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Die Entsorgung von 68

von Joachim Hirsch

Eines war die Debatte über 68 und die 68er gewiss: ein mediales Theater, das erfolgreich überdeckt hat, was politisch hätte Thema sein müssen, von den Kriegsverbrechen auf dem Balkan über den Schwenk der Bundesregierung in der Gentechnologiepolitik, die Privatisierung der Sozialversicherungssysteme bis hin zu den diversen Kapitulationen in der Umweltpolitik. Es war eine Selbstinszenierung der politischen Klasse, eingeleitet und forciert durch den Springer/Burda-Komplex und in Gang gehalten von einer CDU/CSU, deren konzeptionelles Dauerdesaster damit aber auch nicht überdeckt werden konnte. Die etwas frühzeitige Eröffnung des nächsten Bundestagswahlkampfs läßt schon jetzt erahnen, was da zu erwarten ist. Wie immer spielt der Spiegel eine besonders aparte Rolle, arbeitet er doch beharrlich daran, die grüne Führungsriege so zu demontieren, dass die FDP wieder Zugang zum Koaltionspoker bekommt.

Der Schuss ging allerdings auch nach hinten los. Nicht nur drohte die üble Rolle der "Bild"-Zeitung einst im Mai wieder zum Thema zu werden. Offenbar hatten auch die jungen Männer, die gerade die Bild-Redaktion übernommen haben übersehen, dass es den Mächtigen in diesem Lande zwar recht ist, wenn der Regierung Kandaren angelegt werden, sie aber auch nicht völlig demontiert werden darf. Immerhin hat das Kapital derzeit keine bessere zur Verfügung. Diese Fehleinschätzung der realen Machtverhältnisse hat schließlich sogar einem FAZ-Herausgeber seinen Posten gekostet. Opfer und Beschädigte also allerseits.

Nicht nur die Kampagne von Bild, Welt, Focus & Co. erinnerte an den Mai 68. Extensiv zelebriert wurde auch, was seit dem Deutschen Herbst zum festen Bestandteil der hiesigen politischen Kultur gehört: sich zu entschuldigen, sich (von sich selbst) zu distanzieren, (den früheren Überzeugungen) abzuschwören, (eigenes Handeln) zu verurteilen. Kurz: eine Orgie des zivilgesellschaftlichen Fundamentalismus in Neuauflage. Schröder traf es vorerst nur anläßlich des Rinderwahnskandals, für Fischer kam es härter und am Ende hat es auch noch Trittin erwischt, der sich von etwas distanzieren musste, mit dem er überhaupt nichts zu tun hatte. Insgesamt kamen die ehemaligen K-Grüppler allerdings besser weg, war ihre Radikalität doch immer schon eher verbal und ihr Sinn für Ordnung und Disziplin geradezu sprichwörtlich. Merkwürdig ist der Kontrast zum CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden März. Der musste sich nicht entschuldigen, sondern hat versucht, seine blasse Biedermannsgestalt mit etwas Jugendradikalität aufzupolieren, wohl in der Hoffnung, damit Quote zu machen. Fischers Beliebtheit beim Volk ist nämlich kaum angekratzt. Dessen Interesse an dem Spektakel hält sich ohnehin in Grenzen, und bekanntermaßen kommen Politiker dann am besten weg, wenn sie wie Du und Ich sind. Schließlich haben alle irgendwie Dreck am Stecken. Jedenfalls erfüllt Fischer perfekt den Wunschtraum deutscher Muttis: ein wilder Junge, der vernünftig geworden ist und es zu etwas gebracht hat.

Nun könnte das alles dem Satz folgen, das es das gesellschaftliche Sein ist, das Bewusstsein bestimmt, und für viele liegt zwischen 68 und heute eben ein erfolgreicher Marsch nicht nur durch die Institutionen, sondern in den Staat. Das Berliner Außenministerium ist nicht das wilde Frankfurter Westend. Das Verhältnis zum staatlichen Gewaltmonopol ist nicht dasselbe, wenn man es in Gestalt von Polizeiknüppeln am eigenen Leib verspürt oder wenn man es selbst verwaltet. Fischer meint heute, das Gewalt nur das äußerste Mittel sein könne, wenn es um Freiheit und Leben ginge, aber auch dann nur "in institutionell gefestigter Form" (Spiegel 4/2001). Damit meint er wohl die NATO-Militärmaschinerie. Die CDU, die die GRÜNEN gebetsmühlenhaft dazu auffordert, endlich ihr Verhältnis zur Gewalt zu klären, hat offenbar noch nicht bemerkt, dass dies längste geschehen ist: indem man sie als staatliche einsetzt.

