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"Aber es gibt keine Kriege mehr ..."

Vom Zustand des Staatensystems und der "Evolution des Völkerrechts"

Christoph Görg

Die Situation scheint nur noch radikale Thesen zuzulassen. Haben wir es nach den Anschlägen des 11. Septembers nicht mit einer grundsätzlichen Transformation der Welt(un)ordung zu tun? Nicht im trivialen Sinne der Feuilletons, nach der die Welt nicht mehr so ist, wie zuvor – als würde sie sich sonst selbst gleich bleiben. Aber die globalen Herrschaftsformen scheinen sich zur Kenntlichkeit verändert zu haben. Ist nicht die "globale Koalition gegen den Terror" der sichtbarste Ausdruck der Tendenz, dass sich ein globales Empire (Negri/Hard) herausbildet, eine neue Herrschaftsform, in der politische und ökonomische Herrschaft unmittelbar kurzgeschlossen sind? Dagegen steht die These, dass auch der neue Krieg nur ein Ausdruck alter Herrschaftsstrukturen ist, ein Ausdruck der in den Staaten gespeicherten Gewalt, Vorschein des Kriegs, der um die Sicherung kapitalistischer Eigentumsverhältnisse latent immer geführt wird (Holloway/Peláez). Für letzteres spricht zwar der gleichzeitig Ausbau des "Sicherheitsstaats", die weltweite Verschärfung der Repressionsapparate zum "Schutz der inneren Sicherheit" bis hin zur Aufhebung elementarer Bürger- und Menschenrechte. Doch so recht überzeugen kann diese These nicht mehr. Wer bedroht hier wen, wer schützt sich vor was? Die Arbeiterklasse kann wohl kaum noch als Bedrohung herhalten. Und ob es letztlich einzelne Staaten sind, die sich bedroht fühlen, dass wäre die Frage. Welche Bedeutung haben Kriege heute ganz konkret im weltweiten Gefüge zwischenstaatlicher Macht und globaler Herrschaft? Ist nicht die Herrschaft wirklich selbstrefentiell geworden, schafft sie sich nicht ihre jeweilige Bedrohungsvorstellung – den internationalen Terror – nur zu dem Zweck der eigenen Machtsteigerung? Ist sie tatsächlich noch auf die USA als ökonomisch und militärisch dominante Macht fokussiert? Oder hat sie sich längst losgelöst von all den Merkmalen und Institutionen, in denen sie bisher verkörpert war? Und wie wäre dem zu begegnen? Ist es nicht mehr als naiv, heute noch auf die Einhaltung von Menschenrechten, gar auf die Respektierung des Völkerrecht zu pochen, wo beides mehr und mehr zu einer beliebigen Legitimationsressource reduziert wird. Selbst die UNO wird schon von durchaus wohlmeinenden Beobachtern als "Putzfrau der NATO" bezeichnet – als eine Institution, die nach den Kriegen fürs Aufräumen zuständig ist. Und auch die NATO scheint nicht mehr der wirkliche Träger der militärischen Maßnahmen zu sein, da die wichtigsten Entscheidungsstrukturen schon längst in einen Graubereich informeller Kontakte verlegt wurden. Haben wir es überhaupt noch mit Recht im klassischen Sinne zu tun? Oder ist längst eine Situation eingetreten, in der die überkommenen Kategorien zur Analyse untauglich werden? Wird Recht nun endgültig zu dem, was viele KritikerInnen immer schon behauptet haben: Ein anderer Ausdruck für die Macht der Herrschenden?

