssysteme etwas genauer an, dann wird schnell deutlich, dass hier mit sehr unterschiedlichen Prozessen zu rechnen ist. Wenigstens handelt es sich bei der Globalisierung um einen doppelten Rahmen für diesen Umbau. Ich möchte im Folgenden Prozesse der diskursiven Rahmung von institutionellen Transformationen unterscheiden. Beide Prozesse sind ohne Zweifel wichtig; und beide sind in Wirklichkeit auch eng miteinander verbunden. Aber sie erfordern doch sehr unterschiedliche Reaktionsweisen, will man ihnen politisch etwas entgegensetzen. Daher ist ihre Unterscheidung und die getrennte Untersuchung beider Prozesse politisch wichtig. Im letzten Schritt sollen dann aber die Verbindungen zwischen diskursiven Prozessen und institutionellem Umbau analysiert und auf die Ausgangsfrage „Um- oder Abbau“ zurück bezogen werden.

Globalisierung als Zwangsgesetz – der diskursive Rahmen

Globalisierung stellt einmal etwas dar, was SozialwissenschaftlerInnen einen „Masterframe“ nennen: einen diskursiven Rahmen, der allen politischen Debatten eine bestimmte Richtung gibt und sie mit einer bestimmten Bedeutung auflädt. Die wichtigsten Elemente dieses Rahmens lassen sich so beschrieben (vgl. auch Görg 2003):

  • Bei der Globalisierung handelt es sich um einen säkularen Bruch gesellschaftlicher Entwicklung, der „uns“ mit einer gänzlich neuen Situation und mit bislang unbekannten Herausforderungen konfrontiert. Ich kann an dieser Stelle nicht darauf eingehen, inwieweit diese Bedeutung tatsächlich angemessen ist. Immer wieder wurde darauf hingewiesen, dass das genaue Ausmaß und die historische Neuheit der Globalisierung durchaus strittig ist. Aber während diese Diskussionen noch bis Mitte der 1990er Jahre einen starken Raum eingenommen haben, sind sie in den letzten Jahren eindeutig rückläufig.
  • Auch wenn der Begriff der Globalisierung eigentlich nicht ausreicht, um die gesellschaftlichen Veränderungen tatsächlich zu verstehen, ist es andererseits auch nicht angemessen, sich dem Begriff der Globalisierung allein in ideologiekritischer Absicht zu nähern und seine Existenz zu bestreiten. Aber ein weiteres Element kann doch zumindest den ideologischen Gehalt dieser Figur deutlich machen. Denn der Übergang vollziehe sich mit quasi naturgesetzlicher Gewalt. Globalisierung, so wird suggeriert, sei ein alternativloser Vorgang, den man genauso wenig ablehnen oder gar bekämpfen kann wie das Aufgehen der Sonne oder den Einzug des Winters.
  • Mit dieser Alternativlosigkeit ist ein weiterer Bedeutungsgehalt eng verbunden: ein Veränderungsbedarf, dem sich niemand entziehen kann. Seinen deutlichsten Ausdruck findet dieses Element in der Konjunktur des Wortes „Reformstau“. Diese Konjunktur ist darüber hinaus ein Symptom für einen Bedeutungswandel des Begriffs „Reform“. Stand dieser Begriff – vor allem in reformistischen Flügeln der organisierten Arbeiterbewegung, aber auch in Teilen des Bürgertums – für den Glauben, man könne die Widersprüche kapitalistischer Vergesellschaftung und ihre strukturelle Krisenanfälligkeit immanent überwinden – also ohne das System selbst in Frage zu stellen –, dann ist davon heute keine Rede mehr. Reformen sind vielmehr selbst ein Moment der Unverfügbarkeit kapitalistischer Entwicklung geworden. Es geht gar nicht mehr darum, ob irgendeine der gegenwärtigen Widersprüche und aktuellen Krisentendenzen mit den Reformen tatsächlich überwunden oder auch nur abgeschwächt wird. Die meisten Protagonisten dürften sich völlig im Klaren sein, dass die sog. „Hartz-Reformen“ die Arbeitslosigkeit nicht senken, sondern erhöhen. Um von den Steuersenkungen und der Krise der Staatsfinanzen erst gar nicht zu reden. Trotzdem scheint ihre Unvermeidlichkeit nicht bestritten werden zu können. Der „Reformstau“ wird zum „Reformstress“. Reformen dienen also nicht mehr der „Zähmung“ oder gar „Zivilisierung“ des Kapitalismus (und ich würde die Behauptung wagen, dass den meisten SPD- oder Gewerkschaftsmitgliedern die hochgesteckten evolutionären Erwartungen eines Bernstein noch nicht einmal mehr bekannt sind, geschweige, dass sie ihnen mehr als nur ein müdes Lächeln entlocken würden). Reformen sind gerade an der Produktion der Krisentendenzen aktiv beteiligt.
  • Der Veränderungsdruck, der mit dem Begriff der Globalisierung diskursiv erzeugt wird, betrifft aber keineswegs nur – und vielleicht nicht mal vordringlich – die Ebene staatlichen Handelns. Hier ist vielmehr ein Veränderungsdruck auf allen Ebenen, von den Unternehmen bis hin zu den Individuen wirksam. Die zentrale Botschaft lautet dabei: Flexibilisierung. „Wir“ alle müssen alltäglich den Herausforderungen der Globalisierung individuell begegnen. „Wir“, d.h. jedeR Einzelne, müssen dafür Eigenverantwortung übernehmen und nicht überkommenen sozialen und staatlichen Sicherungen nachweinen. Damit dient der Globalisierungsdiskurs erheblich der Privatisierung gesellschaftlicher Risiken (von der Gesundheits- bis zur Altersvorsorge).

