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Schwerpunktthema: Ende der Demokratie? Übersicht

 

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Liberale Demokratie – ein Auslaufmodell?

Joachim Hirsch

Die Zeiten, in denen die Errungenschaften der „westlichen Demokratien“ mit Waffengewalt in andere Weltgegenden zu exportieren versucht wurde – etwa in den Irak oder Afghanistan – sind vorbei. Die Waffengänge dienen jetzt vor allem der Absicherung „unserer“ Lebensweise, womit im Wesentlichen der ökonomische Wohlstand derer gemeint ist, die von den bestehenden Verhältnissen noch profitieren. Demokratische Verfahren scheinen irgendwie ins Zwielicht geraten zu sein, seit die Briten vor allem deshalb für den Austritt aus der EU gestimmt haben, um das Land besser gegen Zuwanderung abschotten zu können. Und jetzt wurde in den USA auch noch Donald Trump zum Präsidenten gewählt, mit nicht nur für dieses Land wohl gefährlichen Folgen – von der weißen und meist männlichen Mehrheitsbevölkerung übrigens. In der EU sieht es nicht viel besser aus, wenn man die Regime in Polen und Ungarn betrachtet. Formell sind auch sie demokratisch legitimiert. Ist Demokratie also ein Irrweg, wie viele glauben? In der Wissenschaft ist man da schon weiter und bezeichnet die heutigen Zustände als „Postdemokratie“, was immer das genau heißen mag. Auch hier sieht man die herkömmliche Demokratie als irgendwie ausgelaufen an.

Dabei kommt es zunächst darauf an, was man unter Demokratie versteht. Bei der liberalen Demokratie handelt es sich bekanntermaßen keinesfalls um Volksherrschaft im eigentlichen Sinne. Das „Volk“ ist in der Regel darauf beschränkt, Repräsentanten zu wählen, die dann die es betreffenden Entscheidungen fällen, und dies unter recht eingeschränkten Bedingungen. In Betracht zu ziehen sind u.a. die vielfältigen und mit erheblichen Mitteln ausgestatteten Lobbys. Weitaus bedeutender ist der Umstand, dass in kapitalistischen Gesellschaften die ökonomische Macht nicht bei den demokratischen politischen Institutionen liegt. Die „Wirtschaft“ kann diesen ihre Bedingungen stellen. Das zusammengenommen hat einige Folgen, unter anderem die, dass eine unmittelbare Verständigung über die Angelegenheiten des Gemeinwesens nicht stattfindet, sondern über die politischen Apparate, die Parteien und die Medien vermittelt wird. Diese verfolgen dabei ihre eigenen politischen und ökonomischen Interessen. So ist z.B. in Großbritannien die Entscheidung, ein Referendum über den EU-Austritt anzusetzen, vor allem auf innerparteiliche Querelen in der regierenden konservativen Partei zurückzuführen und sein etwas überraschender Ausgang war eher nicht im Interesse der Initiatoren. Bereits in diesem Fall war die Rede davon, dass das „Volk“ bei Entscheidungen über komplexere Materien überfordert sei.

Selbst in der liberalen Presse werden mit dem Verweis auf die jüngsten Referenden und Wahlen Zweifel an der politischen Fähigkeit des „Volkes“ geäußert. Ein Kommentator der Süddeutschen Zeitung verstieg sich sogar dazu, den jüngsten BürgerInnenentscheid in Münster, der sich gegen verkaufsoffene Sonntage richtete, als problematisch einzustufen. Schließlich würden dadurch erhebliche wirtschaftliche Interessen beeinträchtigt. Könnten solche lokale Vorgänge vielleicht noch hingenommen werden, so sei das z.B. bei internationalen Handelsabkommen völlig unsinnig. „Volksherrschaft“ gilt offenbar da, wo sie sich unmittelbar äußert, heute als grundsätzlich verhängnisvoll. Es sei denn, die Ergebnisse von Referenden passen zu den herrschenden Interessen, wie etwa bei der gescheiterten Verfassungsänderung in Orbans Ungarn.

