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Eine fordistische Bastion wird geschliffen

Zum "Skandal" um die Bundesanstalt für Arbeit

Joachim Hirsch

Die Meldungen über die wie auch immer "geschönten" Vermittlungszahlen der Bundesanstalt für Arbeit waren ein gefundenes Fressen, natürlich für die Medien und vor allem für die Regierung. Ein "Skandal" war da, der wunderbar von Schröders nicht eingehaltenen Wahlversprechen bezüglich des Abbaus der Arbeitslosigkeit ablenken konnte. Als wäre Arbeitslosigkeit im wesentlichen ein Vermittlungsproblem, als stünden über vier Millionen Arbeitslosen mehr als ein paar offener Stellen gegenüber und hätte die Politik der DDR-Eingliederung nicht zu einer verheerenden Deindustralisierung des Ostens geführt. Davon keine Rede mehr, genauso wenig von den Folgender neoliberalen Wirtschaftspolitik im allgemeinen. Schnell waren nun die eigentlich Schuldigen an der Beschäftigungsmisere gefunden: die Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit mit ihrem Präsidenten Jagoda. Für die regierende "neue Mitte" eine glückliche und schnell ergriffene Gelegenheit, endlich nun auch diese Bastion des fordistischen Sozialstaats zu schleifen und eine neoliberale "Reform" mit erheblicher Tragweite in Gang zu setzen.

Bisher war die deutsche Arbeitsverwaltung ein bürokratischer Riesenbetrieb, der Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe gewährt und auszahlt, Jobs vermittelt, Qualifizierungs- und Beschäftigungsmaßnahmen durchführt und einiges andere mehr. Ihre Existenz verdankt sie der staatlichen Arbeitslosenversicherung, die durch Pflichtbeiträge von Arbeitnehmern und Unternehmern aufgebracht wird. Sie hatte ein – in jüngster Zeit allerdings bereits etwas eingeschränktes – Monopol bei der Stellenvermittlung und wurde von einem Verwaltungsrat kontrolliert, in dem Gewerkschaften und Unternehmer paritätisch vertreten waren. Sie wies damit alle Merkmale einer fordistischen Sozialstaatsbürokratie auf: Auf einem System der Zwangsversicherung aufgebaut, flächendeckend, bürokratisch, monopolistisch, zentralistisch und – zumindest was die Organisation angeht – von den "Sozialpartnern" weniger kontrolliert denn für ihre Interessen benutzt. So gesehen ist sie also eindeutig ein Dinosaurier aus vergangenen Zeiten. Das betraf auch ihr Selbstverständnis: Arbeitslosigkeit wurde im wesentlichen verwaltet und je mehr sie anstieg, desto mehr mussten Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt die nicht mehr ausreichenden Versicherungsbeiträge ergänzen. Unter Maastricht-Bedingungen und angesichts drohender blauer Briefe der EU-Kommission kann das natürlich nicht so weitergehen, zumal die Konzerne zweifellos weitere Milliardengeschenke erwarten und auf Transrapids, Bundeswehr-Lufttransporter sowie ausufernde Militäreinsätze natürlich nicht verzichtet werden kann. Aber Rüstung schafft schließlich auch Arbeitsplätze, zumal bei sich ausweitenden Kampfeinsätzen der Bundeswehr auch da künftig einige Stellen frei werden.

Was jetzt ansteht, ist eine gewissermaßen idealtypische neoliberale "Reform". Das Vermittlungsmonopol der Arbeitsämter soll ganz gestrichen werden. Das heißt, dass sich private Agenturen die besser Vermittelbaren herausgreifen und damit Geld verdienen können, während der Rest bei der Arbeitsamtsverwaltung hängen bleibt. Die vielgepriesene "Dienstleistungsgesellschaft" erhält damit zweifellos einen neuen Schub. Die Anstalt selbst bleibt zwar formell staatlich, bekommt aber eine privatwirtschaftliche Managementstruktur und soll der privaten Konkurrenz ausgesetzt werden. Der Einfluß von Arbeitgebern und Gewerkschaften wird beschnitten. Herauskommen soll ein Staatsbetrieb, der wie ein privates Unternehmen funktioniert wie etwa die Bundesbahn. Mit Jagoda, diesem Überbleibsel aus sozialreformerischen CDU-Zeiten, war das kaum zu machen und der kommende Präsident Gerster hat schon angekündigt, wohin die Reise geht. Für neoliberale Politik braucht es hierzulande eben die SPD mit ihrem grünen Juniorpartner. Gerster will zuerst das Arbeitslosengeld – insbesondere für Ältere – kürzen. Damit soll der "Druck" auf die Arbeitslosen erhöht werden, sich im Stellen zu bemühen, die es freilich überhaupt nicht gibt. Mit diesem gewiss nicht populären Plan schien er zunächst den Bundstagswahlkampf der Regierungsparteien zu verhageln. Entsprechend schnell haben sie sich distanziert, um dann nach der Wahl genau dieses zu tun, wenn die WählerInnen sie denn lassen. Von Schröder jedenfalls erhält Gerster durchaus Lob für seine mutigen Ideen und der übliche Medien- und Talkshow-Chor singt freudig mit. Dazu kommt das ebenfalls in die Zeit nach der Wahl verschobene Vorhaben, die bisherige Arbeitslosenhilfe überhaupt abzuschaffen und in der Sozialhilfe aufgehen zu lassen.

