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Was Adorno zu Pegida hätte sagen können

Sozialpsychologische Ursachen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit

Joachim Hirsch

Adorno und Horkheimer haben sich mit Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit nicht so umfassend beschäftigt wie mit dem Antisemitismus. Dennoch gibt es insbesondere in Adornos Schriften Überlegungen, die – obwohl schon vor mehr als fünf Jahrzehnten niedergeschrieben – heute noch aktuell und beachtenswert sind, gerade in Bezug auf eine der neuesten Erscheinungen dieser Bewusstseinsformen, die „Pegida“-Demonstrationen. Es geht Adorno dabei vor allem um die sozialpsychologischen Bedingungen und Mechanismen, die nationalistisch-fremdenfeindliche Haltungen entstehen lassen. Dabei greift er auf die Studien des Instituts für Sozialforschung zum autoritären Charakter zurück, insbesondere auf die Erkenntnis, dass die bei den modernen Menschen vorhandene Ich-Schwäche dazu führt, dass diese ihren Halt im Kollektiv suchen (Schraven 2014, 200). Dabei spielt der Begriff des „Kollektiven Narzissmus“ eine zentrale Rolle. „Kollektiver Narzissmus läuft darauf hinaus, dass Menschen das bis in ihre individuellen Triebkonstellationen hineinreichende Bewusstsein sozialer Ohnmacht, und zugleich das Gefühl der Schuld, weil sie das nicht sind und tun, was dem eigenen Begriff nach sein und tun sollen, dadurch kompensieren, dass sie, real oder bloß in der Imagination, sich zu Gliedern eines Höheren, Umfassenden machen, dem sie die Attribute alles dessen zusprechen, was ihnen selbst fehlt und, und von dem sie stellvertretend etwas wie Teilhabe an jenen Qualitäten zurückempfangen“ (Adorno 1972, 114). Das könnte vielleicht auch den heute allgemein verbreiteten Hang erklären helfen, dass die Leute gerne dorthin gehen, wo schon viele sind, ganz egal, was los ist. Auf jeden Fall spielt das Kollektiv gerade in der Ära des neoliberalen Individualismus offenbar eine erstaunliche Rolle.

Diese Überlegungen entwickelte Adorno vor einem gesellschaftlichen Hintergrund, der heute noch sehr viel deutlicher ausgeprägt ist als damals in der Hoch- und Endphase des fordistischen Nachkriegskapitalismus, als Vollbeschäftigung, soziale Sicherung und halbwegs kalkulierbare Lebensperspektiven noch eher die Regel waren. Er skizzierte in erstaunlich vorausschauender Weise die Verhältnisse, die sich im Zuge der neoliberalen Transformation Jahrzehnte später durchgesetzt haben. Dass er dies tun konnte, verdankt sich seiner Einsicht in die grundlegenden und im Prinzip immer wirksamen Mechanismen, die Struktur und Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft bestimmen. Dass die Menschen nur noch das Objekt auf globaler Ebene wirksamer ökonomischer Vorgänge, kaum durchschaubarer Machtstrukturen und unbeeinflussbarer politischer Entscheidungen sind, tritt heute weitaus deutlicher zutage als damals.

Dazu nur ein aktuelles Beispiel: Die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen der EU mit den USA (TTIP), die in enger Kooperation mit den großen Unternehmen geführt werden und das darauf abzielt, die einzelstaatlichen demokratischen Institutionen und Verfahren zugunsten internationaler Konzerne in entscheidendem Maße weiter auszuhöhlen, werden unbeirrt weitergeführt, obwohl das nicht nur von einer Vielzahl einschlägiger Experten kritisiert wird, sondern auch die Mehrheit der Bevölkerung sich dagegen stellt. „Die Ich-Schwäche heute, die gar nicht nur psychologisch ist, sondern in der der seelische Mechanismus die reale Ohnmacht des Einzelnen gegenüber der gesellschaftlichen Apparatur registriert, wäre einem unerträglichen Maß an narzisstischer Kränkung ausgesetzt, wenn sie nicht durch Identifikation mit der Macht und Herrlichkeit des Kollektivs sich einen Ersatz suchen würde. Eben dazu taugen die pathischen Meinungen, die unaufhaltsam aus dem infantil narzisstischen Vorurteil hervorgehen, man selber sei gut, und was anders ist, minderwertig und schlecht“ (Adorno 2003b). Meinung tritt an die Stelle eines informierten Urteils. Auf den Vorhalt, in Dresden lebten nur 0,2 Prozent AusländerInnen reagierte eine Demonstrationsteilnehmerin mit der Äußerung, ihrer Meinung nach sei dies anders. Was darauf hinweist, wie aussichtsreich es ist, mit Menschen zu diskutieren deren „Meinung“ informationsresistent ist. „Für ihre Ohnmachts- und Angstgefühle geben die Menschen aber nicht den gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern sich selbst die Schuld. Indem sie sich vorstellen, in einer Macht aufzugehen, die größer als sie selbst ist, versuchen sie sich selbst aufzuwerten“ (Schraven 2014, 200).

