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Die Krise des neoliberalen Kapitalismus:
welche Alternativen?

Joachim Hirsch

Dass das Auftreten der gegenwärtigen Krise einige Überraschung ausgelöst hat, ist schon erstaunlich. Eigentlich müsste bekannt sein, dass der Kapitalismus aufgrund seiner inneren Widersprüche ein im Kern krisenhaftes Gesellschaftssystem darstellt. Es gibt zwar Zeiten relativer Stabilität, doch kommt es in periodischen Abständen zu großen Zusammenbrüchen, die in der Regel dann auch zu grundlegenderen gesellschaftlichen Umwälzungen führen. Der Kapitalismus nimmt daher – was die Produktionsprozesse, die Klassenverhältnisse und die politischen Institutionen angeht – immer wieder neue Gestalten an. Kapitalistische Krisen sind im Übrigen niemals nur „ökonomisch“ bedingt. Vielmehr sind sie das Resultat sehr komplexer und miteinander in Verbindung stehender ökonomischer, politischer und ideologischer Prozesse. Jede historische Formation des Kapitalismus, die in der Sprache der Regulationstheorie durch ein spezifisches Akkumulationsregime und eine besondere Regulationsweise gekennzeichnet ist, verfügt über ökonomisch-politische Dynamiken, in denen die grundlegenden strukturellen Widersprüche in jeweils besonderer Weise zum Ausdruck kommen. Daraus folgt, dass jede dieser Formationen ihre spezifischen Krisenprozesse aufweist. Dies gilt auch für den neoliberal-postfordistischen Kapitalismus, der seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts nach dem Ende des Nachkriegs-Fordismus durchgesetzt worden war und der, wie sich heute zeigt, keinesfalls das „Ende der Geschichte“ bedeutet hat.

Um die aktuelle Krise verstehen zu können, ist ein kurzer Blick zurück notwendig. Auch die Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts hatte zu einer einschneidenden Veränderung des globalen Kapitalismus geführt. Maßgebend dafür war, dass sich schon zuvor, im Gefolge der russischen Oktoberrevolution die internationalen Kräfteverhältnisse erheblich verschoben hatten. Das Zeitalter der Ost-West-Systemkonkurrenz war angebrochen und dies war eine entscheidende Ursache dafür, dass der Kapitalismus im Gefolge der Krise für eine Zeit lang ein neues, sozusagen zivilisierteres und sozialeres Gesicht zu erhalten schien. Den Anfang dazu machte Roosevelts New Deal in den USA und nach der Niederwerfung des Faschismus im zweiten Weltkrieg kam es zu einem allmählichen Ausbau des Sozialstaats in Europa. Die Gewerkschaften wurden als politische Verhandlungspartner akzeptiert und gewannen an Stärke. Mit der Einbeziehung der „Sozialpartner“ – also Gewerkschaften und Unternehmerverbände – in staatliche wirtschafts- und sozialpolitische Entscheidungsprozesse wurden korporatistische Verhandlungsmechanismen etabliert. In den kapitalistischen Metropolen entstand der auf Vollbeschäftigungspolitik, Massenproduktion und Massenkonsum beruhende Fordismus. Möglich war dies allerdings nur deshalb, weil die Herrschenden angesichts des ökonomischen Debakels mit seinen verheerenden politischen Folgen und vor allem unter dem Druck der Ost-West-Systemkonkurrenz zu einigen politischen und sozialen Zugeständnissen gezwungen waren. Damit hatte es eine Zeit lang den Anschein, als habe der Kapitalismus sein goldenes Zeitalter erreicht, gekennzeichnet durch stetiges ökonomisches Wachstum und steigenden Massenwohlstand zumindest in den entwickelten Zentren. Stabile Kapitalprofite und steigende Masseneinkommen schienen miteinander vereinbar geworden zu sein.