Entscheidend für diese diskursive Rahmung ist dabei, dass die Globalisierung keineswegs nur als äußerer Zwang wirkt, sondern mehr noch durch die Eigenleistung der Individuen hindurch. Dies hat der auf die Arbeiten von Michel Foucault zurückgehende Ansatz der Gouvernementalität (vgl. Lemke 1997, Bröckling/Krasmann/Lemke (Hg) 2000) in den letzten Jahren deutlich machen können. Politische Führung und staatliche Regierung wirken nicht nur von Außen mittels staatlicher Autorität oder Zwang auf die Individuen ein, sondern greifen direkt auf die Eigeninteressen und die Eigenleistungen der Individuen zurück. Besonders eine neoliberale Politik, die wiederum für die Herausbildung der derzeitigen Runde kapitalistischer Globalisierung von zentraler Bedeutung war, setzt auf diese Eigentätigkeit. Angesichts der Krisentendenzen neoliberaler Globalisierung gewinnen allerdings Zwang und Repression, und sogar direkte Gewalt, wieder an Bedeutung. Heute scheint es eben nicht mehr auszureichen, die Zumutungen neoliberaler Globalisierung – Flexibilisierung und Privatisierung von Risiken – als im Interesse einer Entfaltung der Persönlichkeit darzustellen. In dieser Hinsicht scheinen die „Kinder der Freiheit“ (Beck) wenigstens ein Stück weit ernüchtert zu sein über das „Gehäuse der Hörigkeit“ (Weber), das im Namen neoliberaler Herrschaftstechniken etabliert wurde. Heute kommt es verstärkt (wieder) darauf an, soziale Absicherungen zu zerstören um auf diesem Weg einem Arbeitszwang Nachdruck zu verschaffen. „Workfare“ nannte das Bob Jessop (1997) schon vor einigen Jahren. Neoliberales Regieren hatte in der Phase ihrer Durchsetzung in den 1980er Jahren noch ein soziales Netz (wie prekär auch immer) im Hintergrund. Jetzt, wo es nicht mehr allein ausreicht, auf die Eigenleistung der Individuen zu appellieren, werden noch diese letzten Sicherungen ab- bzw. verstärkt zu Mitteln der Repression umgebaut.

Gleichwohl funktionieren die Techniken der Gouvernementalität noch, denn direkte Gegenwehr gegen die Zumutungen neoliberaler Politik bleibt zumindest in Deutschland noch die Ausnahme. Die Vermutung liegt nahe, dass die diskursive Rahmung im Globalisierungsdiskurs hier ihre Kraft entfaltet. Globalisierung mit all ihren Attributen – Unvermeidlichkeit, Alternativlosigkeit und Veränderungszwang – ist selbst zu einem „Gehäuse der Hörigkeit“ geworden, dessen Horizont nicht mehr überschritten werden kann. Die Rede von der Globalisierung dient so als Berufung auf ein alternativloses „Naturgesetz“, das trotz offenkundiger Unzufriedenheit mit der gesellschaftlichen Entwicklung im Allgemeinen und den Leistungen des politischen Systems im Besonderen nicht in Frage gestellt werden kann. Trotz wachsender Ängste, trotz Frustration über die Regierung wie die parlamentarische Opposition führt dies kaum zu einer irgendwie gearteten Gegenwehr, sondern zu verstärkten Ohnmachtsgefühlen. Damit entsteht jedoch eine brenzlige Situation. Vor allem in Verbindung mit Verschwörungsphantasien, wie sie um den 11.09. herum zu beobachten waren, entsteht die Gefahr, dass autoritäre Lösungsoptionen an Attraktivität gewinnen könnten.

Wenn diese Diagnose richtig ist, dann müsste eine Gegenreaktion sich direkt auf die diskursive Rahmung selbst richten. Vor allem kommt es dann darauf an zu zeigen, dass hier eben keine alternativlose Zwangsgesetzlichkeit am Werke ist, sondern dass die vermeintlichen Naturgesetze der Globalisierung auf politischen Strategien und Entscheidungen und damit verbundenen Machtverhältnissen beruhen. Dabei ist die Kontinuität neoliberaler Denkmuster – angebotsorientierte Wirtschaftspolitik und Zurückfahren der Staatsquote – bei der derzeitigen Regierungskoalition ungebrochen. Ein besonders zähes Element dieser Dogmatik ist die Fixierung auf die Lohnnebenkosten. Gerade hier zeigt sich, dass es politische Entscheidungen und ihnen zugrunde liegende ideologische Annahmen sind, die das finanzielle Desaster erst produzieren. Zentral dafür ist der Glauben daran, die Höhe der Lohnnebenkosten lege die Wettbewerbsfähigkeit in der internationalen Konkurrenz fest (was so nicht stimmt und schon lange als widerlegt gilt). Dabei wird mit der diskursiven Rahmung vor allem verdeckt, dass es hier um soziale Kämpfe und um die Verteilung des produzierten Reichtums geht. Stattdessen wird der Anschein erweckt, es käme auf besonders ausgefeilte technische Vorschläge an, ausgearbeitet von Expertenkommissionen, die sich spätestens dann allemal blamieren, wenn es um die immanenten Verteilungseffekte solcher vermeintlich rein technischen Maßnahmen geht.