Dass unmittelbar demokratische Äußerungen des „Volkswillens“ problematisch geworden sind liegt daran, dass sich der Frust über die bestehenden Verhältnisse immer weiter ausbreitet: soziale und ökonomische Unsicherheit, miserable Zukunftsaussichten, z.B. in Bezug auf die Rente und eine immer krasser werdende Ungleichheit. Institutionell, im existierenden parlamentarischen System findet diese Enttäuschung praktisch keinen Ausdruck, weil die herrschenden Parteien höchstens dann darauf Bezug nehmen, wenn es darum geht, situativ auf Wahlstimmenfang zu gehen und ansonsten die neoliberalen Gebetsmühlen weiter betrieben werden.

Von einer grundsätzlichen gesellschaftlichen und ökonomischen Umgestaltung ist bei ihnen jedenfalls nicht die Rede. Was die Leute umtreibt, wird zum Kommunikationsproblem erklärt: Man müsse halt den etwas beschränkten WählerInnen besser klar machen, was für sie gut sei. Das alles ist Wasser auf die Mühlen rechtspopulistischer Parteien und Bewegungen, die sich gegen das „Establishment“ stellen. Sie führen das „Volk“ im Munde, haben aber mit Demokratie keinesfalls etwas am Hut. Der Nationalismus, der Rassismus und die Fremdenfeindlichkeit, die sie propagieren, verbreitet sich vor allem über die sogenannten sozialen Medien, die die politische Öffentlichkeit immer stärker beherrschen. Dort häufen sich Hasskommentare und Falschinformationen, wobei die Algorithmen dafür sorgen, dass die Botschaften auf den geistigen Horizont der NutzerInnen zugeschnitten und sie in ihren Weltbildern weiter bestätigt werden. Die New York Times hält Facebook für einen wesentlichen Faktor bei Trumps Wahlsieg. Aus Angst vor Stimmenverlusten rücken auch die etablierten Parteien dadurch zunehmend in die rechte Ecke, und das gilt nicht nur für die CSU. Der autoritäre Populismus hat inzwischen auch die seriöseren Medien erreicht, so z.B. wenn die ARD mit der Inszenierung ihres „Terror“-Films eine scheinbare Beteiligung der Bevölkerung inszeniert und dabei unter der Hand die Aushebelung des Rechtsstaats salonfähig macht.

Die politische Klasse der Mandats- und Funktionsträger ist als Folge der neoliberalen Offensive abgehobener denn je. Die Transformation zum Wettbewerbsstaat hat die Interessen des global operierenden Kapitals zum bestimmenden Faktor werden lassen, was die Politik mehr denn je dazu veranlasst, in seinem Sinne und gegen die Bedürfnisse der WählerInnen zu handeln. Zusammen mit ihren medialen Begleittruppen tun die PolitkerInnen alles, um diese Entwicklung zu fördern. Ein aktuelleres Beispiel ist der beschönigend als Freihandelsabkommen mit Kanada ausgehandelte CETA-Vertrag, bei dem es in Wirklichkeit um die Freisetzung von Konzerninteressen gegen die Bevölkerung geht. Nachdem das Parlament der belgischen Provinz Wallonie den Vertrag beinahe zu Fall gebracht hatte, war die Klage über diese Äußerung eines „Volkswillens“ – der sich im Übrigen wohl mit dem der Mehrheit der EU-Bevölkerung deckt – geradezu einstimmig, bis in die linksliberale Presse hinein. Es sei halt ein Fehler, die Leute bzw. ihre regionalen Repräsentanten über etwas so Kompliziertes abstimmen zu lassen, auch wenn das ihre Interessen unmittelbar berührt. Dieses gelte es zukünftig zu verhindern und die Entscheidungen denen zu überlassen, die die ökonomischen Zusammenhänge, im Klartext die Wünsche der „Wirtschaft“ besser kennen. Dies ungeachtet dessen, dass auch die Abgeordneten in den Parlamenten, die dem Vertrag nun wohl mehrheitlich zustimmen werden den Inhalt der Vereinbarungen in der Regel gar nicht kennen oder zumindest kaum verstehen. Auch da gibt es also Kommunikationsprobleme. Nun wird überlegt, wie sich die Entscheidungskompetenzen innerhalb der EU so arrangieren lassen, dass demokratische Einflussnahmen künftig abgeblockt werden können. Der Grund: das Vertrauen in die EU als seriösem Vertragspartner sei beschädigt, so unisono das Lamento in Politik und Presse. Dass demokratische Prozesse Information, Aufklärung und Zeit brauchen, gilt als zu beseitigendes Hindernis. Um das künftig zu vermeiden, riskiert man eben lieber das Vertrauen der Bevölkerung.

