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„Kapitalismus aufbrechen“ – aber wie?

Rezension zu John Holloway, Kapitalismus aufbrechen, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2010

Joachim Hirsch

John Holloway, der in Mexiko lebt und sich stark mit den lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen, Aufständen und Rebellionen beschäftigt hat, hat ein Buch über die Revolution geschrieben. Es ist die Fortsetzung seiner 2002 erschienenen Publikation „Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen“. Revolution wird von ihm allerdings ganz anders gesehen als im traditionellen Verständnis. Der Titel „Kapitalismus aufbrechen“ verweist nicht auf Umsturz oder Machteroberung, nicht auf den Kampf der „Arbeit“ gegen das „Kapital“, sondern auf Verweigerung, nicht mehr mitmachen, anders leben und arbeiten. Grundlage ist die Erkenntnis, dass wir alle das Kapitalverhältnis reproduzieren, solange unser Denken, Verhalten und Handeln dessen Logik folgt. Diese gilt es zu brechen. Es verhält sich demnach ganz umgekehrt als in den üblichen Vorstellungen von radikaler Gesellschaftsveränderung: „Revolution heißt nicht, den Kapitalismus zu zerstören, sondern ihn nicht zu schaffen“ (253).

Kern und Grundwiderspruch des Kapitalismus liegen nach Holloway in der durch die Universalisierung des Warentauschs hervorgerufenen Abstraktifizierung der Arbeit im Waren- und Lohnverhältnis. Sie ist die Ursache von Verdinglichung und Entfremdung, sie begründet die Herrschaft des Werts als fremde Macht über die Menschen und hindert sie an selbst bestimmter Tätigkeit gemäß ihrer Bedürfnisse und zu ihrer Selbstverwirklichung. Der Gegensatz von abstrakter (Lohn-) Arbeit und selbstbestimmter, konkreter Tätigkeit, von Tausch- und Gebrauchswert gilt als Ausgangspunkt für einen kritischen Marxismus. Die Kritik der politischen Ökonomie könne nicht nur darin bestehen, die krisenhafte Funktionsweise des kapitalistischen Systems zu analysieren. Zur kritischen Theorie werde sie erst dann, wenn sie vom Menschen ausgeht: Kritik ad hominem. Der Widerspruch zwischen abstrakter Arbeit und konkreter, selbst bestimmter Tätigkeit ist permanent wirksam und äußert sich in vielfältigen Formen individueller wie kollektiver Rebellion. Diese reicht vom Verhalten der jungen Frau, die statt zur Arbeit zu gehen im Park ein Buch liest, bis hin zur Fabrikbesetzung und dem Versuch, eine selbst verwaltete Produktion aufzubauen. Gesellschaftsveränderung kann nicht durch Eroberung der Staatsmacht erfolgen, die selbst Ausdruck und Bestandteil des Kapitalverhältnisses ist, sondern durch die Verknüpfung von oft alltäglichem und punktuellem rebellischen Handeln, das dann revolutionär wird, wenn es in der bewussten Schaffung anderer Tätigkeits- und Vergesellschaftungsformen mündet. Ein im Prinzip totalitäres System – der Kapitalismus – kann nicht durch ein anderes, etwa eine zentrale Planwirtschaft ersetzt werden. Es geht vielmehr um Vielfalt und die Befreiung des Besonderen. Der Kapitalismus selbst erzeugt die Bruchstellen, die die Menschen dazu veranlassen, sich zu verweigern und anders leben zu wollen. Gleichzeitig hat er eine enorme Fähigkeit, Widerständigkeiten zu unterdrücken und aufzusaugen. Der Weg ist daher nicht einfach. Gesellschaftsveränderung ist ein Prozess, der schwierig und von Rückschlägen gekennzeichnet ist. Die Zukunft ist offen.