Allerdings war auch der Fordismus nur eine Variante des Kapitalismus und deshalb war die Krise auch ihm eingeschrieben. Der fordistische „Traum immerwährender Prosperität“ (B. Lutz) war infolgedessen von kurzer Dauer. Die zweite große Krise des 20. Jahrhunderts brach in den siebziger Jahren aus. Die Rationalisierungsspielräume der tayloristisch-fordistischen Arbeitsprozesse begannen sich zu erschöpfen, die Kapitalprofite gingen zurück und damit wurden die sozialen Errungenschaften der Nachkriegszeit zu einer Belastung für das Kapital. Die keynesianisch-sozialstaatliche Regulationsweise geriet in Widerspruch zum herrschenden Akkumulationsregime. Der die Nachkriegszeit kennzeichnende, lang anhaltende Wachstumsprozess geriet ins Stocken. Verstärkt wurde die Krise durch das Ansteigen der Rohstoffpreise im Gefolge der drastischen Steigerungen des Rohölpreises, dem wichtigsten Schmiermittel des fordistischen Kapitalismus. Damit stand der Sozialstaat zur Disposition. Die Reformpolitik der Nachkriegszeit, die ein stetiges ökonomisches Wachstum zur Voraussetzung hatte, verlor ihre Grundlagen und die sozialdemokratisch orientierten Regierungen büßten ihren Rückhalt sowohl bei den herrschenden Machtgruppen als auch in der Wählerschaft ein. Die darauf folgende Regierungsübernahme neoliberal-konservativer Parteien in fast allen wichtigen kapitalistischen Staaten besiegelte das Ende des so genannten „sozialdemokratischen“ Zeitalters. Das ökonomisch und politisch wieder fest im Sattel sitzende und unter der Vorherrschaft der USA stark internationalisierte Kapital ging daran, sich mit staatlicher Hilfe seiner staatsinterventionistisch-sozialstaatlichen Fesseln zu entledigen. Die als „Globalisierung“ bezeichnete Strategie, die zur Etablierung des neoliberalen Kapitalismus führte, diente vor allem diesem Ziel. Sie bestand hauptsächlich in einer weitgehenden Deregulierung der Kapital- und Finanzmärkte. Indem sie die ungehinderte und grenzüberschreitende Beweglichkeit des Kapitals ermöglichten, intensivierten die Staaten die Standortkonkurrenz und schränkten damit zugleich ihren wirtschafts- und sozialpolitischen Spielraum erheblich ein. Der fordistische Sozial- und Sicherheitsstaat transformierte sich zum nationalen Wettbewerbsstaat. Dies führte zu einem enormen Druck auf die Löhne und die Arbeitsbedingungen. Die Klassenkräfteverhältnisse verschoben sich weltweit zugunsten des Kapitals, der Anteil der Lohneinkommen am Sozialprodukt ging drastisch zurück und die Profite explodierten. Gleichzeitig wurden die Produktionsprozesse organisatorisch und durch die Einführung neuer Technologien entscheidend rationalisiert – eine Maßnahme, die angesichts einer politisch und ökonomisch geschwächten ArbeiterInnenschaft nun leichter durchsetzbar war. Weil es unter diesen Bedingungen aber an kaufkräftiger Nachfrage und damit an ausreichenden Gelegenheiten für profitable Investitionen im produktiven Sektor mangelte, flossen die Profite in eine sich immer weiter aufblähende Blase der Finanzspekulation. Diese wiederum war durch die staatliche Deregulierung des Banken- und Finanzsektors überhaupt erst möglich geworden. Insbesondere die wachsende staatliche und private Verschuldung in den USA war es, die die weltweite Nachfrage und damit den globalen Wirtschaftskreislauf eine Zeit lang stützte. Der neoliberale Kapitalismus beruhte also von seinen gesellschaftlichen Grundlagen her auf einer sich immer gigantischer ausdehnenden Schuldenblase. Diese musste notwendigerweise irgendwann platzen. Als dies im Herbst 2008 geschah, wurde die dem neoliberalen Kapitalismus inhärente und einige Zeit lang verdeckte Überakkumulationskrise in Form drastischer Absatzeinbrüche offenbar. Das als „Finanzkrise“ bezeichnete ökonomische Debakel hat seine Ursachen also keineswegs in einer angeblichen Verselbständigung der Finanzwelt oder schlicht nur im unverantwortlichen Handeln einiger mit krimineller Energie ausgestatteter Finanzjongleure. Vielmehr war die „Finanzialisierung“ des Kapitalismus ein struktureller Bestandteil der neoliberalen Weltökonomie und die dadurch erzeugte Krise bezeichnet die spezifische Art und Weise, wie in ihr die kapitalistischen Widersprüche zum Ausdruck kommen. Die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise hat auf jeden Fall die Dimensionen ihrer Vorgängerin in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und auch sie wird dazu führen, dass der Kapitalismus eine ganz neue Gestalt annimmt.