Globalisierung als Transformationsprozess – der institutionelle Rahmen

Wenn einige der wesentlichen Auswirkungen der Globalisierung im diskursiven Bereich liegen, dann bedeutet dies aber nicht, dass sich nicht auch die Strukturen von Politik und das staatliche Institutionensystem erheblich gewandelt hätten (vgl. dazu grundsätzlich: Hirsch/Jessop/Poulantzas 2001). Diese Wandlungen lassen sich z.T. als Folge, z.T. aber auch als Voraussetzung für den Erfolg diskursiver Strategien beschreiben. Der Zusammenhang zwischen den beiden Prozessen ist also einigermaßen komplex. Wichtig ist zunächst, dass man das Verhältnis zwischen Nationalstaat und Globalisierung nicht als Nullsummenspiel darstellen darf. In dem Maße, in dem eine globale Ebene an Bedeutung gewinnt, wird die nationale Ebene keineswegs unwichtig. Der Nationalstaat wandelt sich zwar im erheblichen Ausmaß und dies hat weitreichende Veränderungen in den Steuerungsleistungen des politischen Systems zur Folge. Aber die These einer Erosion des Nationalstaats ist schon deswegen falsch, weil die Globalisierung eigentlich erst innerhalb und zwischen Nationalstaaten produziert und gerade die vermeintlichen Zwangsgesetze der Globalisierung von Staaten und zwischenstaatlichen Institutionen produziert und abgesichert werden. Gleichwohl hat sich das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, von Politik und Ökonomie in diesem Prozess entscheidend verändert. Im Kern dieser Transformation steht eine Veränderung der Klassen- und der umfassenden gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse im Übergang von der fordistischen zur postfordistischen Phase des Kapitalismus.

Bevor ich jedoch auf diesen Übergang im Einzelnen eingehe, zunächst eine Zwischenbemerkung zur Macht Internationaler Institutionen. Es wäre nahe liegend, und es wird im Rahmen der sog. „Globalisierungskritik“ auch öfters die Position vertreten, dass die Macht internationaler Institutionen wie vor allem der Welthandelsorganisation (WTO), von Weltbank (WB) und internationalem Währungsfund (IMF) für den Prozess neoliberaler Globalisierung verantwortlich zu machen sind. Nun haben die genannten Organisationen diesen Prozess ohne Zweifel vorangetrieben und, zusammen mit anderen Institutionen und Organisationen, vor allem auch zur diskursiven Durchsetzung neoliberaler Denkmuster beigetragen. Aber die Macht dieser Institutionen wird auch immer wieder überschätzt (wobei möglicherweise zwischen verschiedenen Politikfeldern zu differenzieren wäre). So scheint es nur auf den ersten Blick so zu sein, dass die derzeitigen Kürzungen im Sozial- und Gesundheitsbereich in den Industrieländern nur das Zurückschlagen der eigenen Strategien auf die nördlichen Länder darstellen. Seit den 1980er Jahren waren die Strategien von Weltbank und IMF entscheidend für die Verarmung breiter Bevölkerungsteile in Entwicklungsländern verantwortlich, u.a. weil sie eine Rückführung der Staatsquote und eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik zur Bedingung für neue Kredite erklärten (Chossudovsky 1997). Zeit versetzt scheint der Prozess einer „Globalisierung der Armut“ (Chossudovsky) nun auch in den Industrieländer nachgeholt zu werden. Ist das nicht ein Beispiel für das Wirken eines Zwangsgesetzes der Globalisierung, ausgeübt durch mächtige Internationale Organisationen?

Nun ist dieser Vergleich aus zwei Gründen irreführend. Erstens handelt es sich so oder so um politische Entscheidungen, hinter denen strategische Kalküle stehen, und nicht um ein alternativloses Zwangsgesetz. Dies zeigt sich zweitens sogar besonders deutlich bei der Politik der Internationalen Organisationen. So haben WB und IMF bei den Strukturanpassungsprogrammen lediglich die Politik des Pariser Klubs, des Kartells der Gläubigerländer, exekutiert, war die Reaktion auf die Schuldenkrise der Entwicklungsländer eine extrem einseitige, allein im Interesse der reichen Länder stehende Veranstaltung. Dieses Beispiel kann man getrost verallgemeinern, wenn man im Auge behält, dass die Kräfteverhältnisse in den verschiedenen Internationalen Organisationen durchaus sehr unterschiedlich aussehen, je nach den jeweiligen Interessenkonstellationen. So wird die Politik der Internationalen Organisationen durch die Interessen der mächtigsten Industrieländer, vor allem den USA und EU dominiert, vor allem dann, wenn beide sich einig sind. Wie gerade die festgefahrenen Verhandlungen im Rahmen der WTO zeigen, gibt es allerdings immer dann Probleme, wenn USA und EU unterschiedliche Interessen verfolgen. Dann können sogar Koalitionen aus Entwicklungsländern in den Verhandlungen breiteren Raum mit ihren Vorstellungen erhalten, wie gerade in den Verhandlungen in Cancun zu erleben. Da sich aber jetzt schon abzeichnet, dass diese Koalition durch bilateralen Druck auf die schwächsten Länder wieder zerschlagen werden, sollte man sich aber keine Illusionen über ihre Handlungschancen machen.