Obwohl solche radikalen Thesen nicht ohne Charme sind, soll hier eine vergleichsweise "harmlosere", zumindest unspektakuläre vertreten werden. Sie setzt an bei einer Beobachtung, die als solche nun wirklich nicht mehr ganz neu ist – beim Ende der "Westfälischen Ordnung" des Staatensystems. Schon seit über zehn Jahren, seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, dem Golfkrieg und den Diskussionen um die Globalisierung gehört sie zu den Standardfloskeln der Politikwissenschaft. Doch die Reaktionen auf den Krieg in Afghanistan zeigen, dass wir immer noch nicht recht verstanden haben was es heißt, dass die alte "Westfälische Ordnung" nicht mehr besteht.. Denn erst jetzt wird so richtig deutlich, was sich hinter dieser so altbacken daher kommenden Formel verbirgt. Nicht das Verschwinden des Nationalstaats, wohl aber eine Transformation von staatlicher Herrschaft, die weitreichende Folgen hat und haben wird. Trotzdem führt das "Ende der Westfälischen Ordnung" nicht zurück ins Mittelalter, wie oft behauptet wird, sondern bringt paradoxerweise eine "Evolution des Völkerrechts" mit sich– auch wenn diese Evolution die Karikatur von der Entwicklung ist, von der Jürgen Habermas damals in seiner Apologie des Kosovokrieges gesprochen hat. Heute kann man sehen: Habermas hat schon fast in perverser Weise Recht behalten. Denn unter unseren Augen können wir eine Transformation der Regeln und der rechtlichen Grundlagen zwischenstaatlicher Beziehungen beobachten, die zu einer gänzlichen neuen Synthese von Macht, Gewalt und legitimer Herrschaft führt. Eine Synthese, die nicht nur die Fundamente staatlicher Gewalt, der modernen, rationalisierten Form der Herrschaftsausübung im "Monopol legitimer Gewaltförmigkeit" (M. Weber) untergräbt, sondern auch die globalen Beziehungen neu strukturiert.

Kein "Herr der Ringe"

Inwieweit die Situation tatsächlich neu ist, lässt sich an einem aktuellen Produkt der Kulturindustrie verdeutlichen. Als pünktlich zu Weihnachten das letzte Megaprodukt der globalen sinnproduzierenden Industrie ins Kino kam, da schien auf den ersten Blick klar zu sein: der Film zum Krieg ist da. Handelt nicht der erste Teil der Verfilmung des Romans von Tolkien von "den Gefährten", die sich aufmachen, der Bedrohung durch "das Böse" schlechthin ein Ende zu setzen. Stellen diese "Gefährten" nicht ein erstaunliches Pedant zur "globalen Allianz gegen den Terror" dar, die sich da aufgemacht hat, im fernen Land Afghanistan nicht nur den Oberschurken Sauron alias Osama bin Laden zur Strecke zu bringen, sondern "das Böse" selbst zu besiegen – den weltweiten Terror. Doch der Film funktioniert noch nach einem Bedrohungsszenario, das, wie auch das Buch, aus der Zeit des kalten Krieges und des Antikommunismus stammt, und die daher fast etwas harmloses, zumindest etwas wohlgeordnetes an sich hat. Im Unterschied zu heute ist nämlich die Bedrohung eindeutig lokalisierbar. Sie ist nicht nur immer noch im Osten beheimatet, ja es lässt sich auch eine konkrete territoriale Existenz - das Reich "Mordor" - angegeben und es ist sogar ein konkreter Ort und der Weg dahin bekannt, an dem das Böse in Gestalt "des Einen Ringes" zu beseitigen ist: "der Schicksalsberg". Eine fast schon triviale Aufgabe im Vergleich zu dem, was sich die heutigen Kreuzzügler auf die Fahnen geschrieben haben! Heute ist die Bedrohung nicht nur ort- und insbesondere Staatenlos – keiner weiß auch so recht, wie sie zu beseitigen sein soll. Und in einem weiteren Punkt ist der Film nicht nur überholt, sondern gleichzeitig auch den (post-)modernen Verhältnissen in der Selbsterkenntnis voraus. Er transportiert immer noch ein Wissen darum, dass das Böse aus dem Guten entstanden ist und letzteres immer in Gefahr des Umschlags steht. Nicht nur sind die bösen Orks gefallene Elben (Engel) und auch der Zauberer Saruman ein Opfer seiner eigenen Machtgier. Der Ring selbst kann nicht für etwas Gutes verwendet werden, ohne dass sein Träger von der Macht des Bösen erfasst wird.

Selige Zeiten, als die Gefahr noch als Besitz über "die Bombe" fantasiert werden konnte. Heute werden nicht nur alle vormals geächteten Instrumente wieder als legitime Machtmittel angesehen – von den Biowaffenprogrammen der USA über thermonukleare Bomben zur "Terroristenjagd" bis hin zum Einsatz der Folter. Auch die Selbsterkenntnis ist versperrt – oder sie muss zum Zwecke der Allianzbildung vielmehr systematisch unterdrückt werden – dass das vermeintlich externe Böse ein Produkt der eigenen gesellschaftlichen Verhältnisse ist. Die Projektion des Bösen auf einen islamischen Fanatismus verstellt nicht nur die Einsicht in die höchst moderne Form dieses Terrorismus: von der Auswahl der symbolischen Ziele, die der Phantasie eines amerikanischen Comics entsprungen sein könnte, über die Börsenspekulation zu ihrer Finanzierung bis hin zum globalen Netzwerkcharakter – warum sollte die Globalisierung auch vor der Globalisierung des Terrors halt machen?