Das ist allerdings die einzige Parallele. Die weltpolitischen Kräfteverhältnisse sind heute, nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus und angesichts der absoluten militärisch-ökonomischen Dominanz der kapitalistischen Metropolen völlig anders. Das Kapitalverhältnis ist global geworden, die Systemkonkurrenz ist beseitigt und soziale Zugeständnisse sind aus diesem Grunde nicht mehr unbedingt nötig. Die Krise kann jetzt ganz unmittelbar dazu genutzt werden, das Kapital durch eine weitere Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums zu Lasten der breiten Bevölkerung erneut zu sanieren. Angesichts der damit verbundenen Zumutungen kann man sich fragen, weshalb es nicht längst zu Massenprotesten gekommen ist und die Angst der staatlichen Staatssicherheitsfanatiker vor sozialen Erhebungen noch immer gegenstandslos zu sein scheint. Dies könnte mit einem eigentümlichen Wiederaufleben der Staatsillusion zu tun haben. Nachdem das neoliberale Wundermittel „Markt“ offenbar völlig versagt hat, steht staatliche Regulierung wieder auf der Tagesordnung. Galt kurz zuvor den so genannten Wirtschaftssachverständigen „der Staat als das Problem und nicht als seine Lösung“, so äußern sich diese heute genau umgekehrt. Von der offiziellen Ideologie jüngst noch als Hindernis für die segensreiche Entfaltung der Marktkräfte angesehen, gilt der Staat plötzlich wieder als Garant für ökonomische Stabilität und als Retter aus der Krise. Politische „Re-Regulierung“ ist wieder in aller Munde, als sei ein grundlegend widersprüchliches Gesellschaftsverhältnis wie das kapitalistische im Sinne einer längerfristigen Stabilität überhaupt steuer- und stabilisierbar. Angesichts der neoliberal transformierten sozialen Kräfteverhältnisse erschöpft sich die staatliche Tätigkeit allerdings im Wesentlichen in einem gigantischen Kapitalsanierungsprogramm. Behauptet wird, dass die milliardenschwere Subventionierung eben der Unternehmen, die die Krise zu verantworten haben – also insbesondere der Finanzkonzerne -, notwendig sei, um den völligen Zusammenbruch der Wirtschaft zu verhindern und deshalb im allgemeinen Interesse liege. Politik und Staat, vor kurzem noch als Bedrohung von Freiheit, Wohlstand und Fortschritt hingestellt, sind also wieder gefragt. Die PolitikerInnen, die mit ihrer neoliberalen Deregulierungspolitik das Desaster überhaupt erst möglich gemacht haben, treten als Nothelfer auf den Plan. So scheint die deutsche Bundeskanzlerin ähnlich wie viele ihrer Kollegen ihr strikt neoliberales Programm zur letzten Bundestagswahl einfach vergessen zu haben. Und merkwürdigerweise scheinen die Leute ihr dabei auch noch zu vertrauen.