Auf jeden Fall ist aber der Verweis auf die internationalen Zwänge eher eine rhetorische Floskel, mit der bestimmte Maßnahmen gerechtfertigt werden sollen. Wenn der politische Wille, sprich die innergesellschaftlichen Kräfteverhältnisse es zulassen oder erforderlich machen, geht es allemal auch anders. Beispiele sind die Landwirtschaftsubventionen von USA und EU. Wo starke Lobbyverbände im Hintergrund agieren, lassen sich die vermeintlichen Zwangsgesetze der Globalisierung allemal brechen. Allerdings sind diese internationalen Institutionen auch nicht unwichtig und sie werden es auch in Zukunft nicht sein, trotz aller Tendenzen zum Unilateralismus, die sich nicht nur in den USA beobachten lassen. Zwar ist richtig: Wo die USA ihre nationalen Interessen – d.h. das, was starke Lobbyverbände als solche definieren – verletzt sehen, sind sie immer leichter zum Verstoß gegen internationale, multilaterale Abkommen bereit. Aber der erreichte Stand kapitalistischer Globalisierung kann auf diese Internationale Organisationen nicht völlig verzichten. Insofern ist es auch voreilig, die starke Tendenz der USA zum Unilateralismus als „Ende neoliberaler Globalisierung“ darzustellen, wie dies der bekannte Globalisierungskritiker Walden Bello in einem Interview mit der taz (vom 28./29. Juni 2003) getan hat. Dahinter steht sowohl ein falsches Verständnis multilateraler Institutionen wie der neoliberalen Globalisierung (vgl. dazu ausführlicher: Brand/Görg 2003) als auch eine problematische Zeitdiagnose. Denn wie nicht zuletzt die Folgen des Irakkrieges deutlich zeigen braucht auch der Unilateralismus eine multilaterale Kooperation; und zudem sind diese auch weiterhin der Rahmen für bilateralen Druck auf schwächere Länder. Es geht hier also so oder so um globale Machtverhältnisse und deren Verankerung in Internationalen Organisationen und Abkommen. Und der Wandel zum Unilateralismus scheint eher eine Strategieänderung als ein tiefergehender Bruch zu sein.

Neoliberale Globalisierung im Ganzen wie einzelne Maßnahmen zur Sozial- und Gesundheitspolitik werden den Industrieländern (und vor allem den mächtigen unter ihnen) nicht einfach von Außen aufgedrückt – weder von einem anonymen Zwangsgesetz der Globalisierung noch von Internationalen Organisationen. Und sie wären ihnen im Gegensatz zu den meisten Entwicklungsländern auch nicht einfach hilflos ausgeliefert. Vielmehr werden sowohl die „Gesetze der Globalisierung“ als auch die Politik der Internationalen Organisationen in und durch die Nationalstaaten mitproduziert. Allerdings müssen dazu die strukturellen Veränderungen im Rahmen kapitalistischer Entwicklung mitbedacht werden. Entscheidend zur Erklärung dieser Zusammenhänge wie der Transformation des Nationalstaats ist der schon erwähnte Wandlungsprozess vom Fordismus zum Postfordismus, wobei dieser Wandel vor allem für eine tiefgreifende Veränderung der Klassen- und der sozialen Kräfteverhältnisse steht. Es kann nun nicht darum gehen, diesen Wandel umfassend zu beschreiben oder auf einige der damit verbundenen Erklärungsprobleme einzugehen (vgl. zum ersten: Hirsch/Roth 1986; zum zweiten: Brand/Raza (Hg) 2003). Wichtig für unser Thema ist aber die Einsicht, dass man die Funktion sozialer Sicherungssysteme weder durch eine überhistorische Logik kapitalistischer Vergesellschaftung noch durch einen evolutionären Veränderungsprozess der Verankerung sozialer Rechte erklären kann. Vielmehr muss man der Institutionalisierung sozialer Kämpfe im Rahmen einer konkreten sozialen Situation nachgehen. Was an sozialen Sicherungssystemen etabliert und welche gesellschaftliche Funktion diese tatsächlich haben – d.h. auch: wie repressiv sie gegebenenfalls wirken –, dass lässt sich nur in einer historischen Konstellation analysieren.