Massenansammlungen mit scheinbar Gleichgesinnten bieten dazu eine schöne Gelegenheit, insbesondere dann, wenn sie zum Medienhype werden und damit zusätzliche Bedeutung gewinnen. Ähnliches lässt sich auch bei den grandiosen Public Viewing-Veranstaltungen anlässlich von Fußballmeisterschaften beobachten. Die Pegida-Demonstrationen haben ihre Anziehungskraft – die sie auch zum bundesweiten Sammelpunkt Rechtsradikaler werden ließ – sehr wesentlich dem zu verdanken, dass außerordentlich breit über sie berichtet wurde und es ihre Organisatoren bis in die prominenten Talkshows schafften. Bei ebenso mächtigen Blockupy-Demonstrationen war dies nicht der Fall. Sie schafften es bestenfalls zu einem Eineinhalbminutenspot in den Fernsehnachrichten. Durch diese Medienpräsenz bekam ein eigentlich lokales Ereignis weltweite Aufmerksamkeit. Der lokale Bezug ist auch deshalb von Bedeutung, weil das CDU-regierte Sachsen sich durch eine gewisse Rechtslastigkeit auszeichnet, wie die einschlägigen Polizei- und Justizaktionen in der letzten Zeit belegen. Dresden feiert sich – wie derzeit wieder – als besonderes Opfer der alliierten Luftangriffe. Um eine Art von kollektivem Narzissmus handelt es sich auch da. So waren die Zerstörungen, die Städte wie Aleppo oder Gaza heimgesucht haben dabei keiner Erwähnung wert.

Nun hat sich allerdings die Bedeutung des von Adorno untersuchten Nationalismus im Zuge der Transformation der Staaten und des Staatensystems, der Herausbildung transnationaler Institutionen und Herrschaftsapparaturen sowie wachsender Migrationsbewegungen im Zuge der sogenannten Globalisierung erheblich relativiert. Von einigermaßen geschlossenen Nationalstaaten kann immer weniger die Rede sein. Die Selbstbezeichnung „Patriotische Europäer“ verweist auf diesen Zusammenhang. Es wird damit versucht, einen staatenübergreifenden Nationalismus anzurufen, der allerdings zumindest bisher kaum materielle Grundlagen hat. Auf der Straße sieht das deshalb auch etwas einfacher aus. Auf den Zusammenkünften der „patriotischen Europäer“ wimmelt es von Deutschlandfahnen und schwarz-rot-goldenen Transparenten.

Die Schwierigkeit, noch nationale Kollektive imaginieren zu können, scheint auch ein Grund dafür zu sein, dass religiöse Gemeinschaftsvorstellungen und Feindbildkonstruktionen zunehmend an die Stelle des traditionellen Nationalismus und nationalistischer Feindbilder treten (vgl. Schraven 2014, 206). Und dies weltweit. Fundamentalistischer Islam und pseudo-islamischer Terrorismus haben hier ihren Nährboden. Der einstige säkulare und auf Befreiung zielende arabische Nationalismus ist von den Aktivitäten einer staatenübergreifenden Gruppierung abgelöst worden, sie sich nun „Islamischer Staat“ nennt. Religiöse Gemeinschaftsvorstellungen scheinen immer stärker an die Stelle nationaler zu treten. Hierzulande verteidigt man das (christliche) Abendland gegen einen Islam, der nicht mehr eindeutig als Äußeres lokalisiert werden kann, sondern die Gesellschaft gewissermaßen von innen her bedroht.

Die Gefährdung des gesellschaftlichen Status beschränkt sich keineswegs auf die jetzt schon Ausgegrenzten, sondern ergreift zunehmend auch die Angehörigen der „Mittelschichten“. Diese sehen sich durch die mit der ökonomischen Globalisierung verbundenen Prozesse zumindest tendenziell in ihrer Existenz gefährdet. Daher die Mischung von Rechtsradikalen und „anständigen Bürgern“, von der in Bezug auf die Pegida-Demonstrationen die Rede ist. Mit der Verteidigung des christlichen Abendlandes ist genau genommen der gesellschaftliche Status Quo von inzwischen großen gesellschaftlichen Gruppen gemeint, die vom globalisierten Kapital verschlungen zu werden drohen (Schraven 203). Dies ist allerdings auch genau die Mischung, die – in einer ökonomisch in gewisser Weise ähnlichen Situation – die Nationalsozialisten an die Regierung gebracht hat.