Dieser Ansatz ist interessant und wichtig. Das gilt für Revitalisierung der Marxschen Theorie als kritische ebenso wie für den Versuch, den Prozess fundamentaler Gesellschaftsveränderung radikal anders zu denken. Ganz neu ist das inzwischen zwar nicht mehr, aber Holloway holt dabei zu einer recht umfassenden theoretischen Begründung aus. Damit handelt er sich allerdings einige Probleme ein. Obwohl er sich vehement gegen theoretisches Systemdenken wendet und das Besondere, Nichtangepasste, die widerständige Subjektivität betont, entwirft er selbst ein geschlossenes Theoriekonstrukt, indem er die gesellschaftliche Realität des Kapitalismus auf ein Grundprinzip, den Gegensatz zwischen abstrakter Arbeit und konkret-selbstbestimmter Tätigkeit zurückführt. Das erklärt nicht nur die Subjektformen und die Klassen, die Trennung von Politik und Ökonomie und den Staat als spezifische kapitalistische Herrschaftsform, sondern auch das Natur- und Geschlechterverhältnis, genau genommen alles, was die herrschende Gesellschaft charakterisiert. Bei ihm gibt es keine Widersprüche und Herrschaftsverhältnisse, die nicht auf das Kapital zurückzuführen sind. Damit wird es ihm möglich, die mannigfaltigen und durchaus unterschiedlich motivierten Formen rebellischen oder nicht angepassten Verhaltens auf ein Grundprinzip, eben den Kampf gegen das Kapital zurückzuführen. Diese Gemeinsamkeit schaffe die Möglichkeit ihrer Verbindung. Das Kapital ist sozusagen die Achse des Bösen, „das Grauen“, wie er es bezeichnet.

Dies führt unter anderem zu einer merkwürdigen und historisch kaum haltbaren Verklärung vorkapitalistischer Geschichtsperioden. Die Dialektik der Aufklärung der Frankfurter Schule, auf die er sich maßgeblich bezieht, verliert bei ihm das, was ihren Kern ausmacht: die Dialektik. Er versteht die historische Entwicklung seit der Entstehung des Kapitalismus als eine einfache Verfallsgeschichte. Man müsste sich schon fragen, was es bedeutet, dass die kapitalistische Abstraktifizierung der Arbeit und die Durchsetzung des Warenverhältnisses erst die materiellen Bedingungen für unseren Begriff von Gleichheit und Freiheit geschaffen haben. Noch weiter gehend wäre zu überlegen, ob eine nicht totalitäre Gesellschaft eine gewisse Abstraktheit der sozialen Beziehungen voraussetzt und es daher darauf ankäme, diese Entwicklungen nicht einfach wieder rückgängig zu machen, sondern in neue Formen zu bringen.

Notwendig führt dieser Ansatz zu einer Idealisierung der selbst bestimmten Tätigkeit im Kleinen. Deutlich wird dies an dem immer wiederkehrenden Beispiel des Kuchenbackens fürs eigene Bedürfnis oder für FreundInnen, eine Tätigkeit, die dann zur abstrakten Arbeit und zum Zwangsverhältnis gerät, wenn sie zur Produktion für den Markt wird. Holloway betont, dass es nicht einfach um eine Rückkehr zur lokalen Subsistenzproduktion gehen könne. Dennoch bleibt er aber einen Hinweis darauf schuldig, wie eine notwendigerweise arbeitsteilige und gerade durch ihre Vielfältigkeit komplexe Gesellschaft organisiert sein könnte, eine Gesellschaft, die auf selbst bestimmter Tätigkeit und nicht auf Planwirtschaft beruht. Sie bedürfte, wie auch die Garantie individueller Freiheit, bestimmter Institutionen, wohl auch eines Staates, auch wenn dieser unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen eine veränderte Form annehmen würde. Institutionen gelten Holloway indessen grundsätzlich als Zwangseinrichtungen, die den freien Fluss des Tätigseins verhindern. Auch hier wäre ein gewisses dialektisches Denken angesagt und hier fangen die Probleme eigentlich erst an, wenn man über eine andere, freiere und humanere Gesellschaft nachdenkt.