Dazu ein paar Stichworte: Die Durchsetzung des Sozial- und Wohlfahrtsstaat war (trotz aller Vorläufer) an die fordistische Phase kapitalistischer Vergesellschaftung gebunden; d.h. an eine – wie es heute den Anschein hat – singuläre Phase seiner Entwicklung. Dieses „goldene Zeitalter“ – das in der BRD der Nachkriegszeit bis Anfang der 1970er Jahre dauerte, in den USA früher einsetze, dagegen in den Entwicklungsländern so „golden“ niemals war – war durch enorme Produktivitätsreserven und Absatzpotentiale geprägt. Burkhart Lutz (1984) hat diesen Prozess in Anlehnung an Rosa Luxemburg als „innere Landnahme“ beschrieben, mit anderen Worten: als einen Prozess der Durchkapitalisierung der Gesellschaft, der dem Kapital neue Anlagegebiete (Konsumgüter, Reproduktions- und Freizeitbereich etc.) erschloss. Dieser Prozess ist so nicht mehr zu wiederholen, trotz aller Versuche, im I&K- oder im Biotechnologiesektor neue Bedürfnisse zu wecken und zu erschließen. Neben dem ökonomischen Wachstum kommen aber noch zwei weitere, mehr politische Faktoren hinzu, um den Ausbau des Sozial- und Wohlfahrtsstaat erklären zu können. Zum einen die relative Stärke der Arbeiterbewegung und die Bereitschaft zum sozialen Ausgleich, die bis in den bürgerlichen Block hinein reichte. Damit wurde allerdings auch der „soziale Friede“ zu einem Element der Wettbewerbsfähigkeit im „Modell Deutschland“. Zudem wurde die Bereitschaft zu sozialen Zugeständnissen durch die Blockkonfrontation erheblich gefördert, wurden die meisten Maßnahmen doch auch mit Blick auf die „rote Gefahr“ gerechtfertigt: „ohne Sozialpolitik stehen bald die Russen am Rhein“.

Alle diese Faktoren sind heute vergangen. Man könnte sich zwar darüber streiten, ob die relative Stärke der Arbeiterbewegung ein eigener Faktor oder eher die Folge der ökonomischen Prosperität war. Ohne Zweifel wurde sie jedoch in dem Maße untergraben, in dem seit den späten 1970er Jahren von Seiten des Kapitals die Krise des Fordismus mit Strategien zur Internationalisierung der Produktion, d.h. zur Verlagerung und Aufspaltung der Produktion auf mehrere Länder und Regionen, begegnet wurde. Damit entstand das enorme Drohpotential, das noch heute in Sachen Steuerungsreform oder bei ähnlichen Gelegenheiten ausgespielt wird: Gebt ihr (der Staat, die Gewerkschaften etc.) uns nicht günstigere Bedingungen, dann gehen wir woanders hin! Dann spielt natürlich der „soziale Friede“ so wenig mehr eine Rolle, wie überhaupt die politische Notwendigkeit zu sozialen Reformen mit dem Ende der Systemkonkurrenz gelockert wurde. Und auch die ökonomische Situation änderte sich mit der Tendenz zur Internationalisierung der Produktion erheblich. Auch dies ist ebenfalls ein zentraler Aspekt dessen,, was mit dem Begriff Globalisierung erfasst wird, aber eben einer, der aus innergesellschaftlichen Gründen von verschiedenen Kapitalfraktionen eingeleitet und im Kern gar nicht wirklich global ist, sondern höchst selektiv vonstatten geht.

Bei dieser kurzen historischen Erinnerung sind zwei Punkte besonders wichtig: Einmal war der Sozialstaat schon im „goldenen Zeitalter“ in gewisser Weise funktional für die kapitalistische Entwicklung und in dieser Funktionalität von bürokratischen und repressiven Momenten begleitet. Erst die Kritik neuer sozialer Bewegungen, vor allem der neuen Frauenbewegung oder der Alternativbewegung, hat diese repressiven und normierenden Elemente (z.B. die bürgerliche Kleinfamilie mit einem männlichen „Ernährer“ oder überhaupt den Zwang zur Lohnarbeit festschreibend) in die öffentliche Kritik gebracht. Und zudem, und damit komme ich wieder zum Thema Sozialstaat und Globalisierung im engeren Sinne zurück, war es keineswegs die Stärke oder die Souveränität des Staates, der die sozialen Sicherungssysteme möglich gemacht hat. Gerade auch die begrenzte Umverteilung, die mit sozialen Einrichtungen verbunden war und die sowohl abgetrotzt als auch selbst wieder funktional war (Stichwort: „Rheinischer Kapitalismus“), beruhte nicht auf einer Stärke des Staates, sondern auf einer bestimmten gesellschaftlichen Konstellation und auf Kompromissen zwischen Akteuren mit sehr unterschiedlichen Machtpotentialen und entgegengesetzten Interessenlagen. Insofern ist auch nicht das Problem einer Erosion des Nationalstaats angesichts der Globalisierung das eigentliche Problem. Zwar lässt sich im Gefolge der Globalisierung tatsächlich eine gewisse Schwächung staatlicher Handlungspotentiale konstatieren, weil es staatlichen Akteuren oft nicht mehr so einfach möglich ist, steuernde Maßnahmen angesichts der gestiegenen Macht großer Konzerne und der Internationalisierung der Produktion auch durchzusetzen. In der Politikwissenschaft wird in diesem Zusammenhang von einem „verhandelndem Staat“ gesprochen, der erheblich an Durchsetzungsfähigkeit verloren hat und eher als ein Verhandlungspartner unter anderen auftritt. Aber diese Schwächung ist eine, die auf eine veränderte Konstellation im Verhältnis Staat – Gesellschaft hindeutet und nicht auf ein Nullsummenspiel zwischen nationaler und globaler Ebene.

