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„Frau Merkel, bitte zum Diktat!“

Joachim Hirsch

„Frau Merkel, bitte zum Diktat!“, so titelte die Süddeutsche Zeitung kürzlich (am 23.8.2010). Sie hat damit die hierzulande bestehenden Machtverhältnisse schön auf den Punkt gebracht. Diese erklären gewiss auch die rasche Mutation Merkels von der Klima- zur Atomkanzlerin. Dass demokratisch gewählte Regierungen als Handlanger mächtiger Unternehmen fungieren, ist nicht eben neu. Eher neueren Datums ist indessen, dass für diese Firmen arbeitende Anwaltskanzleien für die Regierung fertige Gesetzesvorlagen ausarbeiten, die dann im Parlament durchgewinkt werden. Oder die Industrie schreibt sie gleich selbst, wie gerade eben bei der Regelung der Arzneimittelzulassung. Diese Machtverhältnisse sind kaum je so deutlich zutage getreten wie in der letzten Zeit. Erinnern wir uns: die Gesetze und Verordnungen, die die milliardenschweren Bankenrettungsaktionen im Gefolge der jüngsten Krise ermöglichten, wurden zum Teil von den begünstigten Unternehmen selbst ausgearbeitet – „beratend“ natürlich. Sie verfügen ja, wie der jüngste Kollaps gezeigt hat, über herausragenden Sachverstand in Bezug auf die Finanzmärkte. Dagegen erklärte Josef Ackermann von der Deutschen Bank neuerdings in seiner bekannten Offenheit, er könne die Regierung eigentlich gar nicht beraten, weil er schließlich eigene Interessen vertrete. Beraten braucht er auch nicht. Er und seinesgleichen befehlen ganz einfach.

Der jüngste Fall ist das Gezerre um die Verlängerung der Laufzeiten für die Kernkraftwerke, ein Vorhaben, das nach Ansicht aller unabhängigeren Sachverständigen unsinnig ist, bei der Bevölkerung keine Mehrheit hat und den notwendigen Umbau der Stromversorgung auf erneuerbare Energien erheblich behindert. Dieses Geschenk an die Atommonopole wird diesen Gewinne in mehrstelliger Milliardenhöhe bescheren. Um die Angelegenheit etwas zu legitimieren, will die Regierung einen kleinen Teil dieser Gewinne in Form einer Brennelementesteuer für den Staatshaushalt abzweigen – und damit zur Deckung der Defizite beitragen, die durch die Bankenrettung und andere Unternehmenssubventionen entstanden sind. Diese Steuer wird nicht einmal die Kosten für den von der Allgemeinheit zu tragenden Ausbau des Atomendlagers oder die Räumung der einsturzgefährdeten Grube Asse decken. Der strahlende Müll der Atomkraftwerke wird durch die Laufzeitverlängerung um weitere 4400 Tonnen anwachsen. Ob dieser über viele Generationen strahlende Müll jemals wird halbwegs sicher gelagert werden können, ist noch völlig offen. Darüber hinaus war zunächst geplant, der Atomindustrie eine zusätzliche Abgabe aufzuerlegen, mit der die Entwicklung erneuerbarer Energien gefördert werden sollte. Stattdessen hat sich die Industrie nun bereit erklärt, „freiwillig“ in einen entsprechenden Fonds einzuzahlen, unter ganz bestimmten Bedingungen allerdings.