Einigen gelten die Bankenrettungsaktionen sogar als „sozialistisch“, wenngleich niemand daran zweifeln kann, dass einer erfolgreichen Sanierung – wenn sie gelingen sollte – die völlige Reprivatisierung der Konzerne auf dem Fuße folgen wird. Getreu der kapitalistischen Logik müssen staatliche Interventionen grundsätzlich auf die Gewährleistung privater Profite zielen. Das ist die entscheidende Leitlinie aller staatlichen Antikrisenprogramme. Anzunehmen, die Verhältnisse würden durch einen größeren Staatseinfluss oder gar einige Verstaatlichungen demokratischer, ist ohnehin ein Irrtum. Das Beispiel der deutschen Landesbanken oder der KFW zeigt, zu was verstaatlichte Unternehmen fähig sind und wie dort Kontrolle funktioniert. Verstaatlichung heißt daher keineswegs Demokratisierung. An den neoliberal gewendeten politischen Strukturen hat sich ebenso wenig geändert wie an einem Parteiensystem, das alles andere repräsentiert als die Interessen der Bevölkerung. Die herrschende Demokratie ist durch die neoliberale Transformation der politischen Institutionen zur Formalie verkommen und die Regierungen gerieren sich unverblümter denn je als Erfüllungsgehilfen des Kapitals. Je unfähiger die Parteien geworden sind, eigene gesellschaftliche Ziel- und Ordnungsvorstellungen jenseits der simplen Logik der Kapitalverwertung zu entwickeln, desto unmittelbarer werden sie zu Erfüllungsgehilfen des Kapitals. Von diesem bestellte „Berater“ formulieren heute im Wesentlichen die Leitlinien der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die zentralen politischen Entscheidungsprozesse sind längst aus den demokratisch-repräsentativen Institutionen ausgewandert. Die etablierten Interessen verhindern auch, dass staatliche Interventionsprogramme entwickelt werden, die selbst im Sinne der herrschenden Wirtschaftstheorie wirklich greifen könnten. So gibt es statt öffentlicher Investitionen in die soziale Infrastruktur vor allem Steuererleichterungen für die Reichen. Den Ärmeren etwas zukommen zu lassen und damit tatsächlich im keynesianischen Sinne die Nachfrage anzukurbeln, gestattet der neoliberale Katechismus nicht. Die Krise führt nicht zuletzt dazu, dass sich der Monopolisierungsprozess beschleunigt und die Verflechtung von Kapital und Staat weiter zunimmt. Die gelegentlich debattierte Frage, ob nun der Staat dabei ist, das Kapital zu übernehmen oder ob dieses den Staat übernimmt, ist müßig. Beide scheinen immer stärker zu einem geschlossenen Machtapparat zu verschmelzen. Die Bankenrettungsaktionen sind ein wichtiger Hebel dafür. Die Rede ist von einer „Wiederbelebung der Deutschland GmbH“ (SZ vom 20.12.1008), die im Gegensatz zu ihrer fordistischen Vorgängerin allerdings ohne Mitbestimmung auskommt. Einiges deutet daher darauf hin, dass der neoliberale Marktkapitalismus von einer neuen Variante des Staatsmonopolkapitalismus abgelöst werden könnte, der die neoliberale Agenda unter veränderten Vorzeichen fortführt. Das vorrangige politische Ziel besteht darin, das Kapital nun unter direkter staatlicher Regie zu sanieren und damit Ausbeutung und Verarmung weiter voranzutreiben. Wenn dies gelingen sollte, würden allerdings zugleich auch die Grundlagen für die Fortdauer der aktuellen oder zumindest den Ausbruch der nächsten großen Krise gelegt. Dies schon deshalb, weil der Staat umso unfähiger wird, die langfristigen gesellschaftlichen Reproduktionsbedingungen zu gewährleisten, je mehr er seine relative Eigenständigkeit auch gegenüber dem Kapital einbüßt. Das Gezerre in der Klimapolitik bietet ein gutes Beispiel dafür. Die Frage ist, ob es überhaupt eine Alternative zu dieser Entwicklung gibt.

Ein ganz wichtiger Grund für den ausbleibenden Massenprotest liegt sicherlich darin, dass eine Alternative zu den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen nicht einmal andeutungsweise in Sicht ist. Daher wirkt sich die Krise politisch besonders demoralisierend aus. Auch nachdem der Offenbarungseid des neoliberalen Kapitalismus öffentlich geworden ist, hat keine Partei, auch nicht die Linke, eine nur blasse Vorstellung davon, wie eine vernünftige Wirtschaft und Gesellschaft heute auszusehen hätte. Soweit es in den Partei- und Regierungsapparaten noch sozialdemokratische Restbestände gibt, gehen deren Vorstellungen über eine Wiederauflage fordistisch-keynesianischer Rezepte kaum hinaus. Im Übrigen reicht die Veränderungsbereitschaft gerade noch zu Appellen, den Kapitalismus wieder „ethischer“ oder „verantwortlicher“ zu machen, dem Kapital einige staatliche Stützungsaktionen zukommen zu lassen und die Wirtschaft etwas besser zu regulieren. Da außer Kapitalismus pur nichts auf der offiziellen Tagesordnung steht, erschöpft sich die Politik in Rettungs- und Reparaturmaßnahmen, die das Desaster im schlechteren Fall noch verstärken und auf jeden Fall keine längerfristige Lösung bringen. Ökonomische Krisen waren schon immer eine schlechte Grundlage für emanzipative Veränderungen. So auch heute.