Dabei hätte es eine Chance auf Selbsterkenntnis gegeben. Als sich die Anthrax-Anschläge nach und nach als "Kollateralschäden" des US-amerikanischen Biowaffenprogramms enttarnten, da hätte der projektive Charakter der Bedrohungsvorstellung erkannt werden können. Unabhängig davon, ob nun wieder ein fanatischer Rechtsextremer wie in Oklahoma für die Anschläge verantwortlich ist oder ob sich diesmal um eine "PR-Aktion" von Firmen handelt, die Schutz vor Biowaffenanschlägen verkaufen, wie zuweilen vermutet – diese Aktionen wie auch die vielen Trittbrettfahrer in einigen Ländern zeigten, wie groß das Potential derer ist, deren Phantasien solchen Anschlägen gegenüber aufgeschlossen ist. Und eben nicht (nur) in den palästinensischen Flüchtlingslagern. So aber sitzt die Anti-Terrorallianz ihren eigenen Projektionen auf. Selbst die unmittelbare Herkunft des Taliban-Regimes aus den geostrategischen Kalkülen der USA findet nur widerwillig Erwähnung, denn es würde den Zweifel nähren, ob denn die heutige Regierung in Afghanistan selbst etwas anderes ist. Sicher – der Fortschritt in Sachen Menschenrechten ist unabweisbar: Ehebrecher dürfen nur noch mit kleinen Steinen gesteinigt werden und Erhängte sollen nicht mehr vier Tage hängen gelassen werden, sondern werden nach einem Tag abgehängt (s. Frankfurter Rundschau vom 19.12.01). Faktisch hat der Krieg bislang nur die interne Machtverteilung zwischen den konkurrierenden Warlords nachhaltig verändert. Und es mag sein, dass nun eine stabile Regierung die Interessen der USA am freien Zugang zum Öl garantieren kann. Doch was bedeutet dies für den Zustand der "neuen Weltordnung"? Mit Sicherheit eines nicht: Selbst gemessen an der eigenen Problemdiagnose ist die "Allianz gegen den Terror" keinem einzigen ihrer Ziele auch nur einen Schritt näher gekommen. Statt dessen scheint die nahezu unbegrenzte Ausweitung der militärischen Operationen selbst für die militärische Supermacht und ihre Verbündeten langsam zum Problem zu werden. Denn die Risse in der Koalition wachsen und die repressive Führung der USA wird nicht unbegrenzt aufrecht zu erhalten sein. Und dies nicht nur in Ländern, in denen von vornherein nationale Herrschaftsinteressen, gepaart mit Terror gegen die eigene Bevölkerung, und globaler Anti-Terror-Terror Hand in Hand gingen.

Von "Narren", "dem Deutschen" und anderen "Hobbits"