Trotzdem hat dieser Aspekt neoliberaler Globalisierung durchaus Auswirkungen auf staatliche Politik. Dazu ist aber noch ein anderer Aspekt zu erinnern. Staatliche Reaktionen auf die Krise des Fordismus waren schon seit dem Ende der Regierung Schmidt darauf ausgerichtet, durch Flexibilisierung und Deregulierung Produktivitätsreserven freizusetzen. Schon sehr früh wurde dabei die Notwendigkeit zum sozialen Ausgleich bestritten. Daher ist die Stärke des Staates gar nicht das entscheidende Problem, sondern die Zielsetzungen staatlicher Politik. Für kurze Zeit kann man diese Deregulierungspolitik als mehr oder weniger erfolgreich bezeichnen – gemessen an kapitalistischen Zielsetzungen der Sicherung der Akkumulation. Doch sehr bald waren diese Produktivitätsreserven erschöpft. Und schon lange ist deutlich geworden, dass eine neoliberale Strategie keine stabile Wachstumsphase begründen kann. In den 1990ern wurde diese durch die kurze Blüte der „New Economy“ nur überdeckt und heute eher schlecht als recht durch die Schuldenpolitik der USA-Ökonomie kaschiert. Was damit übrig bleibt vom neoliberalen Aufbruch das ist die öffentliche wie private Sparpolitik – und damit eine Anleitung zum Marsch in eine noch gravierendere Krise.

Das heißt nun aber nicht, angesichts der offenkundig desaströsen Folgen neoliberaler Politik können einfach zum Modell der 1960er Jahre, zu einer keynesianischen Wirtschaftspolitik zurückgekehrt werden. Darauf beschränken sich leider meist die angebotenen Alternativen. Dafür lassen sich nach dem schon gesagten mindestens drei Gründe anführen:

  • Erstens innergesellschaftliche Gründe: Eine keynesianische Politik, die nur mittelfristig erfolgreich sein will, ist darauf angewiesen, dass sie tatsächlich erfolgreich Wachstum hervorruft. Tut sie das nicht, geht der Ansatz von Keynes, nämlich mit antizyklischem Verhalten die Nachfrage in Krisenzeiten zu stimulieren, nicht auf. Anders gesagt: Staatliche Ausgabenprogramme produzieren dann nur immer neue Schulden – und das ist das Schicksal seit der Regierung Schmidt.
    Das ist wohlgemerkt kein Plädoyer für die derzeitige Sparpolitik. Die wird die Krise auf jeden Fall erheblich verschärfen. Insofern besteht im Augenblick keine Alternative zu weiteren staatlichen Schulden und es käme erheblich darauf an, das Dogma des Schuldenabbaus zu erschüttern. Aber gleichfalls werden keynesianische Modelle nicht greifen und man muss dies wohl gleich mit bedenken, will man nicht falsche Erwartungen und Enttäuschungen hinsichtlich der Schaffung neuer Arbeitsplätze schüren.
  • Zweitens greift die „keynesianische Globalsteuerung“ – was ja eine Steuerung nicht im globalen, sondern im nationalen Wirtschaftsraum sein sollte – nicht mehr, wenn dieser Wirtschaftsraum sich mehr und mehr aufgelöst hat. Dies ist weitgehend der Internationalisierung der Produktion geschuldet. Aber auch hier ist der Staat nicht einfach ein Opfer, sondern er hat tatkräftig daran mitgewirkt, dass nationalstaatliche Maßnahmen heute leichter unterlaufen oder schlicht durch Drohungen verhindert werden können. Wie schon erwähnt wurden viele Optionen des Kapitals erst politisch geschaffen; und die Folgen, wie z.B. die üppigen Steuergeschenke, sind eine der wesentlichen Ursachen für die derzeitige Finanzkrise.
  • Drittens gibt es noch Gründe, die nun direkt auf den Umbau der Staatsapparate im Zusammenhang mit der Globalisierung verweisen. Wenn der „soziale Friede“ nicht länger als Wettbewerbsfaktor angesehen wird, dann korrespondiert dieser Tendenz eine Schwächung der Ministerien, die für die Stabilisierung der sozialen Integration zuständig waren – vor allem von Arbeits- und Sozialministerium –, während die Ministerien, die für eine angebotsorientierte monetaristische Wirtschaft- und Finanzpolitik zuständig sind – neben dem Finanzministerium auch die Zentralbanken –, eindeutig gestärkt wurden. Selbst die Europapolitik wird heute im Finanzministerium koordiniert! Dies alles ist als interner Umbau der Nationalstaaten zu nationalen Wettbewerbsstaaten (Hirsch 1995) zu interpretieren. Dieser strukturelle Umbau ist einerseits die Voraussetzung dafür, dass neoliberale Politik auch im Staatsapparat verankert wurde; und in gewisser Hinsicht sogar die Voraussetzung für die Durchsetzung einer neoliberalen Hegemonie im Weltmaßstab (ausgedrückt im sog. „Washington Konsens“; vgl. Baker 1999). Andererseits handelt es sich tatsächlich um eine strukturelle Verankerung, die nicht beliebig zu umgehen oder aufzuheben ist. Dies konnte wie man vor allem an der Kapitulation von Lafontaine sehen. Obwohl dieser sich schon ein starkes Ministerium ausgesucht hatte, scheiterte er letztlich an der strukturellen Verankerung neoliberaler Politik im Staatsapparat.