Selbstverständlich liefen die betroffenen Unternehmen gegen derartige Zumutungen Sturm. Neben der intensiven Lobbytätigkeit gehörte dazu eine groß angelegte Anzeigenaktion, die von der ganzen Creme der deutschen Industrie und gefälligen Prominenten wie Nationalmannschaftsmanager Bierhoff oder dem unvermeidlichen Otto Schily (derzeit in Diensten des Kraftwerksbauers Siemens), gar nicht zu reden von Wolfgang Clement unterstützt wurde. Als wäre es abgesprochen, spielte diese Aktion der Bundeskanzlerin wunderbar in die Hände: sie konnte öffentlich Standfestigkeit beweisen, indem sie an der – allerdings inzwischen weiter reduzierten und dazu auch noch befristeten – Brennelementesteuer festhielt, aber auf alle andere Auflagen verzichtete. Zufall war dieses Szenario allerdings kaum. Immerhin entsprach es einem Strategiepapier, das eine für den Stromkonzern Eon arbeitende Public-Relations-Agentur entworfen hatte (Frankfurter Rundschau vom 8.9.2010). Die Brennelementesteuer zahlt die Atomindustrie bei einer entsprechenden Laufzeitverlängerung recht problemlos, kostet sie diese doch nur einen Bruchteil der zusätzlichen Gewinne. Das gilt auch für die Sicherheitsfrage, die bei einigen inzwischen schrottreifen Reaktoren ziemlich brisant ist. Hier blieb es zur Beruhigung der Öffentlichkeit bei der Ankündigung, die Sicherheitsstandards in Zukunft irgendwie etwas zu verschärfen. Inzwischen wurde in der ARD-Sendung Monitor (am 9.9.2010) von einem Gesetzentwurf berichtet, mit dem die Regierung diese sogar noch weiter senken will. Das wurde – allerdings ohne weitere Begründung und ohne einen Anspruch auf Gegendarstellung – dementiert. In der Tat wird eine Verlängerung der Laufzeiten ohne Senkung der Sicherheitsstandards kaum machbar sein.

Hinter dem ganzen Vorgang steht eine Entwicklung von erheblicher verfassungspolitischer Brisanz. Statt mit Steuern oder Abgaben belegt zu werden, wollte die Atomindustrie ursprünglich überhaupt nur einen Vertrag mit der Regierung abschließen, der gewisse Zahlungen im Austausch mit der Laufzeitverlängerung vorsieht. Die Chuzpe dieses Vorschlags liegt darin, dass sich die Industrie damit einen Verzicht auf schärfere Sicherheitsbestimmungen und damit maximale Gewinne sichern wollte und es zugleich künftigen Regierungen unmöglich gemacht hätte, die Laufzeiten wieder zu verkürzen. Ein privatrechtlicher Vertrag kann durch Gesetzesänderung nicht einfach ungültig gemacht werden.

Aus diesem umfassenden Vertragswerk wurde zunächst nichts, weil allzu offensichtlich geworden wäre, wer hierzulande das Sagen hat und die Regierung konnte sich eine weitere Schwächung ihrer Legitimation einfach nicht mehr leisten. Übrig geblieben ist ein Vertrag, mit dem sich die Industrie zu Einzahlungen in einen Fonds zur Förderung erneuerbarer Energien verpflichten will. Dies angesichts der Tatsache, dass die Laufzeitverlängerung genau deren Entwicklung massiv behindern wird. Dabei wird vereinbart, dass die Zahlungen um so geringer ausfallen werden, je höher eventuelle Sicherheitsinvestitionen ausfallen und je kürzer die tatsächlichen Laufzeiten sind. Deren Veränderung würde also den öffentlichen Haushalt belasten – eine Art finanzieller Erpressungssituation. Wie dieser Fonds im Übrigen eingesetzt werden wird, lässt sich absehen, haben die Strommonopole doch ein starkes Interesse daran, auch diesen Zukunftsmarkt unter ihre Kontrolle zu bekommen.

Der Vorschlag der Atomindustrie beleuchtet eindrucksvoll, wie es mit dem real existierenden demokratischen Rechtsstaat heute bestellt ist. An die Stelle von Gesetzen treten Verträge zwischen Regierung und den betreffenden Unternehmen. Das heißt, dass Recht nicht mehr im verfassungsmäßig vorgesehenen parlamentarischen Verfahren, sondern in Verhandlungen zwischen sozusagen gleichberechtigten Partnern geschaffen wird. Der Aberwitz eines solchen Vorhabens wird deutlich, wenn man sich vorstellt, Steuerpflichtige würden statt den geltenden Gesetzen Genüge zu tun mit dem Finanzamt ihre Zahlungen einzeln aushandeln. Wenn private Verträge an die Stelle des Rechts treten, kann der Gesetzgeber sehen, wo er bleibt. Dies betrifft den Bundestag und den Bundesrat, der wegen seiner unbequemen Mehrheitsverhältnisse – auch CDU-regierte Länder lehnen die Laufzeitverlängerung ab – überhaupt ausgetrickst werden soll. Der Vorgang macht deutlich, was die neuere Entwicklung insgesamt kennzeichnet: eine massive Feudalisierung der Politik. Dass diese inzwischen in großem Stil zur Klientelbedienung verkommen ist, tritt mit diesem Vorschlag auch formell zu Tage. Mächtige ökonomische Gruppen machen ihre Regeln selbst und wenn sie sich bereit finden, aus den daraus fließenden Profiten etwas an den Staatshaushalt abzuführen, dann möchten sie dies freiwillig tun, eben in Form eines Vertrags mit den Gesetzgeber bindenden Beschränkungen.