Ein anderes Beispiel ist die aktuelle Rentendebatte, die darüber entbrannt ist, dass in einigen Jahren die Altersbezüge eines größeren Teils der Bevölkerung unter das Existenzminimum sinken werden, wenn das System so bleibt, wie es ist. Dass dessen grundlegende Umgestaltung auf der Tagesordnung stünde, wird kaum thematisiert. Die Frage nach einer Versicherung, in die alle Einkommensarten einbezogen werden und die noch vor wenigen Jahren selbst in der SPD diskutiert wurde, steht nicht mehr auf der Tagesordnung. (Zu sehr viel weitergehenden Überlegungen zu einer Umgestaltung der sozialen Sicherungssysteme siehe im Übrigen unsere Texte zur Sozialen Infrastruktur). Erwähnt wird auch nicht der Umstand, dass die bestehende Misere zu einem guten Teil dem Umstand zuzuschreiben ist, dass die Rentenkassen im Zuge der sogenannten Wiedervereinigung geplündert wurden. Stattdessen wird gefordert, die „Geringverdiener“ sollten von ihrem ohnehin kaum ausreichenden Einkommen mehr für ihre private Altersversorgung aufbringen. Politik im Interesse der Versicherungsunternehmen also. Das ist Zynismus pur.

Die Situation ist die, dass die mit der Sicherung ihrer Position beschäftigte „politische Klasse“ offensichtlich von den Grunderfordernissen einer halbwegs funktionierenden Demokratie kaum mehr etwas hält und dass in Reaktion darauf das allgemeine Vertrauen in eine demokratische Ordnung schwindet. Gleichzeitig ist eine Mehrheit der Bevölkerung – nicht zu Unrecht – der Ansicht, von der herrschenden Politik nicht mehr berücksichtigt zu werden. Der Rechtspopulismus profitiert nicht nur davon, sondern auch von der inzwischen weithin durchgesetzten Transformation der Gesellschaft, die zu einer fortschreitenden Vereinzelung und Entsolidarisierung führt. Ein politisches Gemeinwesen existiert in dieser Vorstellung nicht mehr. Das Scheitern der Weimarer Republik wird von Historikern unter anderem darauf zurückgeführt, dass die demokratische Ordnung zu wenig Anhänger hatte, weder bei den Herrschenden noch im „Volk“. Diese Entwicklung scheint sich jetzt zu wiederholen.

Das passt zu den ohnehin starken Tendenzen, die herrschende ökonomische wie politische und soziale Krise des neoliberalen Kapitalismus auf autoritäre Weise zu überwinden. Nicht zufällig wird immer wieder auf einige scheinbar ökonomisch erfolgreichere asiatische Länder verwiesen, in denen Demokratie und Menschenrechte keine Rolle spielen. Was autoritäre Herrschaft anrichtet, hat sich allerdings in der jüngsten Geschichte mehr als deutlich gezeigt.

© links-netz November 2016