Was wäre also zu tun? Angesichts dessen, dass das bestehende Gesellschaftsmodell ökonomisch, ökologisch und sozial ganz offenkundig keine Zukunft hat, kann es nicht einfach um eine Re-Regulierung gehen, die die herrschenden Zustände bestenfalls stabilisiert. Für die eigentlich auf der Tagesordnung stehende revolutionäre Veränderung sind derzeit allerdings weder konkrete Ziele noch Akteure auszumachen. Man könnte aber damit beginnen, die gesellschaftliche Entwicklung schrittweise, aber in entscheidenden Punkten umzusteuern, das heißt zunächst einmal, die auf kapitalistischen Grundlagen beruhende Gesellschaft in ihren grundsätzlichen Strukturen anders zu gestalten. Möglich ist dies durchaus. Die historische Erfahrung zeigt, dass die konkrete Gestalt, die der Kapitalismus annimmt, ganz wesentlich von den internationalen und innergesellschaftlichen Macht- und Kräfteverhältnissen abhängt. Natürlich müssen Profite gemacht werden, solange kapitalistische Produktionsverhältnisse bestehen. Wie hoch sie sind und unter welchen Bedingungen und für welche Zwecke sie erwirtschaftet werden, ist aber nicht von vorneherein festgelegt. Auch wenn es viele Parallelen zur Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre gibt, hat die Entwicklung des Kapitalismus unterdessen Bedingungen geschaffen, die das traditionelle wirtschaftspolitische Instrumentarium untauglich machen. Keynesianische Politiken wie staatliche Konjunkturprogramme, steuerliche Wachstumsanreize und Globalsteuerung reichen schon deshalb nicht mehr aus, weil ökonomisches Wachstum auf der Basis der bestehenden wirtschaftlichen Strukturen zu enormen, nicht nur ökologischen Schäden führt. Eine die bestehenden Strukturen einfach nur stabilisierende staatliche Steuerung der Wirtschaft wäre daher selbst dann unzureichend, wenn sie demokratisch legitimiert werden könnte. Es kann nicht einfach nur um Umverteilung gehen, sondern darum, die Gesellschaft grundsätzlich anders einzurichten. D.h. die herrschenden Formen der Vergesellschaftung, die sozialen Beziehungen, die Konsummuster und Lebensweisen sowie die Art und Weise des Umgangs der Menschen miteinander und mit ihrer Umwelt bedürfen einer sehr weit reichenden Veränderung. Möglichkeiten dazu sind vorhanden. Inwieweit sie unter kapitalistischen Bedingungen realisierbar sind, lässt sich nicht von vorneherein bestimmen, sondern muss erprobt werden.

Schon jetzt lässt sich absehen, dass Unternehmen und Regierungen darauf abzielen, der Krise mit einem entschlossenen „weiter so“ zu begegnen. So tot, wie jetzt des Öfteren behauptet wird, ist der Neoliberalismus nicht. Er war schon immer auf einen starken Staat angewiesen und dessen Rolle wird jetzt nur neu justiert. Die gegenwärtige Situation eröffnet aber auch die Chance für eine Neuorientierung. Krisen sind immer auch der Ausgangspunkt hegemonialer Kämpfe und sie können die Bedingungen für die Entwicklung und Akzeptanz neuer gesellschaftlicher Leitvorstellungen schaffen. Auch die Tatsache, dass traditionelle staatssozialistische Vorstellungen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ihre Überzeugungskraft endgültig eingebüßt haben, öffnet den Raum für ein neues Denken. Es kommt also darauf an, über den Tellerrand des Bestehenden hinauszusehen und gesellschaftliche Verhältnisse anzuvisieren, die auf den ersten Blick zumindest unter den Bedingungen des herrschenden Einheitsdenkens vielleicht utopisch erscheinen mögen. Das unrealisierbar Scheinende ins Auge zu fassen, ist allerdings die Voraussetzung jeder grundlegenderen Veränderung. Gindin betont zu Recht, dass eine Lehre aus dem gescheiterten sozialdemokratischen Projekt lautet, „dass wir unsere Erwartungen nicht zurückschrauben, sondern größer denken und weiter gehen sollten“ (express 12/2008). Wie das gemacht werden kann, zeigt das jahrzehntelange und am Ende erfolgreiche Bemühen neoliberaler think tanks und Intellektuellenzirkel, gegen den herrschenden keynesianisch-sozialstaatlichen Konsens neoliberale Denkweisen zu etablieren.

„Während der Jahrzehnte keynesianischer Wirtschaftspolitik wagten die Neoliberalen, das Undenkbare zu denken. Und nutzten dann eine große große Krise, um ihr Programm durchzusetzen. Schon 1949 erklärte der Ökonom Friedrich Hayek, der Ronald Reagan und Margaret Thatcher inspiriert hat: Die wichtigste Lehre, die ein konsequenter Liberaler aus dem Erfolg der Sozialisten ziehen könne, sei ihr Mut zur Utopie“ (Serge Halimi in Le Monde Diplomatique, Deutsche Ausgabe, November 2008)

Auf jeden Fall reicht es nicht aus, die bestehenden Verhältnisse zu kritisieren, genauso wenig wie es nützt, in Bezug auf das Eintreten der Krise Recht gehabt zu haben. Nötig ist nicht nur eine abstrakte Utopie, sondern konkrete Vorstellungen davon, welche Schritte möglich sind und praktisch angegangen werden könnten.