Unabhängig davon was nun tatsächlich hinter der letzten Scharping-Affäre steht – kann er einfach nicht den Mund halten oder hat er tatsächlich etwas Wahres über die weitere Entwicklung gesagt – macht sie doch eines deutlich: Es ist tatsächlich ein Narr, wer die Ausweitung des Krieges ausschließt! Wo, warum und mit welchem Ziel in der nächsten Zeit gebombt wird, steht in den Sternen. Auch in dieser Hinsicht haben es die kleinen Hobbits im Film einfacher. Sie wissen wofür sie kämpfen: für die Erhaltung, den Schutz und die Rückkehr in ihr kleinbürgerlich-spießiges Auenland. Vermeintlich selige fordistische Zeiten. Heute scheint dies keiner mehr recht zu wissen. Und auch in dieser Hinsicht sind wir einen Schritt weiter als noch im Kosovokrieg, vom Golfkrieg ganz zu schweigen. Stand beim Überfall auf Kuwait die offenkundige Verletzung des Völkerrechts außer Frage – nur die Legitimität dieser feudal-autoritären Oligarchie wurde zuweilen angezweifelt –, und wurde beim Bosnien- wie beim Kosovokrieg die Verteidigung der Menschenrechte noch als Legitimation angeführt – wenn auch der gleichzeitige Verstoß gegen völkerrechtliche Normen wenigstens noch ein Problem darstellte (für das man erst mit einer Kommission antworten musste, die dann Anfang Dezember, passend zum neuen Krieg, den alten legitimierte) - dann spielen heute Völker- und Menschenrechte kleine Rolle mehr für die Legitimation diese Krieges. Seine Legitimation ergibt sich direkt aus der Bedrohung - und nur weil in diese Richtung noch gar nichts erreicht ist, verweist man gerne darauf, dass zumindest die afghanischen Frauen wieder unverschleiert auf die Straße gehen dürfen. Dafür ist aber die Verletzung der Völker- und Menschenrechte durch die Allianz selbst inzwischen Legion – und schlimmer noch: selbst das interessiert eigentlich kaum noch jemand. Nicht nur treffen die neuen Sicherheitsgesetze in der BRD kaum auf Gegenwehr, wo noch in den 60er Jahren die Verabschiedung der Notstandsgesetze die bislang größte außerparlamentarische Oppositionsbewegung auf die Straßen gebracht hat. In anderen Ländern die gleiche Tendenz. Zur Schutz der "inneren Sicherheit" ist alles erlaubt, müssen Menschenrechte oder gar biedere bürgerliche Freiheitsrechte weltweit zurückstehen.

Die Frage ist jedoch, was diese Entwicklung bedeutet und wie sie zu kritisieren ist? Haben wir nicht immer gewusst, dass Recht nur ein Ausdruck von Herrschaftsverhältnissen ist? Haben diese sich nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes und im Zuge der neoliberalen Globalisierung der letzten 20 Jahre aber gravierend gewandelt, dann verändern sich eben auch die Rechtsverhältnisse. Oder sollten wir nicht doch die Geltung elementarer Rechtsstandards gegen ihre offenkundige Verletzung verteidigen? Denn letztlich ist Recht und Gesetz immer auch eine Rationalisierung von Herrschaft, indem es die Herrschenden an die Einhaltung von Regeln und Normen bindet, also zu einer gewissen Selbstbindung der Macht beiträgt. Inwieweit sind nicht Rechte darüber hinaus selbst ein elementarer Gehalt sozialer Emanzipation, sollten also nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden? Schließlich definierte sich auch die alte Internationale mal dadurch, dass sie erklärte, sie "erkämpft das Menschenrecht".

Zwei Punkte fallen dabei ins Auge: Einmal die Unverfrorenheit, mit der Rechtsbeugung betrieben, noch mehr, mit welcher Gleichgültigkeit sie hingenommen wird. Und zum zweiten, dass Nationalstaaten kein definitiv umgrenztes Territorium mehr darstellen, in der der jeweilige Staat die oberste rechtsetzende Gewalt ist. Wenn die USA allen Ernstes mehr als einen Monat nach Beginn der Angriffe auf Afghanistan mit einem Video an die Öffentlichkeit trat, dass nun endlich einen Beweis für die Verantwortung Bin Ladens liefern sollte, dann sagt das eigentlich alles über die Qualität der "Beweise", die zuvor im Geheimen zwischen den "Staatsmännern" ausgetauscht wurden. Wenn dann aber noch dieses Video und seine Übersetzung offenkundig frisiert war, dann erstaunt eigentlich nur noch eines: Wenn alle anderen Staaten und ihre Bevölkerung in der Mehrheit offenkundig belogen werden wollen – denn anders lässt sich die mangelnde Empörung nicht mehr beschreiben -, warum macht sich der CIA überhaupt noch die Arbeit? Sicher war das Video auf die Öffentlichkeit in arabischen oder islamischen Ländern gerichtet, also ein Teil des Propagandakrieges zwischen Bin Laden und Bush. Selbst diese Propaganda kann auf Recht nicht einfach verzichten, muß selbst die absurdesten Handlungen noch zu legitimieren versuchen. Recht verschwindet also nicht einfach, sondern muß – wenigstens als Fiktion oder als kollektive Illusion, an die man zu glauben bereit ist – als Machtressource erhalten bleiben. Nur ist dabei das Recht eben auch zu einer Ressource im symbolischen Kampf um die Rechtfertigung der Anschläge und der Gegengewalt degradiert worden – von Bush nicht weniger als von Bin Laden oder anderen Führern, die ihre Aktionen zu untermauern, eigentlich nicht mehr ernsthaft zu rechtfertigen versuchen.