Das Ziel ist eine radikale Veränderung der Arbeitsverhältnisse. Das Absenken bzw. Streichen der Unterstützungszahlungen soll den Zwang erhöhen, Arbeit unter bisher nicht zumutbaren Bedingungen anzunehmen. Der Marsch in den "workfare state", d.h. in ein System des allseitigen Arbeitszwangs, gewinnt an Tempo. Die bürokratischen Kontrolle der Arbeitslosen soll verstärkt durch den unmittelbaren ökonomischen Zwang ergänzt werden. Wenn damit, dem Beispiel der USA folgend, eine Masse von "working poor" entsteht, die vom Lohneinkommen nicht einmal das Existenzminimum decken kann – was solls? Nach neoliberalem Credo sind die Betroffenen ohnehin selbst schuld. Und der wundersame Effekt wäre, dass die Arbeitslosenstatistik dann plötzlich sehr viel schöner aussehen würde. Allerdings zu Lasten der Armutsstatistik. Aber diese ist ohnehin bestenfalls das Thema gelegentlicher Sonntagsreden. Das ist im Kern das, was heutzutage unter "aktiver Arbeitsmarktpolitik" verstanden wird. Arbeitslosigkeitsstatistiken werden in der ganzen Welt nach politischen Opportunitätskriterien "geschönt". Allerdings hängt der Umfang der Arbeitslosigkeit durchaus auch von der Höhe der Unterstützung ab. Er ist deshalb in Ländern mit einem noch halbwegs vorhandenen sozialen Sicherungssystem in der Regel höher. Wer keine Unterstützung bekommt, dem bleibt gar nichts anderes übrig als zu arbeiten, zu welchen Bedingungen auch immer. Dass dem hierzulande immer noch nicht ganz so ist, bezeichnet den grundsätzlichen Fehler, den die herrschende Sozialpolitik in den Augen der Regierenden und natürlich der Unternehmer hat.

Deshalb soll an die Stelle des Staates der Markt treten. Angezielt wird ein sozialpolitisches Regulierungsmuster, das auf verstärkte Segmentierung, Hierarchisierung und Konkurrenzmobilisierung bei den Lohnabhängigen zielt und die Sozialausgaben auf ein standortgerechtes Maß herabdrückt. Schon ist abzusehen, dass demnächst auch Pläne diskutiert werden, die Arbeitslosenversicherung, dem Riesterschen Rentenmodell folgend, zugunsten der Unternehmer zumindest teilweise zu privatisieren. Die Besserverdienenden privat versichert, die Überflüssigen der Sozialhilfe überstellt und die Arbeitsvermittlung privatisiert: ein wahres neoliberales Eden ohne überflüssige Bürokratien, zumindest ohne staatliche.

Wie immer, wenn es um den neoliberalen "Umbau" des Sozialstaats geht, ist es nicht leicht, politisch dazu Stellung zu beziehen, d.h. die neoliberale Politik zu kritisieren ohne die vergangenen fordistischen Verhältnisse zu beschönigen. Deshalb schafft es auch gewisse Probleme, die bisher bestehende Form der Arbeitsverwaltung zu verteidigen. Sie dient nicht zuletzt der Kontrolle und Disziplinierung und darüber hinaus ist sie in der Tat ein ziemlich ineffizienter Betrieb. Dass die bisherigen Qualifikations- und Arbeitsförderungsmaßnahmen weitgehend wirkungslos sind und ebenfalls bestenfalls die Statistiken in einem freundlicheren Licht erscheinen lassen, ist bekannt. Vor allem lässt sich mit administrativen Organisations- und Regulierungsmaßnahmen sich kaum verhindern, dass das Kapital im Zuge seiner Rationalisierungsstrategien immer mehr formell und gesichert beschäftigte Arbeitskräfte freisetzt – solange eben die ökonomische Ordnung des neoliberal globalisierten Kapitalismus besteht.

Hier liegt das eigentliche Problem und weniger im besseren oder schlechteren Funktionieren von Behörden. Was freilich die Organisation des Sozialstaats angeht, so kommt darauf an, über die Verteidigung einmal erkämpfter sozialer Errungenschaften hinaus neue Konzepte zu entwickeln. Eine allgemeine Koppelung der sozialen Sicherung an das Arbeitsverhältnis, so wie sie heute besteht, dient nur dazu, den für den Fordismus typischen und in vieler Hinsicht destruktiven Zirkel von Produktion und Konsum aufrecht zu erhalten. Die neoliberale Strategie läuft darauf hinaus, eben dies unter ungleicheren und gesellschaftlich spaltenderen Bedingungen weiterzuführen. Es gilt zu realisieren, dass diese Gesellschaft auf dem erreichten technischen Stand einfach sehr viel weniger Lohnarbeit braucht, um allen ein vernünftiges Leben zu ermöglichen. Was statt unsinniger Arbeit (von vielen) für unsinnigen Konsum (etwas wenigerer) Not tut, ist eine Entkoppelung von sozialer Sicherung und Lohnarbeit etwa in Gestalt eines garantierten Mindesteinkommens für alle. Dann könnte man die Arbeitsämter wirklich und zum Nutzen aller "verschlanken".

© links-netz März 2002