Selbstverständlich muss eine emanzipative Gesellschaftsveränderung am Handeln der Menschen ansetzen. Sie lässt sich nicht mittels der Staatsmacht herbeiführen, selbst wenn diese sich als revolutionär versteht. Und sie setzt voraus, dass nicht nur rebelliert, sondern anders gelebt und gearbeitet wird, dass nicht nur gefordert, sondern gemacht wird. Die gegenwärtige Krise sieht Holloway vor allem als eine Krise der abstrakten Arbeit, gekennzeichnet durch Massenarbeitslosigkeit und wachsende Prekarisierung. Damit stehe der Kampf gegen die Arbeit auf der historischen Tagesordnung. Diese Erkenntnis ist wichtig, aber gleichzeitig geht es auch um materielle Ausbeutung und ihre Folgen, von der im Buch kaum die Rede ist, da sie eher ein aus dem postulierten Grundwiderspruch abgeleitetes Phänomen darstellt. Abgesehen davon, dass kapitalistische Krisen auch die Funktion haben, das Kapitalverhältnis in veränderter Gestalt zu stabilisieren und vereinzelte Rebellionen dabei durchaus als Ventil wirken können, stellt sich die Frage, wie die damit verbundenen Auseinandersetzungen und Kämpfe zu einer gesellschaftsverändernden Bewegung werden können und nicht einfach nur das Vehikel einer kapitalistischen Restrukturierung darstellen. Holloway hofft dabei auf Verbindungen und Resonanzen, eine Entwicklung von Kämpfen und Erfahrungen. Das ist zu wenig. Zur Debatte steht auch der Umgang mit den bestehenden Machtapparaten, mit gesellschaftlichen Konflikten und Widersprüchen, die eben nicht nur auf das Kapitalverhältnis zurückzuführen sind. Der etwas vage Verweis auf historische Räteverfassungen bringt da nicht sehr viel.

Anders leben und arbeiten setzt, wenn neue gesellschaftliche Verhältnisse daraus hervorgehen sollen, Veränderungen im Denken, in den verallgemeinerten Vorstellungen von einer besseren Gesellschaft voraus. Es geht dabei also auch um einen Kampf um Hegemonie. Dieser muss in und gegen die herrschenden Machtapparate geführt werden, auf dem Terrain dessen, was man gelegentlich als Zivilgesellschaft bezeichnet. Man kann bezweifeln, ob man sich der Macht und ihren Apparaten einfach verweigern kann. Auch hier erweist sich der theoretisch sehr eng gesteckte Rahmen von Holloways Überlegungen als Hindernis. Eine – wie immer kritische – Lektüre von Marx reicht nicht aus. Kritische Gesellschaftstheorie ist inzwischen etwas weiter. Um eine Auseinandersetzung mit den Ansätzen von Gramsci, Foucault oder Poulantzas, um nur Beispiele zu nennen, wird kaum herum zu kommen sein.

Holloways Buch ist ein Mutmacher. Es verweist darauf, dass befreiende Gesellschaftsveränderung keine Frage abstrakter Politik, schon gar nicht irgendwelcher Avantgarden ist, sondern jederzeit von allen und im Alltag angegangen werden kann. Es braucht nicht auf revolutionäre Situationen gewartet werden. Er geht davon aus, dass die Logik des Kapitals nur von da aus zu brechen ist und dass dieses selbst die Bruchstellen erzeugt, dies notwendig und möglich machen. Der Verfasser verbindet sich selbst mit der anarchistischen Tradition und ist zudem ein Romantiker. Dies zeigt sich neben der Idealisierung gemeinschaftlicher Idyllen auch an der Sprache, die sich in erfreulicher Weise vom gestelzten Duktus vieler linker Texte unterscheidet, aber auch sehr pathetisch und mit dramatisierenden Begriffen überhäuft ist. Über weite Strecken hat man den Eindruck, eine Predigt zu lesen, was auch durch die häufigen Wiederholungen bewirkt wird, mit denen die LeserInnen zu einem anderen Denken veranlasst werden sollen. Selbst wenn das öfters irritierend wirkt: in wesentlichen Punkten ist die Argumentation richtig und wichtig. Das Buch ist auf jeden Fall lesenswert, vor allem auch deshalb, weil es zur Kritik einlädt und dazu, theoretisch wie politisch weiter zu denken.