Die Pegida-Demonstrierenden wenden sich gegen „die da oben“, gegen Parteien und PolitikerInnen überhaupt (gegebenenfalls mit Ausnahme der „Alternative für Deutschland“). Und gegen die „Lügenpresse“, womit wohl der Teil der Medien gemeint ist, der tatsächlich noch einige vernünftige Informationen liefert, weil sie dem Weltbild der Protestierenden widersprechen. Die nicht nur hier aufscheinende „Politikverdrossenheit“ hat ihre Ursachen. Dazu noch einmal Adorno: „Der Einzelne wird zur Gleichgültigkeit gegen das Staatswesen verführt, weil er das Gefühl hat, dass er über den objektiv bestimmten Lauf der Dinge doch nichts vermag.“ „Daher hat der Gedanke, den eigenen Staat zu bestimmen längst nicht mehr jene die Massen bewegende Kraft, die er noch im 19. Jahrhundert ausübte. Die Individuen ahnen, bewusst oder dumpf, dass ihr Leben gar nicht wirklich von der Staatspolitik, sondern von den gleichsam elementaren Vorgängen abhängt, die unterhalb der staatlichen Organisationsform im Kern der Gesellschaft selbst sich abspielen“ (Adorno 2003a, 290).

Adorno ist der Ansicht, dass Aufklärung gegenüber verfestigten „Meinungen“ keine allzu großen Chancen hat, hält sie aber trotzdem für notwendig (Adorno 2003c, 141). Spätestens nachdem der SPD-Chef Sigmar Gabriel Pegida-Anhängern „zugehört“ und mit ihnen gesprochen hat, ist die Diskussion darüber entbrannt, was der Sinn und Zweck eines „Dialogs“ mit ihnen sei. Der Verdacht ist nicht unbegründet, dass es dabei von Seiten der etablierten Parteien um Anbiederei geht, um die Absicht, auf das offene und massive Aufbrechen von auch in der gesellschaftlichen „Mitte“ weit verbreiteten rassistischen und fremdenfeindlichen Einstellungen mit einem weiteren politischen Rechtsruck zu reagieren. Diese Einstellungen und Bewusstseinsformen gibt es schließlich auch bei vielen ihrer AnhängerInnen und WählerInnen. Die entsprechenden Verwerfungen gehen durch die Parteien hindurch. Während Gabriel mit seinem Auftritt seine Generalsekretärin düpiert hat, stellte sich der sächsische CDU-Ministerpräsident Tillich mit seiner Äußerung, der Islam gehöre nicht zu Sachsen gegen seine Kanzlerin, die das Gegenteil für ganz Deutschland festgestellt hatte.

Diejenigen, die jetzt den „Dialog“ fordern, müssten gefragt werden, ob man mit Rassisten und Menschenverächtern überhaupt reden sollte. Da hilft auch die Unterscheidung zwischen Rechtsradikalen, Hooligans und „anständigen“ Bürgern wenig: Sie versammeln sich unter denselben Losungen. Man sollte die Probleme der Menschen durchaus ernst nehmen, soweit sie ein Grund für das Aufbegehren sind. Dann allerdings ginge es weniger um bessere Kommunikation und Aufklärung, wie jetzt immer wieder beschworen wird. Es gälte vielmehr, möglicherweise vorhandenen Ängsten dadurch zu begegnen, dass ihre Ursachen angegangen werden. Von einer anderen Politik ist indessen überhaupt nicht die Rede. Die neoliberale Umwälzung von Ökonomie, Gesellschaft und Politik mit ihren verheerenden Folgen bleibt auf der Agenda aller etablierten Parteien. Siehe TTIP.

Literatur:

Adorno, Theodor W. 1972: Theorie der Halbbildung. In: Gesammelte Schriften Bd.8, hg. v. R. Tiedemann, Frankfurt (Main)

Adorno, Theodor W. 2003a: Individuum und Staat. Vermischte Schriften I. In: Gesammelte Schriften 20.1, Frankfurt (Main)

Adorno, Theodor W. 2003b: Meinung, Wahn, Gesellschaft. In: Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt (Main)

Adorno, Theodor W. 2003c: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, in: Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt (Main)

Schraven, Marc 2014: Die charakteristische Gestalt absurder Meinung. In: Ulrich Ruschig; Hans-Ernst Schiller (Hrsg.): Staat und Politik bei Horkheimer und Adorno, Baden-Baden.

© links-netz Februar 2015