Deswegen spielt es auch keine Rolle mehr, ob Aktionen "gegen den Terror" nationalen Gesetzen oder den Regeln des Völkerrechts widersprechen. Die Schillyschen "Sicherheitsgesetze" haben, bei aller neuen Qualität in der Einschränkung von Bürger- und Menschenrechten, fast schon einen antiquierten Charakter. Der Staat BRD verschafft sich noch einen Anschein von Rechtsstaatlichkeit. Gravierender sind die Fälle, in denen das schon gar keine Rolle mehr spielt. Nicht nur die Militärgerichte in den USA und die große Zahl an willkürlichen Verhaftungen ohne jeglichen Verdacht, von Beweisen ganz zu schweigen, zeigen, wohin die Reise auch in Europa gehen könnte. Die britische Regierung geht auch auf diesem "dritten Weg" jenseits von Rechtsstaat und Diktatur voran. Am gravierendsten – und der Tendenz nach auch ursächlich beheimatet – sind diese Tendenzen aber im zwischenstaatlichen Bereich. Und hier spielt eben das Ende der "Westfälischen Ordnung" hinein. Mit dem Westfälischen Frieden wurde ja mit dem 30jährigen Krieg bekanntlich die Zeit der Religionskriege beendet, und zwar durch das Prinzip der Anerkennung der territorialen Integrität souveräner Staaten, zunächst noch spätfeudal-absolutischen Charakters, später dann national definierter bürgerlicher Staaten. Nationale Souveränität ist damit an die zwischenstaatliche Anerkennung gebunden; und sie ist gleichzeitig eine Quelle des "Prinzips legitimer Gewaltförmigkeit" gegenüber der eigenen Bevölkerung (von der anderen, wichtigeren, der Volkssouveränität mag man gar nicht mehr sprechen). Damit war eine Herrschaftsform etabliert, die schon immer einen höchst widersprüchlichen Charakter hatte: nämlich eine Form bürgerlicher Allgemeinheit, die sich nur im Gegeneinander, in der Konkurrenz partikularer Staaten etablieren konnte (denn auf dieser Konkurrenz beruht sie letztlich) und die daher a priori antagonistisch ist. Nun war es die – von heute aus gesehen - naive Hoffnung der bürgerlichen Aufklärung, dass diese dynamische Situation sich zu einem "weltbürgerlichen Zustand" (Kant) weiterentwickelt, in der die bürgerlichen Verfassungen quasi von selbst die gesellschaftlichen Antagonismen überwinden und zu einem "ewigen Frieden" unter selbständigen bürgerlichen Republiken fortschreiten. Kant war aber weniger naiv in der Annahme, dass allein die Rechtsform eine solche "Evolution" absichern könne. Selbst die Legitimation des Kosovokrieges durch Jürgen Habermas beruhte noch auf einem ähnlichen Gedankenkonstrukt – dass eine zunehmende Verrechtlichung internationaler Beziehungen die grundlegenden Antagonismen überwinden könne, durch die Staat und Recht in der bürgerlichen Gesellschaft gekennzeichnet sind.

Doch schon damals war abzusehen, wohin die Reise tatsächlich geht. Nicht mehr die Rechtsbindung staatlicher Gewalt, sondern ihre Freisetzung von selbstgesetzten Regeln steht seit einigen Jahren auf der Tagesordnung. Und das nicht erst seit dem 11.September. Insofern hat in der Tat dieses Datum, isoliert betrachtet, nicht sehr viel verändert. Aber eine Entwicklung ist seitdem doch evident geworden: Dass mit dem Ende der "Westfälischen Ordnung" Gewalt und Recht eine neue Synthese eingehen – eine, die mit dem Terminus "Refeudalisierung des internationalen Systems" nicht recht zu erfassen ist. Denn auf der einen Seite haben wir es zwar scheinbar mit einer Rückkehr in eine Ordnung zu tun, in der jeder Staat, solange er nur über entsprechende Macht verfügt, die Gewaltmittel einsetzen kann, die ihm zur Verfolgung seiner Absichten opportun erscheinen. Auf der anderen Seite ist dabei aber die Rechtsform nicht einfach verschwunden. Vielmehr wird sie eben funktionalisiert als eine weitere, diskursiv erzeugte Machtressource, deren sich Akteure zur Legitimation ihrer Absichten bedienen. Und darin ähneln sich Bin Laden und die westlichen Kreuzritter erstaunlich. Was den eigenen Absichten dient, wird mit einem Mäntelchen der Legitimität umhüllt, dass sich aus den unterschiedlichsten dubiosen Quellen speist. Konsistentes Völker- oder UN-Recht ist nicht mehr notwendig. Es tut auch der Verweis auf einen besonderen Notstand. Fast wäre man geneigt, Carl Schmitt nachträglich doch recht zu geben: "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand gebietet." Nur darf die Kehrseite dabei nicht übersehen werden: Dass diese Souveränität selbst der stärksten Allianz nichts mehr nützt, weil sie die Bedrohung selbst produziert, die sie auf einen äußeren Feind projiziert.