Interessant sind die Verbindungen, die sich zu den Überlegungen von links-netz zur Sozialen Infrastruktur ziehen lassen. Auf die grundlegenden kapitalismusanalytischen und kapitalismuskritischen Ausführungen, die Holloway vorträgt, haben wir verzichtet, wenngleich unser theoretischer Hintergrund einige Ähnlichkeiten mit seinem aufweist. Gemeinsam ist auch, dass wir einen Angelpunkt emanzipativer Gesellschaftsveränderung im Begriff der gesellschaftlichen Arbeit und in der Veränderung der gesellschaftlichen Arbeitsverhältnisse sehen. Der entscheidende Unterschied liegt darin, dass wir in Bezug auf die Ausbreitung rebellischen Verhaltens und die Entwicklung alternativer Lebensformen skeptischer sind. Nach unserer Auffassung kann dabei auf eine Auseinandersetzung mit den bestehenden Machtapparaten und den Versuch, diese zu verändern nicht verzichtet werden. Wir schrecken nicht einmal davor zurück, Forderungen an die herrschende Politik und an den „Staat“ zu stellen – eine Haltung, die man durchaus als „reformistisch“ bezeichnen kann. Nicht, weil wir über den Charakter des bestehenden Staates im Unklaren wären und glaubten, dass Forderungen allein etwas bewirken. Veränderungen im System der Staatsapparate sind immer eine Frage der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse – ein Aspekt, der bei Holloway überhaupt nicht vorkommt. Nach unserer Auffassung ist die Diskussion um die soziale Infrastruktur, d.h. um Ansätze zu einer konkreten Veränderung der Vergesellschaftungsweise nicht zuletzt deshalb wichtig, weil es darum geht, herrschende Gesellschaftsvorstellungen zu verändern und bestehende ideologische Konsense anzugreifen, die auf das kapitalistische Lohnarbeitsverhältnis zentriert sind. Im Gegensatz zu Holloway halten wir den Kampf um Hegemonie, d.h. den Versuch, anderen Formen des Lebens und Arbeitens, anderen und nicht vom herrschenden Zirkel von Leistung und Konsum bestimmten Vorstellungen von einem vernünftigen Leben im kollektiven Bewusstsein zum Durchbruch zu verhelfen, für entscheidend. Die Forderungen, die sich mit dem Konzept der sozialen Infrastruktur verbinden, zielen vor allem darauf eine breitere Diskussion darüber in Gang zu setzen.

Dies hat zugleich eine praktische Dimension. Das Ziel ist, wichtige gesellschaftliche Bereiche zu „entkommodifizieren“, d.h. soziale Beziehungen von ihrer Warenform zu befreien. Wir erwarten, dass dadurch Freiräume geschaffen werden, die überhaupt erst in breiterem Umfang anderes Denken und Verhalten und gesellschaftliche Experimente mit anderen Lebens- und Arbeitsformen möglich machen. Es geht darum, Verhältnisse zu schaffen, die dafür sorgen, dass sich die Logik des Kapitals weniger unmittelbar durchsetzt, z.B. dass ein würdiges Leben ohne Lohnarbeitszwang gewährleistet wird. Darüber hinaus würde eine demokratische Selbstverwaltung der sozialen Infrastruktur auf lokaler und regionaler Ebene einige Bedingungen dafür schaffen, dass die Menschen über ihre Bedürfnisse und die Art und Weise ihrer Befriedigung selbst entscheiden können. Holloway hat insofern recht, dass es nicht möglich ist, die konkrete Gestalt einer anderen und humaneren Gesellschaft am Reißbrett zu entwerfen. Diese kann sich nur im Verlauf von Kämpfen, der Aufarbeitung von Erfahrungen und Verständigungen herausbilden. Es geht allerdings darum, praktische Bedingungen dafür hier und jetzt zu schaffen und nicht nur vage darauf zu hoffen, dass Rebellionen sich schon irgendwie entwickeln werden.

© links-netz Dezember 2010