Es wird heute wieder viel von „sozialer Marktwirtschaft“ geredet, und zwar von eben denen, die sie systematisch beseitigt haben. Wenn man einen „sozialeren“ Kapitalismus wirklich haben wollte, wären sehr viel weiter reichende Veränderungen notwendig. Momentan haben keynesianische wirtschaftspolitische Konzepte wieder eine gewisse Konjunktur. Eine Rückkehr zum fordistischen Status Quo ist jedoch weder möglich noch sinnvoll. Das heißt sicher nicht, dass auf kürzere Sicht entsprechende Maßnahmen unsinnig wären. Dies allerdings nur, wenn sie mit einer grundlegenden Umgestaltung der Arbeitsmarktbedingungen verbunden werden, die der immer weiter gehenden Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse entgegenwirkt, die zunehmend schiefer werdende Einkommensverteilung korrigiert und auf diese Weise die innere Nachfrage gestützt wird, also z.B. durch die flächendeckende Einführung von Mindestlöhnen, den Ausbau des Kündigungsschutzes und das Verbot prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Die Schieflage der deutschen Ökonomie beruht auf einer grundlegenden Schwäche der inneren Nachfrage, die durch eine Jahrzehnte lang geübte und schließlich gewaltsam erzwungene „Lohnzurückhaltung“ hervorgerufen worden ist. Daraus resultiert eine Exportabhängigkeit, die international ebenso destabilisierend wirkt wie auf der anderen Seite das wachsende Außenhandelsdefizit der USA. Zweifellos ist auch das Auflegen von staatlichen Konjunkturprogrammen sinnvoll. Dies allerdings nur, wenn sie nicht darauf hinauslaufen, die bestehenden industriellen Strukturen, z.B. in der Autoindustrie zu befestigen und die Umverteilung von unten nach oben weiter vorantreiben. Staatsschulden müssen nämlich irgendwann aus Steuern zurückgezahlt werden, und diese werden unter den Bedingungen des herrschenden Steuersystems immer stärker durch die Masse der Bevölkerung aufgebracht. Kurzfristig ist also die Rückkehr zu keynesianischen Politikformen sinnvoll, sofern ihre Instrumente sinnvoll und nachhaltig eingesetzt werden. Die grundlegenden Probleme würden damit allerdings nicht gelöst.

Entscheidend ist vielmehr eine völlig Neuausrichtung des Verhältnisses von Öffentlich und Privat, von Politik und Ökonomie. Die durch die neoliberale Politik auf die Spitze getriebene marktförmige Vergesellschaftungsweise muss in weiten gesellschaftlichen Sektoren zurückgenommen und durch eine sozialere und solidarischere ersetzt werden. Es kommt darauf an, der neoliberalen Konkurrenzindividualisierung eine Re-Orientierung an universellen Rechten und kollektiven Bedürfnissen entgegenzusetzen. Die neoliberalen Privatisierungsorgien müssen nicht nur eingedämmt, sondern das Soziale sowohl ausgebaut als auch neu gestaltet, das Gemeinwesen gestärkt werden (Gindin). Es ist vor allem notwendig, das Angebot an öffentlichen Gütern zu erweitern, d.h. eine für alle gleichermaßen und kostenlos verfügbare sozialen Infrastrukur in den Bereichen Gesundheit, Pflege, Bildung, Kultur, Energie, Wohnung und Verkehr auszubauen, wie es u.a. das links-netz vorgeschlagen hat (siehe unsere Überlegungen zu Sozialpolitik als Infrastrukturpolitik). Der vorhandene gesellschaftliche Reichtum macht es möglich, eine Grundversorgung mit kollektiven Gütern zu realisieren, die allen unabhängig vom Einkommen zur Verfügung steht. Diese infrastrukturelle Versorgung muss so weit als möglich dezentralisiert und der unmittelbaren Kontrolle durch die Betroffenen unterstellt werden. Darüber hinaus ist ein allgemeines und bedingungsloses Grundeinkommen anzuvisieren, das allen Gesellschaftsmitgliedern unabhängig von ihrer Tätigkeit nicht nur die materielle Existenz, sondern auch soziale und kulturelle Teilhabe gewährleistet und die Basisbedürfnisse abdeckt, die nicht infrastrukturell zur Verfügung gestellt werden. Das wäre im Übrigen ein erheblich wirksameres Konjunkturprogramm als das Subventionieren der Autoindustrie und die damit verbundene Fortsetzung einer unsinnigen Verkehrspolitik. Wenn offensichtlich ohne größere Probleme viele Milliarden für die Rettung pleitebedrohter Unternehmen ausgegeben werden können, sollte die Finanzierung solcher Maßnahmen eigentlich kein unlösbares Problem darstellen. Allerdings wäre eine völlige Umgestaltung des Steuersystems und eine drastische Erhöhung der Abgaben für große Einkommen und Vermögen sowie eine stärkere Belastung des Luxuskonsums und ökologisch schädlicher Produkte erforderlich. Entgegen dem tief in das allgemeine Bewusstsein vorgedrungenen Anti-Steuer-Reflex wäre deutlich zu machen, dass ein solidarisches und auf die Befriedigung kollektiver Bedürfnisse orientiertes Gemeinwesen eine hohe Steuerquote braucht. Ebenso wäre es notwendig, neue Prioritäten für den Staatshaushalt zu setzen. Die Aufrüstung der Bundeswehr für Kriegseinsätze in der ganzen Welt gehört jedenfalls ebenso wenig dazu wie ein immer weiter aufgeblähter Kontroll- und Überwachungsapparat oder ein Ausbau des Straßennetzes, der nur der Automobilindustrie nützt und die Umwelt ruiniert. Vielmehr muss die bestehende industrielle Struktur verändert und auf ökologische und soziale Erfordernisse ausgerichtet werden. So ist die Tatsache, dass ohne Rücksicht auf Schäden die Energieerzeugung immer weiter vorangetrieben wird, statt vorhandene Einsparmöglichkeiten zu nutzen, nicht eben zukunftsweisend. Schon ein Verzicht auf die Standby-Schaltung vieler Elektrogeräte würde einige Atomkraftwerke überflüssig machen. Die Veränderung der Einkommensverteilung und der Konsummuster ist für eine Reorganisation der industriellen Struktur eine zentrale Voraussetzung. Notwendig wäre schließlich eine weit reichende De-Globalisierung in Form einer Stärkung lokaler und regionaler wirtschaftlicher Zusammenhänge und die Verabschiedung von der Illusion, es sei für die Menschen von Vorteil, wenn das Kapital sich als „Exportweltmeister“ aufführt.