Trotzdem spricht die ganze Entwicklung nicht einfach für ein Überholtsein des Nationalstaats, wie dies in der Politikwissenschaft immer wieder vermutet wird. Dies kann man schon an der Definition des "Terrorismus" erkennen. Obwohl historisch immer wieder im Kontext staatlicher Herrschaftsstrategien entstanden - man denke nur an den "Grande Terreur" der französischen Revolution -, definiert die EU Terroristen immer noch allein als Gegner staatlicher Ordnung. Genauso wie die Definition der "Schurkenstaaten" rein relativ zu den USA erfolgt (wie zuletzt Noam Chomsky sehr deutlich gezeigt hat), genauso wird auch die Definition der Terroristen im Sinne des Interesses der wichtigsten Akteure formuliert. Und das nationalstaatliche "Gewaltmonopol" wird dabei formal bestätigt. Gleichzeitig wird jedoch die Souveränität der Staaten wie ihr "Monopol legitimer Gewaltsamkeit" faktisch negiert, solange es im Interesse mächtigerer Staaten liegt. Beide Tendenzen lassen sich jedoch zwanglos miteinander vereinbaren. Staaten werden nur noch als Herrschaftsinstrumente gegen den Teil ihrer eigenen Bevölkerung gebraucht, der der "neuen Weltordnung", aus welchen Gründen auch immer, feindlich gegenüber steht. Darüber hinaus kann aber ihre Souveränität jederzeit widerrufen werden, sei es, dass sie an dieser Aufgabe scheitern und "dem Terror" nicht entschieden genug entgegentreten, sei es, dass sie selbst Interessen verfolgen, die den USA oder der NATO unangenehm sind.

Daher gibt es eigentlich auch keine Kriege im herkömmlichen Sinne mehr – als Auseinandersetzungen zwischen mehr oder weniger als souverän anerkannten Einheiten. Kriege sind quasi endemisch geworden, sind unmittelbar mit den sozialen Verhältnissen verschmolzen, deren aufgestaute Gewaltförmigkeit sie lediglich zum Vorschein bringen. Der 11. September hat dementsprechend nicht nur offenbart, dass der Kampf um ein neues Weltsystem im vollen Gange ist (Wallerstein), sondern er hat auch die "Regeln" deutlicher werden lassen, in denen dieser Kampf ausgetragen wird. Und da offenbart sich die "neue Weltordnung" als eine, in der Kriege keine mehr sind, weil die "Evolution des Völkerrechts" sie nicht mehr erfassen kann. Horkheimer und Adorno ergänzten die "Dialektik der Aufklärung" nach dem Ende des Nazireiches um einen Abschnitt, der mit dem Satz beginnt: "Aber es gibt keine Antisemiten mehr." Wie heute der Krieg war auch der Antisemitismus quasi in das neue internationale System, damals in das entstehende System der Blockkonfrontation, eingewandert. Nicht mehr der offene Antisemitismus, sondern das "Ticketdenken" als Ausdruck des projektiven Ressentiments war nun Gegenstand ihrer Kritik. Nach dem Ende der Blockkonfrontation ist der Krieg, der dort als atomare Bedrohung, als möglicher atomarer Weltkrieg institutionalisiert war, ebenfalls in die Gesellschaft eingewandert. Und die "Allianz gegen den Terror" ist nur sein neuester, aber wohl kaum sein letzter Ausdruck. Manchmal möchte man die Hobbits im Film wirklich beneiden ...

(geschrieben Ende Dezember 2001)

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