Gelegentlich wurde der neue Geschichtsstreit als eine Art Selbstgespräch der zu Ämtern und Würden gekommenen 68er-Generation bezeichnet. Daran ist insofern etwas Wahres, als er sich weitgehend im geschlossenen Zirkel der politischen Klasse und ihrer Intellektuellen abspielt, munitioniert mit Resentiments, persönlichen Abrechnungen und Profilierungsgelüsten, die zum Dauerfutter für die Medien wurden. Wahr ist aber auch, dass sich hinter den Auseinandersetzungen, Rechtfertigungen, Distanzierungen und (Selbst-)Kritiken ein gemeinsames Interesse verbirgt: die historische Entsorgung der 68er Revolte und ihrer Folgen. Das dramatische Theaterstück mit seinen Helden, Schurken und Chargen hat ein Drehbuch. Inszeniert wurde ein politischer Diskurs, der sich in den moralisierenden Normalisierungsgestus einfügt, der sozusagen zum Markenzeichen der "Berliner Republik " geworden ist und mit dem diese ihre immer unverblümter vorgetragene Macht- und Interessenpolitik bemäntelt.

Wie die einiger 68er, ist auch die "Biographie" dieses Landes von gewissen Brüchen nicht eben frei. Dazu gehört nicht nur der Nationalsozialismus, sondern auch dessen Beschweigung und Verdrängung in der Nachkriegszeit, das autoritäre Regime der Adenauerrepublik im Kalten Krieg, aber auch die Revolte von 68, die nicht zuletzt damit brechen wollte. Die Inszenierung der 68er-Affäre gehört zu den Entsorgungs-, Relativierungs- und Moralisierungsmanövern, mit denen das wieder was gewordene Deutschland seine neue "Identität" konstruiert. Nach dem Motto: da gab es durchaus Unschönes, gar Schlimmes, aber alle können mal Fehler machen, hin und wieder kann etwas schiefgehen, aber die Menschen sind lernfähig und können sich bessern. Selbst das einstige Putztruppenmitglied kann sich zu einer Person mausern, die im Kern Pazifist ist, jedenfalls nur dann Kriege führt, wenn das zur Verwirklichung humanitärer Ideale unumgänglich ist. Wenn Geschichte so zu einer Angelegenheit individueller Motive und Handlungen wird, braucht über gesellschaftliche Strukturen und Verhältnisse nicht mehr geredet werden. Die "Frankfurter Rundschau" schreibt in einer impertinent salbungsvollen Eloge, dass Fischer für "die Gestaltbarkeit unseres Staates" stehe, für das "Vertrauen gegenüber unserem Gemeinwesen, das in der Lage ist, Gegner zu integrieren". Wie gestaltbar es ist, hat die regierende Koalition mit ihrer neoliberalen Standortpolitik und ihren Kotaus vor den Unternehmern gezeigt. Und integriert hat es in der Tat viele, jedenfalls nicht wenige Nazis, und neuerdings erfreuen sich nun auch die Rechtsradikalen der Gunst staatlicher "Aussteigerprogramme". Ganz anders als diejenigen, die dem Weg ehemaliger Oppositioneller in den Staat nicht gefolgt sind. Die in diesem Zusammenhang unvermeidliche Angela Merkel behauptet, dass es in (West-) Deutschland seit Kriegsende stets "eine freiheitliche, weltoffene, solidarische Republik" gegeben habe, "auf die wir stolz sein können" (Frankfurter Rundschau, 18.1.2001). Sie muss es wissen. Fischer würde ihr da wohl inzwischen im Prinzip zustimmen. Das ist Entsorgung von Geschichte.