Das System der kapitalistischen Warenproduktion würde dadurch nicht aufgehoben, aber beschränkt und in wichtigen Lebensbereichen durch demokratische politische Entscheidung ersetzt. Wenn auch eine allgemeine Verstaatlichung weder theoretisch noch praktisch aussichtsreich erscheint, wären strategisch wichtige Wirtschaftszweige wie insbesondere die Banken und die Energieversorgungsmopole zu sozialisieren und öffentlicher Kontrolle zu unterstellen. Die historische Erfahrung zeigt, dass die Marktregulierung ökonomischer Beziehungen durchaus Vorteile hat. Dies allerdings nur dann, wenn die ökonomische Entwicklung politisch gesteuert, dem Markt klare politische Rahmenbedingungen gesetzt und diese demokratisch kontrolliert werden. Dies wiederum bedürfte institutioneller Vorkehrungen, z.B. der Einrichtung zentraler wie regionaler Wirtschafts- und Sozialräte.

Dies durchzusetzen, setzt nicht nur eine wesentliche Verschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse voraus, sondern erfordert auch den Abschied von gewohnten Verhaltensorientierungen, Konsummustern und Wertvorstellungen. Das ist, betrachtet man nur den die herrschenden gesellschaftlichen Zustände bestimmenden Autofetischismus, eine schwierige Sache. Es ist notwendig, neu zu bestimmen, was unter den vorhandenen gesellschaftlichen und technischen Möglichkeiten, aber auch unter den gegebenen natürlichen Bedingungen ein gutes und vernünftiges Leben sein könnte. Dies setzt nicht nur intellektuelle Anstrengungen, soziale Phantasie und Überzeugungskraft voraus, sondern auch praktisches Handeln. Dazu gehört u.a. auch ein systematisches Nicht-mehr-Mitmachen, die Weigerung, den konsumistischen Zirkel von Produktion und Verschleiß und damit die Kommerzialisierung aller Lebensbereiche zu unterstützen. Allein die Tatsache, dass das eigene Leben immer weniger bestimmt werden kann, man aber gleichzeitig mit einer immer wachsenden Masse technischer Spielzeuge eingedeckt wird, hat enorme gesellschaftliche Folgen.