Eigentlich hätte dieser Vorschlag einen massiven öffentlichen Protest hervorrufen müssen. Davon war zunächst nichts zu bemerken, weder von der Presse noch von Verfassungsexperten, die an sich hätten bemerken müssen, dass hier eine Verfassungsverletzung vorliegt. Zwar wurde teilweise der Inhalt kritisiert, aber überhaupt nicht wahrgenommen, welche formelle Veränderung der Rechts- und Verfassungsverhältnisse sich damit andeutet. Erst ziemlich spät, nachdem der ursprünglich geheim gehaltene Vertrag bekannt wurde, ging wenigstens einigen OppositionspolitikerInnen ein Licht auf. Die Machtverhältnisse, die zu diesen Entwicklungen führen, sind in der Öffentlichkeit offenbar selbstverständlich geworden.

In der Geschichte der Bundesrepublik gibt es keinen Präzedenzfall, bei dem eine Regierung derart offen vor den Unternehmen eingeknickt ist. Angela Merkel hat sich dazu hinreißen lassen, den Koalitionsbeschluss zur Laufzeitverlängerung - die im Übrigen erheblich größer ist als offiziell verkündet – als „Revolution“ zu bezeichnen. Genau genommen handelt es sich eher um eine Art Staatsstreich. Schon die bizarre Wortwahl zeigt, dass sich die herrschende Politik nur noch durch Verschleierung, Verheimlichung und systematische Verdrehungen rechtfertigen lässt. Dazu gehört auch, dass die getroffenen Entscheidungen wie auch die vertraglichen Vereinbarungen mit der Atomindustrie nur scheibchenweise und wohl immer noch unvollständig öffentlich gemacht worden sind.

Der ganze Vorgang ist ein staatstheoretisches Lehrstück. Er zeigt, dass die längerfristige Sicherung der gesellschaftlichen Entwicklung dann in Frage gestellt ist, wenn einzelne Kapitalfraktionen die Politik bestimmen, theoretisch gesprochen also die relative Autonomie des Staates gegenüber dem Kapital aufgehoben ist. Diese Kapitalfraktionen sind in diesem Lande offensichtlich neben der Pharmaindustrie vor allem die Stromkonzerne und die Finanzunternehmen. Der aus vielen Gründen für den langfristigen Bestand von Wirtschaft und Gesellschaft dringend notwendige Umbau der Energiegewinnung wird ganz schlicht den Profitinteressen einzelner Unternehmen geopfert und dabei eine noch höhere Gefährdung der Bevölkerung in Kauf genommen.

Dass Politik im Interesse der großen Kapitals gegen die Mehrheit der Bevölkerung gemacht wird, ist heute gang und gäbe, sei es nun in der Frage der Laufzeitverlängerung, beim Kriegseinsatz in Afghanistan oder auch beim Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs. Allmählich scheint die Auflösung der rechtsstaatlichen Demokratie nun auch juristische und institutionelle Formen anzunehmen. Es zeigt sich, dass Verfassungsfragen in der Tat Machtfragen sind. Die Krise der Repräsentation, die sich darin zeigt, dass sich die herrschende Politik praktisch nicht mehr um die Interessen der Bevölkerung zu kümmern braucht, hat ihre Kehrseite darin, dass der Staat ganz offenkundig zum Diener der Kapitals geworden ist. Noch ist offen, ob die politisch herrschende Clique mit ihren Vorhaben wirklich durchkommen wird. Sie hat sich in eine Situation manövriert, in der ihre Inkompetenz und ihre Unglaubwürdigkeit ganz offenbar geworden sind. Die Ratschläge von Eons Public Relations – Agentur haben sich jedenfalls als ziemlich untauglich erwiesen. Gegen diese Entwicklung mit institutionellen demokratischen Mitteln anzugehen, scheint fast aussichtslos. Wahrscheinlich hoffen die regierenden Parteien, dass sich die Aufregung bis zur nächsten Wahl wieder gelegt hat. Wenn sich wirklich etwas ändern sollte, bedürfte es erneut einer massiven außerparlamentarischen Bewegung.

© links-netz September 2010