Fischer hält sehr vieles an der 68er Revolte inzwischen irgendwie für einen Fehler, bestenfalls entschuldigt durch gewisse Zeitumstände, die er aber lieber nicht benennt. Dies würde nämlich heißen, auf die Macht- und Interessenstrukturen zu sprechen zu kommen, die seit damals unverändert herrschen. Geflissentlich vergessen wird auch, dass die Kritik an RAF & Co. aus der linken Szene heraus schon in den siebziger Jahren ziemlich gründlich geleistet wurde. Was waren denn die Zeitumstände? Eine Gesellschaft, deren Regierungsform ein biedermeierlicher Absolutismus war, die deutsche Unterstützung des Vietnamkriegs, die Wiederaufrüstung, die Notstandsgesetzgebung, mit der demokratische Grundrechte legal zur Disposition gestellt wurden, die große Koalition und die "formierte Gesellschaft", antikommunistische Hetzjagden auf Oppositionelle, ein von der Polizei erschossener Demonstrant, ein NSDAP-Mitglied als Bundeskanzler, die institutionelle Reetablierung des Rechtsradikalismus, später der Radikalenerlass und die Berufsverbote – jetzt alles Schnee von gestern. Überhaupt nicht mehr zur Debatte steht die Frage, warum Kämpfe um mehr Freiheit und Selbstbestimmung unter den herrschenden Verhältnissen bisweilen gewaltsame Formen annehmen müssen und dass von Gewalt nicht gesprochen werden darf, ohne die herrschenden Machtverhältnisse insgesamt zu thematisieren. Genau dies wird durch Individualisierung und Moralisierungvermieden. Wenn allerdings tatsächlich alles so schön "gestaltbar" ist, besteht für solche Überlegungen auch keine Notwendigkeit mehr.

Sieht von einigen Scharfmachern ab, so herrscht inzwischen Eiverständnis darüber, dass die Revolte zwar ihre unschönen Seiten hatte, aber insgesamt eben viel zur Demokratisierung und Zivilisierung dieses Landes beigetragen habe. 68 wird damit zur Rechtfertigung der heute bestehenden Verhältnisse, zu einer Art evolutionärer Etappe auf dem Weg in die heute existierende "freiheitliche, weltoffene, solidarische Republik" (nochmals O-Ton Merkel). Derlei Selbstbeweihräucherungen der "Zivilgesellschaft" mutet freilich einigermaßen seltsam an in einem Lande, dessen historische Wurzeln in die kläglich zu Ende gegangene preußische Militärmonarchie und den Naziterror zurückreichen und durchaus noch lebendig sind – siehe nicht zuletzt auch die gerade anhebenden Preußenfeiern. Der Normalisierungsdiskurs in bezug auch 68 transportiert eine zentrale Botschaft, nämlich die Unterscheidung zwischen "Gewalt" und "friedlichem" Protest. Während Gewalt nur in Form ökonomischer Macht- und staatlicher Herrschaftsverhältnisse legitim ist, hat Kritik und Opposition vor allem friedlich zu sein, am besten in der Form staatlich organisierter Lichterketten. Das gar nicht so geheime Einverständnis der politischen Klasse und ihrer Medien besteht darin, dass radikale Kritik nicht zulässig ist und immer schon zumindest unter dem Verdacht der Schreibtischtäterschaft steht. Dabei geht es gar nicht eigentlich um "Gewalt". Diese Metapher steht vielmehr für soziale Praktiken und Politikformen, die den herrschenden widersprechen und entgegentreten. Das vor allem stand hinter den Auseinandersetzungen der sechziger und siebziger Jahre und das steht hinter den aktuellen Inszenierungen herrschenden "Zivilgesellschaft". Dass gesellschaftliche und politische Verhältnisse durch physische Gewalt emanzipativ verändert werden könnten, war ein Irrtum, dem viele in und nach der Protestbewegung erlegen sind. Sie sind gescheitert oder wurden "integriert". Heute geht es um etwas anderes. Die Geschichtsdebatte um 1968 reiht sich ein in den Gründungs- und Selbstfindungsprozess der Berliner Republik, der nicht zuletzt in der Durchsetzung des Einverständnisses darüber besteht, dass an den herrschenden Zuständen grundsätzlich nichts zu ändern ist.

Fischer sagt heute, dass das, was er in den wilden 68ern gemacht habe, ein "schwerer Fehler" gewesen sei. Als individuelle Distanzierung eines zum Staatsmann Gereiften von seiner weniger angepassten Jugend hat das eine gewisse Plausibilität. Er macht damit aber zugleich eine Aussage über gesellschaftliche Verhältnisse und historische Entwicklungen, die nicht nur falsch ist, sondern eindeutigen Herrschaftsinteressen dient. So schlimm kann der Fehler im übrigen gar nicht gewesen sein. Denn immerhin hat ihm genau das zu seiner Karriere verholfen. Insofern bleiben individuelle Biographien trotz aller Glättungsversuche ebenso "gebrochen" wie die Geschichte einer Gesellschaft, die sich auf Gewalt gründet.

© links-netz April 2001