Tiefergehende gesellschaftliche Veränderungen können nicht von oben diktiert werden. Das zeigen nicht nur die gescheiterten kommunistischen Revolutionen, sondern auch der Fehlschlag des sozialdemokratischen Staatsreformismus. Wie das Beispiel der Ökologie- und Frauenbewegung beweist, bedarf es dazu des Einsatzes sozialer Bewegungen, gesellschaftlicher Initiativen und Projekte. Nur diese können die Diskussions- und Lernprozesse einleiten, die auf eine grundlegende Veränderung der Verhaltensorientierungen und Lebensweisen zielen. Es geht um einen „radikalen Reformismus“, der auf eine andere Vergesellschaftungsweise zielt. D.h. „nicht darum, erst einen Schritt zu machen und dann einen weiteren, radikaleren, sondern darum, Wege zu finden, alle drei gleichzeitig einzubeziehen“ (Gindin). Auf die etablierten Parteien und Verbände kann in dieser Hinsicht weniger denn je gesetzt werden. Die Parteien sind faktisch zu Staatsapparaten geworden, deren Handeln sich auf taktische Stimmenmobilisierung beschränkt. Sie haben auf diesem Wege praktisch jegliche intellektuelle und konzeptionelle Fähigkeit eingebüßt. Daher der allseits praktizierte Populismus und die Unfähigkeit zur Formulierung einer Politik, die neue Wege beschreitet. Weiterreichende Vorstellungen oder gar eine Veränderung des gesellschaftlichen Status Quo sind von ihnen nicht zu erwarten.

Es bedarf also einer gesellschaftlichen Mobilisierung außerhalb und unabhängig von Staat, Parlament und Parteien. Es gibt eine Vielzahl von Gruppierungen, Initiativen und Organisationen, von kritischen Nichtregierungsorganisationen und alternativen think tanks, die in der Lage sind, die wirklichen gesellschaftlichen Probleme zu thematisieren und tragfähige Lösungsmöglichkeiten vorzuschlagen. Politisch-konzeptionelles Potential findet sich heute vor allem dort. Dieses bezieht sich allerdings oft noch auf einzelne Politikbereiche. Diese Parzellierung gälte es zu überwinden. Dazu wäre eine engere Zusammenarbeit und eine stärkere Vernetzung dieses zivilgesellschaftlichen Geflechts notwendig. Das ist die Voraussetzung dafür, dass übergreifendere Diskussionen entstehen und praktische Wege in Richtung auf eine andere Gesellschaft aufgezeigt werden können. Wenn dies geschähe, könnte wieder im strikteren Sinne Politik gemacht werden, statt nur noch auf selbst geschaffene „Sachzwänge“ zu reagieren. Veränderungen auf dem Feld der Parteien-, Parlaments- und Regierungspolitik sind nur zu erwarten, wenn ein nachhaltiger gesellschaftlicher Druck entsteht. Dieser ist auch eine Voraussetzung dafür, dass die zur Formalie verkommenen demokratischen Strukturen wieder mit Inhalt gefüllt werden, dass Demokratie wieder etwas mit Selbstbestimmung zu tun hat, statt sich in der Vermittlung von kapitalistischen Verwertungslogiken zu erschöpfen. Antonio Gramsci hat betont, dass der Kampf um Hegemonie, um gesellschaftliche Ordnungs- und Entwicklungsvorstellungen, seinen Ort in der „Zivilgesellschaft“ hat. Dies setzt allerdings voraus, dass diese selbst neu formiert und unabhängige gesellschaftliche Selbstorganisation gestärkt wird. Angesichts der globalen Interdependenzen darf sich dies nicht auf den nationalen Raum beschränken. Eine Verstärkung der internationalen Zusammenarbeit auf gesellschaftlicher Ebene ist schon deshalb erforderlich, um die neoliberal mobilisierte Standortkonkurrenz zu unterlaufen, die grundsätzlich zu Lasten der Abhängigen geht. Sie ist auch eine wichtige Voraussetzung für die Veränderung der globalen ökonomischen und politischen Strukturen, von der Schaffung internationaler Sozialfonds bis hin zu einer Demokratisierung von Institutionen wie IWF, Weltbank und WTO. Der ökonomischen Globalisierung, deren Folgen sich heute krisenhaft manifestieren, muss durch eine politische Globalisierung „von unten“, durch gesellschaftliche Kräfte begegnet werden, und zwar auf nationaler wie internationaler Ebene.

Literatur:

Gindin, Sam: Transformation der Macht, in: express. Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, Jg. 46, Nr.12, 2008

Halimi, Serge, Leitkommentar in Le Monde Diplomatique (deutsche Ausgabe), Jg.14, Nr.11, 2008

Lutz, Burkart: Der kurze Traum immerwährender Prosperität, Frankfurt/New York 1984

© links-netz Februar 2009