Der Umbau als Einheit von Verschärfung und Abbau – Zukünfte des Sozialstaats

Dieses letzte Beispiel kann belegen, dass Globalisierung nicht nur ein diskursiver Rahmen für den Umbau des Sozialstaats darstellt, sondern dass sich diese auch in der institutionellen Materialität des Staates niedergeschlagen hat. In 25 Jahren neoliberaler Politik wurde das Verhältnis von Staat und Gesellschaft so erheblich transformiert, dass eine Rückkehr zu Politikmodellen des Fordismus verbaut ist. Das dürfte der tiefere Grund dafür sein, dass heute eine reine Verteidigung einmal erreichter „sozialer Standards“, so verständlich sie auf den ersten Blick auch erscheinen mag, tatsächlich in die entgegengesetzte Richtung wirkt. Wer allein darauf setzt, dass bestimmte Interessen – von Arbeitslosen, Rentnern, Sozialhilfeempfängern etc. – im derzeitigen „Umbau“ etwas besser berücksichtigt werden, der hat die Logik dieses Umbaus und seine diskursiven wie institutionellen Voraussetzungen im Kern schon akzeptiert. Darauf laufen aber alle parteipolitischen Taktierereien wie leider auch die Kritik vieler Interessen- und Wohlfahrtsverbände hinaus: Dafür zu sorgen, das es ihre Klientel nicht ganz so hart trifft. Bornierte Interessenpolitik eben. Borniert nicht deswegen, weil das Anliegen nicht legitim wäre, zumal wenn es um die Sicherung einer halbwegs menschenwürdigen Existenz geht. Aber borniert im Hinblick auf die politischen Folgen. Einmal ist das Ergebnis in nahezu allen Fällen nur ein höchst zweifelhafter Erfolg, wenn überhaupt, bei dem die allergrößten Schweinereien etwas abgemildert oder wohl eher bis zur nächsten Runde vertagt werden. Dabei offenbart sich oftmals ein soziales Sankt Florians-Prinzip: Liebe Sparpolitik, triff mich nicht so schlimm, treffe lieber die benachbarte Interessengruppe. Vor allem wird implizit oder explizit damit anerkannt, was eigentlich das Haupthindernis für wirkliche politische Alternativen darstellt: die Eckpfeiler neoliberaler Ideologie. Wer aber prinzipiell akzeptiert, dass gespart werden muss, oder dass „wir“ „unsere“ Position im globalen Konkurrenzkampf durch Steuererleichterungen erhöhen müssen, der oder die hat schon längst seinen Beitrag zum Abbau sozialstaatlicher Leistungen und der Verschärfung eines repressiven Arbeitszwanges geleistet.

Für die Suche nach Alternativen zur neoliberalen Globalisierung scheint es ein Hindernis zu sein, dass auf die beiden beschriebenen Rahmenbedingungen sehr unterschiedlich reagiert werden muss. Während der diskursive Rahmen es erfordert, die politische Strategien herauszustellen und darüber wieder politische Spielräume sichtbar zu machen, zeigt der institutionelle Rahmen, dass politische Spielräume keineswegs beliebig geöffnet werden können, sondern dass strukturelle Zusammenhänge beachtet werden müssen. Dabei droht nicht nur eine Verkennung der eigenen Möglichkeiten, sondern mehr noch eine Verkehrung selbst richtiger Ansprüche ins Gegenteil. Im Kontext neoliberaler Globalisierung geraten alle Versuche einer „Zivilisierung“ kapitalistischer Vergesellschaftung, so zweifelhaft diese immer schon waren, in eine höchste prekäre Situation. Zwar war es immer schon naiv, die Berücksichtigung von Bürger- und Menschenrechten im Rahmen bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse als Prozess ihrer evolutionären Verwirklichung darzustellen. Selbst die Vorstellung, dass sie umkämpft sind und erkämpft werden müssen, und daher auch wieder verloren gehen können, trifft aber nicht ganz den Kern der Sache. Wie auch die Diskussion um Menschenrechte im internationalen Rahmen zeigt, ist die Gefahr einer Funktionalisierung und einer Instrumentalisierung für entgegengesetzte Strategien heute das Hauptproblem. Neben der Rechtfertigung von Angriffskriegen als „humanitäre Interventionen“ betrifft dies eben auch die viel beschworene „Solidarität“, die zum Instrument der Rechtfertigung von Sozialabbau gemacht wird. Es sollen halt alle „ihr Scherflein“ beitragen und insofern solidarisch sein: die RentnerInnen, die Jüngeren, die „Arbeitsplatzbesitzer“ usw. Und die „Besserverdienenden“ brauchen die Steuergeschenke ja nicht für sich, sondern für die Ankurbelung der Konjunktur...

Das macht die dahinter stehenden sozialen Ansprüche nicht unbedingt falsch. Das besondere der gegenwärtigen Situation scheint aber darin zu liegen, dass eine massive Verschärfungen in den repressiven Auswirkungen sozialstaatlicher Regelungen, die letztlich der Verankerung eines Arbeitszwangs trotz und wegen steigender Arbeitslosigkeit dienen, und ein Bruch mit geltenden Prinzipien gleichermaßen erfolgt, dass beide miteinander vermittelt sind. Deswegen reicht es nicht aus, einfach nur ein paar der Prinzipien oder Regelungen zu verteidigen: sie dienen inzwischen dermaßen einer repressiven Absicherung einer zunehmend desintegrierten Gesellschaft, dass sie kaum noch zu verteidigen sind. Aber es geht beim derzeitigen Umbau auch nicht nur um eine Verschärfung schon existierender und „erprobter“ sozialer Gängelungsversuche. Diese These würde das Ausmaß der Zerstörung sozialer Beziehungsmuster, einer „sozialen Infrastruktur“ (H.Steinert) verkennen, die mit Hilfe der Sozialpolitik auch unter kapitalistischen Bedingungen aufgebaut werden kann oder zumindest werden könnte.

Wenn also beides der Fall ist, dann kommt es mehr denn je darauf an, das Terrain selbst Infragezustellen, auf dem die derzeitigen Konflikte ausgetragen werden. Zwei politische Gegenreaktionen sind damit gleichermaßen notwendig: Einmal die Gegenwehr gegen den Umbau des Sozialstaats, und zwar eben nicht nur gegen einzelne Maßnahmen oder mit dem Ziel, ein besseres, gerechteres Sparkonzept vorzulegen. Vielmehr muss dieser Umbau und seine diskursiven wie strukturellen Voraussetzungen im Ganzen kritisiert werden. Ohne verstärkte öffentliche Kritik an den Hintergrundannahmen wie den Folgen neoliberaler Modelle sind Proteste aller einzelnen Interessengruppen zum Scheitern verurteilt. Zweitens bedarf es auch des öffentlichen Nachdenkens darüber, was denn die wirklichen Ursachen der derzeitigen Krise sind und was geeignete Gegenmaßnahmen wären. Dabei müssen einige Lebenslügen – wie die nach dem Ziel Vollbeschäftigung; die wird es in absehbarer Zeit genauso wenig geben wie sie zu einem menschenwürdigen Leben eigentlich notwendig ist – genauso hinterfragt und aufgegeben werden wie neue Antworten auf die Probleme sozialer Sicherung entwickelt werden müssen. Das Konzept der „sozialen Infrastruktur“ ist dazu ein Diskussionsangebot, an dem weiter gearbeitet werden muss (vgl. dazu das Papier und die Diskussion unter www.links-netz.de).

Literatur:

Baker, Andrew (1999): Nébuleuse and the ‘internationalization of the state’ in the UK? The case of HM reasury and the bank of England, in: Review of International Political Economy, 6:1, Spring 1999

Brand, Uli/Görg, Christoph (2003): Postfordistische Naturverhältnisse, Münster

Brand, Uli/Raza, Werner (Hg. 2003): Fit für den Postfordismus? Münster

Bröckling, U./Krasmann, S./Lemke, T. (Hg. 2000): Gouvernementalität der Gegenwart, Frankfurt/M.

Chossudovsky, Michel (1997): The Globalization of Poverty

Görg, Christoph (2003): Globalisierung, in: Glossar der Gegenwart, hrsg. von U.Bröckling u.a., Frankfurt/M. (i.V.)

Hirsch, Joachim (1995): Der nationale Wettbewerbsstaat. Staat, Demokratie und Politik im globalen Kapitalismus, Berlin

Hirsch, J./Jessop, B./Poulantzas, N. (2001): Die Zukunft des Staates, Hamburg

Hirsch, Joachim, Roland Roth (1986): Das neue Gesicht des Kapitalismus, Hamburg

Jessop, Bob (1997): Die Zukunft des Nationalstaates – Erosion oder Reorganisation? Grundsätzliche Überlegungen zu Westeuropa. In: S.Becker u.a. (Hg): Jenseits der Nationalökonomie? Berlin/Hamburg, S. 50–95

Lemke, Thomas, (1997): Eine Kritik der politischen Vernunft, Berlin/Hamburg

Lutz, Burkhard (1984). Der kurze Traum immerwährender Prosperität, Frankfurt/New York

Anmerkungen

* Es handelt sich um die überarbeitete und ergänzte schriftliche Fassung eines Vortrags, der am 12.09.03 auf der Tagung „Eine Politik sozialer Menschenrechte in Zeiten von Verarmung und Repression“, veranstaltet von der Evangelischen Akademie Arnoldshain in Kooperation mit dem Komitee für Grundrechte und Demokratie gehalten wurde.Zurück zur Textstelle

© links-netz November 2003